Die Rubrik Forschung konzentriert sich auf Beiträge und Studien aus der empirischen Forschung.
Kassandra Niendorf und Lutz Goetzmann
Y – Z Atop Denk 2024, 4(6), 3.
Originalarbeit
Abstract: In der vorliegenden Arbeit werden Groddecks Verständnis der analytischen Psychosomatik, das sich maßgeblich auf Spinozas Substanzbegriff gründet, mit der Idee Lacans des vom Andern stammenden und nicht im Subjekt eingeschlossenen Unbewussten erstmals verbunden, um die „Theorie des extimen Symbols“ zu formulieren. „Extime Symbole“ sind körperliche Symptome oder Erkrankungen, die aus einem substanziellen, transindividuellen Es geschöpft sind und das Unbewusste eines Anderen äquivalent symbolisieren. Es wird davon ausgegangen, dass ein Aspekt aus dem Unbewussten des Andern via intersubjektiver Übergangsraum zwischen Anderem und Subjekt in das reale, nicht-verdrängte Unbewusste des Subjekts implantiert wird. Von dort aus wird eine Identifizierung mit der implantierten, intimen Exteriorität, die bei dem Subjekt eine psycho-somatische Symbolbildung bedingt, postuliert. Anhand von zwei Fallbeispielen wird das Potenzial dieses neuen Denk- und Deutungsansatzes für die psychoanalytische Praxis verdeutlicht.
Keywords: extim, Körpersymbol, Es, Substanz, Psychosomatik
Copyright: Kassandra Niendorf u. Lutz Goetzmann | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.06.2024
Sebastian Leikert
Y – Z Atop Denk 2024, 4(6), 1.
Originalarbeit
Abstract: In zweifacher Hinsicht gehen Musik und Stimme an den Ursprung zurück. Biographisch, indem die pränatal gehörte Stimme die erste Begegnung mit dem anderen ist. Anthropologisch, indem die Musik im Ritual die ersten Anfänge der Kulturentwicklung mitorganisiert. Klinisch ist dies für den Umgang mit schwer gestörten Patient:innen bedeutsam, bei denen eine Symbolisierungsstörung vorliegt, weil das körperliche Kernselbst durch Traumatisierung beschädigt ist. In diesen Therapien ist die Verbindung zwischen Selbst und Symbol dissoziiert, die Arbeit an Übertragung und Gegenübertragung kann sich nicht auf die Kette der Verbalisierung verlassen. Wie aber kann eine Behandlungstechnik aussehen, die an den Ursprung der Erfahrung, den Bereich vor der Symbolisierung, zurückgeht? Mit der somatischen Narration wird eine Arbeitsweise vorgestellt und klinisch illustriert, die über längere Strecken das Körperselbst des:der Analysand:in, seine Präsenz im Stimmklang und dessen Resonanz im Körper des:der Analytiker:in in den Vordergrund stellt. Die:der Analysand:in wird eingeladen, Körperempfindungen zu verbalisieren, gemeinsam wird die Art erkundet, wie sie in ihrem:seinem Körper wohnt. Geschützt durch die unaufdringliche Präsenz des:der Analytiker:in können im Körpergedächtnis gespeicherte Traumaerinnerung angesteuert und durchquert werden. Dies reorganisiert das Körperselbst und reduziert körperlich organisierte Abwehrvorgänge. Diese Handhabung von Übertragung und Gegenübertragung privilegiert auch dort das Material des:der Analysand:in, wo die Symbolisierung zusammengebrochen ist.
Keywords: Körperselbst, Trauma, Stimme, Musik, Ritual, Symbolisierungsstörung
Copyright: Sebastian Leikert | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.06.2024
Ulrike Bondzio-Müller
Y – Z Atop Denk 2024, 4(5), 2.
Originalarbeit
Abstract: Ausgehend sowohl von Texten Freuds und Lacans, wie auch inspiriert durch die psychoanalytische Praxis, geht die Autorin der Frage nach, welche Bedeutung der Buchstabe und das Hören von Buchstäblichkeit ein kreatives Moment psychoanalytischer Deutung werden kann.*
Keywords: de Saussure, Freud, Lacan, Lalangue, Traumdeutung à la lettre
Copyright: Ulrike Bondzio-Müller | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.05.2024
Ulrich Moser
Y – Z Atop Denk 2024, 4(2), 2.
