von Nazir Hamad
Wieder einmal enthüllen uns die Medien eine schreckliche Geschichte. Menschen, die man empfängt und denen man Gastfreundschaft erweist, zeigen sich dieses Empfangs unwürdig. Deutschland, genauer Köln, enthüllt gerade das hässliche Gesicht jener „Araber“, die offensichtlich nicht aufhören, die Welt mit ihrem barbarischen Handeln zu überraschen. War die deutsche Kanzlerin naiv oder unverantwortlich, als sie entschied, die Grenzen zu öffnen, um Hunderttausende Flüchtlinge überwiegend arabischer Herkunft zu empfangen? Andere, jene vor allem, die ihre nationalen Grenzen geschlossen haben, konnten das durchaus denken. Die Kölner Ereignisse geben ihnen recht.
Die Kanzlerin ist weder naiv noch unverantwortlich. Sie hat das zu tun gewagt, was nur die Großen bisweilen allen Widerständen zum Trotz unternehmen. Die Geste von Frau Merkel ist einfach. Sie ging von dem Postulat aus: jemand oder einige muss es geben, die die Hypothese der Menschlichkeit für jene aufrechterhalten, die für ihre Führung nicht mehr als menschliche Wesen zählten. Sie hat einfach versucht, sie zu ihresgleichen zu zählen, ihr gleich, den Deutschen gleich, während in deren Heimat sie niemand mehr zählte.
Was ist ein Mensch wert, was gilt ein Menschenleben, wenn das Individuum auf alles verzichtet, was seine Würde ausmacht, nur um zu überleben? Nichts? Ja, nichts. Es ist nicht die Armut, die dem Menschen seinen Wert raubt, es ist vielmehr der Einsatz, der auf ihn gesetzt wurde, und der bewirkt, ob er zählt oder nicht mehr zählt. Bei der internationalen Adoption variiert der Wert eines Kindes zwischen tausend und mehreren tausend Dollar. Der Wert des Kindes, der Wert des Menschen hängt von der Art und Weise ab, wie er gezählt wird . Und deshalb ist das Kind wie auch der Mensch vielschichtig und hat jeweils einen unterschiedlichen Wert. Das Kind ist der Reichtum der Nation, wenn eben diese Nation es als Versprechen zählt, und es ist das Unglück vieler Länder, in denen der Bürger niemals ins Kalkül seiner Führung eingeht . Es gibt sogar Staaten, die ihre Polizei autorisieren, ihre Jugend zu jagen und auszulöschen, so wie man Schädlinge vernichtet. Man weiß, dass die jungen Menschen gewalttätig sind, ja mörderisch, aber man weiß auch, dass sie auf der Straße gelebt haben, verlassen von ihren Eltern und von den Behörden ihres Landes.
Viele Einwohner von Ländern, die von verbrecherischen Diktaturen regiert werden, mussten nicht einen Krieg abwarten, um das Elend kennen zu lernen. Das Elend ist ihr Alltag. Dass Männer und Frauen ihnen zur Hilfe kommen, ist etwas, das zum Band der Solidarität gehört, das die Menschen über alle möglichen Grenzen hinaus verbindet. Ein dramatisches Ereignis wie der Bürgerkrieg in Syrien oder im Irak muss einfach viele Menschen zu humanitärer Hilfeleistung herausfordern. Die Kanzlerin reicht jenen die Hände, die aus Ländern kommen, in denen die Korruption schon immer tägliche Realität gewesen ist. Aus Ländern, in denen nichts den Menschen schützt, geschweige denn das Kind.
Welchen Wert hat ein syrisches Kind? Mehr noch, was gilt ein Erwachsener aus einem armen Land, der seine Grundbedürfnisse nicht decken kann? Das Risiko, das er auf sich nimmt, um sein Leben in freundlicheren Gefilden neu zu beginnen, lohnt sich. Und auch wenn viele bei der Durchquerung afrikanischer Wüsten oder der Meerenge, die Afrika von Europa trennt, sterben, schreckt das viele andere Immigranten nicht davon ab, zu versuchen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Allerdings haben Kinder nicht die Möglichkeiten, ein solches Risiko auf sich zu nehmen. Passiv erleiden sie Hunger und Krankheit und sterben zu Hunderttausenden in der ganzen Welt. Das ist die harte Realität.
Hunderttausende Flüchtlinge haben sich nach Europa aufgemacht. Sie haben das Risiko auf sich genommen, ihre Länder zu verlassen, die seit langem nicht mehr ihre Länder sind, um dem Elend zu entkommen oder dem Tod. Mit Gewalt haben sie die Tore Europas geöffnet. Das machten sie, weil sie wussten, dass niemand dort ihnen Böses wollte. Der syrische Pass, vor dem Bürgerkrieg der am wenigsten attraktive aller Pässe im mittleren Orient, ist nun Gold wert. Viele Nicht-Syrer kaufen tatsächlich gefälschte syrische Pässe, um zu versuchen, als Flüchtling in Europa zugelassen zu werden. Wir sollten nicht erstaunt sein, wenn wir bemerken, dass die Flüchtlinge nicht alle Flüchtling sind. Die Behelfsboote transportieren und entleeren auf unsere Strände alle Arten von Individuen einschließlich solcher, die wenig empfehlenswert sind.
Deutschland entdeckt gerade, dass seine Geste, die menschlicher nicht sein kann, und dass seine Herzlichkeit von einigen 1000 Individuen skandalös mit Füßen getreten werden, die es voller Sympathie empfangen hat. Deutschland ist nicht naiv, weil es diese Geste gemacht hat. Naiv wird es sein, wenn es glaubt, dass seine Geste es vor solchen Individuen schützt, die vom Elend der Welt profitieren, um nach Europa zu gelangen. Naiv wird Deutschland sein, wenn es diese Individuen wegen ihrer vermutlichen Herkunft verurteilt und nicht wegen ihrer Taten. Vielleicht sind sie Araber oder Muslime oder beides. In einem Rechtsstaat haben ihre Machenschaften nichts mit ihrer Zugehörigkeit zu tun, sie unterliegen dem allgemeinen Recht. Wer Herkunft und Tat verwechselt, wird zum Barbaren; da ist nicht notwendig der Straftäter der Barbar. Wie uns die Geschichte gezeigt hat, werden Menschen dann zu Barbaren, wenn sie einer Gruppe oder einem Volk absprechen, ihresgleichen zu sein, und sie zu einer unbestimmten Masse machen, in der niemand Gnade vor ihren Augen findet.
In Europa und anderswo haben wir die faschistoide und rassistische Ideologie wie Unkraut sprießen sehen, die in dieser Vermischung von Individuum und Masse, die seine Zugehörigkeit bestimmt, wieder Wurzeln schlagen möchte.
Diese Haltung beraubt von vornherein jene, die in den Asyl-Ländern eintreffen, ihres Rechtes auf Zugang zur Mitbürgerschaft. Sie sind verdammt, Fremde zu bleiben.
Die Schurken müssen für ihre Taten Rechenschaft ablegen und darauf muss der Rechtsstaat bestehen. In der Tat haben viele dieser Flüchtlinge niemals den Rechtsstaat kennengelernt. Sie haben gelernt, sich irgendwie zu organisieren, mitunter ohne ihre Rechte und Pflichten zu kennen, und deshalb in der Unkenntnis des Rechtes, das jeden sozialen Körper regiert.
Das Erlernen der Demokratie fordert Anstrengungen und Wachsamkeit. Die Demokratie ist eine Wette, die eine ständige Herausforderung darstellt. In vielen muslimisch-arabischen Ländern vermochte die Demokratie niemals Fuß zu fassen, um so den Menschen zum Wert und Reichtum der Nation zu machen. Außerdem ist es keinem arabischen Staat gelungen, dieses Konzept zu konkretisieren und eine staatsbürgerliche Gesinnung i.S einer Mitbürgerschaft zu konstruieren, die auf Gleichheit und Freiheit begründet ist. Die verschiedenen arabischen Völker blieben unterhalb der nationalen Phase. Sie blieben immer durchsetzt von der Stammes- und Gemeinschaftsstruktur. Dies illustriert perfekt der Verlauf des „arabischen Frühlings“.
In dieser Welt hat man nur eine beschränkte Sicht auf die Zukunft, die beschränkte Sicht des Tribalismus und des Gemeinschaftsdenkens. Die Demokratie hat dort keine Chance zu wachsen, wo die Struktur dieser Gruppen grundsätzlich antidemokratisch ist.
Die Demokratie fordert einen Verlust auf der individuellen, auf der Stammes- oder Gemeinschaftsebene, um, von dem ausgehend, was zu verlieren wir akzeptieren, das kollektive Interesse zu bilden. So wird das, was man auf der realen Ebene verliert – die Privilegien zum Beispiel einer Klasse oder Gruppe –, auf der symbolischen Ebene gewonnen: durch die Errichtung gleicher Rechte für alle Bürger ungeachtet ihrer Zugehörigkeit. Diese Formel ist nicht einfach, denn dieser symbolische Wert hat ein konkretes Maß erst im Nachträglichen der Einrichtung der Demokratie. Jedenfalls handelt es sich um einen Diskurs über Werte, die nur in einem demokratischen Regime eine Chance haben, wirksam zu werden. Dafür muss man einen neuen Menschen konstruieren, neue Führer, die nach dem bemessen werden, was an ihnen authentischer oder intelligenter ist, und nicht nach ihrer Zugehörigkeit.