Originalarbeit
Abstract: Ausgehend von persönlichen Erfahrungen beschäftigt sich der Autor mit dem Phänomen des Bergsteigens. Er kommt zu dem Gedanken einer Kletterei im Traum, und dass das Bergsteigen in einer Mikrowelt geschieht bzw. diese erschafft. Von hier aus analysiert er mit den Mitteln seiner Traumanalyse die Schilderung einer Bergtour, die Albert Vinzens publizierte. Dieser kletterte mit einem Freund im Spätsommer 1980 auf der Magic Mushroom Route durch die senkrechte und überhängende Granitwand des El Capitan im Yosemite, Kalifornien. Unmittelbar unter dem Ausstieg stürzt der Freund und stirbt in den Armen seines Kameraden. Der Autor betrachtet diese Expedition als eine sequentiell strukturierte Mikrowelt und stellt das Bergsteigen damit in einen psychoanalytischen Kontext, in welchem auch die vergessenen Mikrowelten der Kindheit aufscheinen.
Keywords: Bergsteigen, Mikrowelt, Traumanalyse, Interrupt, Imagination
Veröffentlicht: 29.02.2024
Ulrich Moser
Y – Z Atop Denk 2023, 3(10), 2.
Abstract: Die Beziehungstheorien (Beschränkung auf dyadische) werden durch das Mikroweltenkonzept erweitert. Eine Mikrowelt umfasst einen Selbstprozessor, Objektprozessoren, einen Place (Platz, Ort), deanimierte Einheiten und Interaktionen. Die möglichen Interaktionen zweier Mikrowelten sind komplex, z.B. können im psychischen Raum deanimierte Objekte Person-Objekte ersetzen. Das kommt einer Verschiebung mittels Affektverminderung und Selektion möglicher Interaktionen gleich. Das Subjekt ist auch ein Objekt der Mikrowelt eines Anderen. Affektive und reflexive Mikrowelten in der therapeutischen Beziehung werden unterschieden. Es folgen Darstellungen der Mikrowelten und deren Interaktionen im therapeutischen Prozess.*
Keywords: Mikrowelt, affektive Beziehung, reflexive Funktionen, Interpenetration, Interaktivität
Veröffentlicht: 30.10.2023
Lena Barth, Paul Kaiser, Gonca Tuncel-Langbehn, Barbara Ruettner u. Lutz Goetzmann
Y – Z Atop Denk 2023, 3(3), 2.
Originalarbeit
Abstract: Vor dem Hintergrund von Migration, Globalisierung und Nationalisierung entstehen Fragen zu der Identitätsbildung junger Muslim:innen, die in Deutschland leben. Hier sind geschlechterbezogene Besonderheiten der Identität für das einzelne Individuum von größter Relevanz, um sich in der modernen Gesellschaft erfolgreich verorten zu können. In der vorliegenden qualitativen Studie wurden 50 Interviews mit jungen Muslim:innen im Alter von 18-25 Jahren durchgeführt, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei nach Deutschland migriert sind. Die Ergebnisse zeigen, dass generell die Gesellschaft bzw. Kultur einen großen Einfluss auf die jungen Muslim:innen haben. Die Identitätsentwicklung weist wesentliche geschlechterbezogene Besonderheiten auf: Junge Frauen beschreiben eine überwiegend gute, v.a. berufliche Integration in die deutsche Gesellschaft. In ihrer türkischen Familie stoßen sie jedoch eher auf Kritik, Entfremdung und Entwertung. Die Männer berichten eher über Diskriminierungen und Desintegrationserfahrungen. Andererseits erleben sie in ihrer türkischen Familie weniger Konflikte, sie erfahren als Söhne eine größere Wertschätzung als die Töchter. So zeigen sich divergierende Erwartungen, die an Männer und Frauen seitens der türkischen und deutschen Gesellschaft gestellt werden und die deren Identitätsbildung, aber auch deren innerseelischen Konflikte beeinflussen. Eine hybride migratorische Identität stellt dabei eine wertvolle Ressource zur Gestaltung transnationaler und postmoderner Lebenswelten dar.
Keywords: Islam, Migration, Integration, Geschlechter, Ödipuskomplex, Qualitative Forschung
Veröffentlicht: 30.03.2023
Stefan Ohlrich
Y – Z Atop Denk 2022, 2(11), 3.
Abstract: Der Markt bietet ein vielfältiges Angebot an spirituellen Heilungen, Life-Coachings und psychologischen Beratungsformaten, die jedoch oft dem impliziten Paradigma der Selbstoptimierung unterstehen. Ausgehend von der Theorie und Praxis der Lacan’schen Psychoanalyse entwickelt der Autor ein Beratungskonzept für die sub-klinische Kur, das sich nicht an externen Maßstäben orientiert, sondern sich auf das Unbewusste des Subjekts ausrichtet. Im ersten Teil werden die notwendigen theoretischen Essentials eingeführt und mit Querverweisen zu weiteren psychoanalytischen Denkrichtungen besprochen. Der zweite, praktische Teil exploriert den Erkenntnisprozess und die Beratungstechnik anhand von Beispielen und geht dabei auf die Vorzüge und Limitationen des Ansatzes ein. Die Ausarbeitungen werden im Resümee im gesellschaftlichen Kontext reflektiert.
Keywords: Lacan, Beratung, psychoanalytische Haltung, Behandlungstechnik
Veröffentlicht am: 30.11.2022
Peter Fischer
Y – Z Atop Denk 2021, 1(12), 1.
Abstract: Der Beitrag stellt ein systematisches Modell narrativer, wunschorientierter Traumanalyse vor, das alleine von der manifesten Präsentation der berichteten Traumbilder ausgeht und den Traumbericht als Simulacrum psychophysiologischer Spannungsregulierung während des Schlafens und des nachträglichen Berichtens ausweist. Dabei wird davon ausgegangen, dass mentale Spannungsregulierungen sich in Dramaturgien mehr oder weniger entstellt darstellen und sich analysieren lassen. Da Traumberichte jedoch nicht wie Erzählungen Dramaturgien zur suggestiven Aufführung bringen, werden ihre sprachlichen und kommunikativen Unterschiede und Gemeinsamkeiten an transkribierten Beispielen der Patientin mit dem Pseudonym Amalie herausgearbeitet. Von diesen Befunden ausgehend und in Anwendung der erzählanalytischen Methode JAKOB zeigt der Beitrag anhand von drei weiteren transkribierten Traumbeispielen Amalies auf, dass manifeste Traumpräsentationen entgegen der Intuition auf dynamische Dramaturgien verweisen, dass und wie diese rekonstruiert werden können, welche Wege die merkwürdige Traumsprache dabei nimmt und welche psychoregulativen Funktionen den traumspezifischen, dramaturgischen Navigationsmanövern zukommt. Der Autor systematisiert die typischen disruptiven und intransparenten Übergänge und Sprünge in Traumberichten und ihre Verfremdungen, weist ihnen bestimmte dramaturgische Navigationsmanöver zu und beschreibt deren traumspezifische, psychoregulative Funktionen.
Keywords: Traummitteilung, Traumanalyse, Erzählanalyse, Psychoanalyse, Dramaturgie
Veröffentlicht: 22.12.2021
Lena Barth, Paul Kaiser, Gonca Tuncel-Langbehn, Barbara Rüttner und Lutz Götzmann
Y – Z Atop Denk 2021, 1(10), 7.
Abstract: Vor dem Hintergrund einer Globalisierung einerseits und Nationalisierung andererseits erhält die Frage der Ambiguitätstoleranz, d.h. des Ertragens von kultureller Vieldeutigkeit und Vagheit ein besonderes Gewicht. Was Ambiguitätstoleranz in einer Gruppe von 50 jungen, in Deutschland lebenden Muslim*innen bedeutet, wird in der vorliegenden qualitativen Studie untersucht. Eine hohe Ambiguitätstoleranz wird in den Interviews wesentlich häufiger erwähnt als eine geringe Ambiguitätstoleranz mit Tendenzen zu einer (religiösen) Radikalisierung. Die Wertschätzung verschiedener Kulturen und Lebensstile sowie eine gewisse Resilienz gegenüber Diskriminierungen gehen mit einer hohen Ambiguitätstoleranz einher. Es ist aber auch möglich, dass trotz Ambiguitätstoleranz die entsprechenden Einstellungen ambivalent bleiben. Ein Mangel an Halt, diffizile interpersonelle Konflikte (vor allem in der eigenen Familie) sowie die Hinwendung zur Religion treten gemeinsam mit Äußerungen zur Ambiguitätsintoleranz auf. In den Kasuistiken vertieft sich der Eindruck, dass Ambiguitätstoleranz in triadisch strukturierten, als Kollektiv funktionierenden Familien begünstigt wird, während frühe traumatische Erfahrungen und emotionale Distanz in Krisen eine geringe Ambiguität fördern, insbesondere in der Adoleszenz. Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von Ambiguitätstoleranz sowohl auf Seiten des aufnehmenden Landes wie der Migrant*innen.
Keywords: Integration, Ambiguität, Identität, Ausgrenzung, Radikalisierung
Brigitte Boothe
Y – Z Atop Denk 2021, 1(10), 6.
Abstract: Im therapeutischen Kontext kommt es zum Erzählen und Mit-Erzählen. Erzählen lässt sich als Redegattung verstehen, die Ereignisse und Prozesse sprachlich bündelt und als dramaturgisch organisierte Dynamik zur Darstellung bringt, als adressierte Botschaft und als Gestaltungsprozess, der sich ko-konstruktiv vollzieht. Erzählen schafft einen Selbst- und Weltbezug in Erste-Person-Perspektive. Im Folgenden geht es Ermächtigung und Entmächtigung im narrativen Kontext und das Unbewusste in therapeutischer Kommunikation.
Keywords: Erzählen in der Psychotherapie, Krankengeschichte als Erzählung, Erzählung und Deutungsmacht, Unverfügbarkeit und Selbstermächtigung
Veröffentlicht: 18.10.2021