Werden Deutschland, Europa und die anderen Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, in der Lage sein, dies erfolgreich zu schaffen (sie als Mitbürger aufzunehmen), woran deren politische Regimes immer gescheitert sind? Es ist wahr, dass viele Immigranten ihre Integration in den asylgebenden Ländern geschafft haben. Die große Mehrheit von ihnen fühlt sich wohl in dem Land, das sie aufgenommen hat. Wahr ist aber auch, dass die sehr starke rassistische Ideologie unserer Tage mit ihrer vereinfachten Verbindung von Mensch und Herkunft bewusst oder unbewusst danach strebt, dieses neue Band zu zerreißen, das den ehemaligen Emigrierten und das Land, das ihn aufgenommen hat, verbindet. Etwas Barbarisches ist erwacht, und wenn es uns etwas zeigt, dann dies: jene Herausforderung wurde aufgegeben, die aus dem Flüchtling oder aus dem Immigranten nicht mehr einen Fremden macht, sondern einen anderen. Einen anderen, wie jedermann.
1 Psychoanalytiker, Mitglied der Association lacanienne internationale ; Autor zahlreicher Bücher.
von Barbara Buhl
Abstract:
Obwohl er letztlich keinen Preis erringen konnte, hat der einzige deutsche Wettbewerbsfilm auf der Berlinale 2016, „24 Wochen“ der jungen Regisseurin Anne Zohra Berrached, viel Aufmerksamkeit erregt – und auch verdient.
Berrached, die selbst, wie sie in einem Interview sagt, die Erfahrung einer Abtreibung gemacht hat, bringt in ihrem Film eine junge Familie in ein moralisches Dilemma. Das zweite Kind, so stellen die Ärzte im 6. Monat der Schwangerschaft fest, hat das sog. Down-Syndrom. Ein Schock zunächst. Kurze Zeit, nachdem sich die Eltern voller Tatendrang und positiver Energie entschlossen haben, dieses Kind auszutragen und willkommen zu heißen, stellen die Ärzte dann schwerste Herzfehler fest. Das Beratungsgespräch, das wir nach dieser Diagnose im Film erleben, ist von einer Direktheit und Härte, dass es dem Zuschauer den Atem verschlägt. Astrid (Julia Jentsch)und Markus (Bjarne Mädel), die noch kurz zuvor ihrer neunjährigen Tochter Nele kindgerecht erklärt haben, warum der Junge, den sie erwarten, anders sein wird als andere Kinder, sind fassungslos. Die beiden Ärzte, die bis hin zum Aufsägen des winzigen Brustkorbs des Neugeborenen alle notwendigen Behandlungsschritte und damit verbundenen Leiden des Babys auf Nachfragen der werdenden Mutter routiniert und sachlich beantworten, sind echt, ebenso wie alle anderen Ärzte, Berater, Hebammen und Sozialarbeiter in diesem Film auch. Daraus ergibt sich eine besondere Konstellation für die Schauspieler, die in eine Situation jenseits der normalen Dreharbeiten mit Proben, Absprachen etc. geworfen werden und improvisieren und spontan reagieren müssen, auch im Wissen, dass für diese „echten“ Ärzte solche Situationen in der Realität Routine sind. Die Tonalität, die sich daraus ergibt, die spontanen Reaktionen des Entsetzens der Schauspieler auf die sachlichen Ausführungen der Ärzte, schließlich die Reaktionen auf dem Gesicht von Julia Jentsch während des Vollzugs der Spätabtreibung, zu der sich ihre Figur letztlich entschließt – selten hat man die zwei Welten, die in der medizinischen Praxis aufeinander treffen und bei denen bei aller sachlichen Fachberatung die Betroffenen einsam ihre Entscheidung treffen müssen, so intensiv auf der Leinwand gesehen wie in „24 Wochen“.
Die zutiefst destruktive Erfahrung des ins Leben eingreifenden Akts der Abtreibung, zumal einer solchen Spätabtreibung in der 24. Woche, wird nicht zuletzt durch die Konfrontation von Schauspielern mit Laien, die allerdings zugleich Fachexperten sind, welche die normalen Regeln und Konventionen von Dreharbeiten für Spielfilme durchbrechen, zu einer merkwürdigen ästhetischen Erfahrung für den Zuschauer: irgendetwas stimmt nicht, durchbricht die Routine der filmischen Identifikation, durchbricht die Grenze zwischen Fiktion und Realität. Durch diese Durchbrechung gleichsam der Membran zwischen „realer“ und „erfundener“ Situationen gelingt eine Unmittelbarkeit der Erfahrung von Destruktivität: die Zerstörung der Wünsche und Hoffnungen der jungen Eltern, die Fantasie von den schrecklichen Eingriffen in den zarten Babykörper, die die Ärzte evozieren, und schließlich die folgenschwere und auch körperlich schreckliche Entscheidung zum Abbruch der Schwangerschaft – der Zuschauer kann sich dem als geradezu unmittelbarer eigener Erfahrung kaum entziehen.