Spuren Lacans in Foucaults Schriften der 1960er Jahre
Carl Corleis
Y – Z Atop Denk 2022, 2(10), 2.
Abstract: Die Rezeption von Michel Foucaults Verhältnis zur Psychoanalyse konzentriert sich auf seine späten, der Psychoanalyse gegenüber kritischen Arbeiten. Die 1960er Jahren hindurch bezog sich Foucault jedoch beinahe ausschließlich affirmativ auf sie, namentlich in Hinblick auf die Schriften Jacques Lacans. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass Foucault seine theoretischen Konzeptionen in dieser Zeit mehrmals modifizierte. Worin findet sich der Grund dafür, dass das Denken Lacans ungeachtet dieser Veränderungen für Foucault über viele Jahre hinweg Bezugspunkte bieten konnte und warum änderte sich dies Anfang der 1970er Jahre? Anhand einer Rekonstruktion der Spuren, die die Arbeiten Lacans in Foucaults philosophischer Entwicklung dieser Jahre hierließen, lässt sich zeigen, dass es die fundamentale Bedeutung der Sprache in Lacans Psychoanalyse ist, die Foucault für seine eigenen Überlegungen zum Wahnsinn, zur Überschreitung und zur Sprache auf je verschiedene Weise fruchtbar zu machen verstand. Aus dieser Perspektive heraus lässt sich einsichtig machen, warum mit Foucaults theoretischer Neuausrichtung in den 1970er Jahren Lacans Schriften für ihn keine theoretische Ressource mehr darstellen konnten.
Keywords: Wahnsinn, Überschreitung, Sprache, Tod Gottes, Name-des-Vaters
Veröffentlicht am: 30.10.2022
Artikel als PDF: Das Loch in der Sprache
Die Frage nach dem Verhältnis Foucaults zur Psychoanalyse steht im Schatten seiner späten Schriften zur Geschichte der Sexualität, die es nahelegen, Foucault als Kritiker der Psychoanalyse zu rezipieren. Dabei droht übersehen zu werden, dass Foucaults Referenzen auf die Analyse in den 1960er Jahren fast ausschließlich affirmativer Natur sind. In dieser Zeit sind es in erster Linie zwei Analytiker, die für ihn eine Rolle spielen: In historischer Perspektive erscheint Freud als derjenige, der in Hinblick auf die ihm vorangegangene Psychologie die Beziehung des Arztes zur Sprache des Wahnsinn verändert habe (Foucault 1973), der neben Nietzsche und Marx ein neues Verständnis vom Zeichen inaugurierte (Foucault 1967) und als Diskursbegründer wesentlich an der Ausformung eines bestimmten diskursiven Raums beteiligt gewesen sei (Foucault 1969). In Bezug auf die Psychoanalyse in ihrer zeitgenössischen Form ist es Lacan, dessen strukturalistisch reformierter Freudianismus für Foucault die maßgebliche psychoanalytische Referenz ist. Während Foucault in den frühen 1950er Jahren Lacan noch weitgehend ablehnend gegenübersteht und in den 1970er Jahren in Hinblick auf die Psychoanalyse eine reservierte bis kritische Haltung entwickelt, sind im Anschluss an Folie et déraison1 von 1961 die gesamte Dekade hindurch seine Verweise auf die Psychoanalyse, namentlich auf jene Lacans, durchweg mit positiven Wertungen versehen. Umgekehrt verweist Lacan (1965) wiederholt mit Enthusiasmus auf die Arbeiten Foucaults, den er als einen seiner entfernten Freunde bezeichnet, mit dem er sich trotz seltener Treffen in beständigem Austausch befinde.
Dass Lacan für Foucault während der 1960er Jahre ein Bezugspunkt bleibt, ist umso bemerkenswerter, als dass sich Foucaults theoretischer Ansatz in dieser Zeit mehrfach wandelt. Während bis 1964 Wahnsinn als Leitbegriff eines Denkens fungiert, das im desaströsen Zusammenbruch der Sprache die Grenzerfahrung des modernen Denkens par excellence ausmacht, lässt Foucault in der Folge den Wahnsinn als Leitbegriff zugunsten des Bataille’schen Begriffs der Überschreitung fallen, um sodann mit seiner Archäologie der Humanwissenschaften, Les mots et les choses, 1966 eine wissenshistorische Studie zu veröffentlichen, in welcher wiederum der Überschreitung keine explizite Funktion mehr zukommt.
Im Folgenden werde ich den Spuren Lacans nachgehen, die sich in den Schriften Foucaults der 1960er Jahre entdecken lassen. Angefangen beim Begriff des Wahnsinns und einigen Lacan’schen Anklängen in Foucaults Freud-Lesart in Folie et déraison, über Le „non“ du père von 1962, das den Bezug zu Lacan bereits im Titel trägt, hin zu den Lacan-Referenzen in den Überlegungen zur Überschreitung in der Préface à la transgression von 1963 und in La folie, l’absence d’oeuvre von 1964 und schließlich zur Lacan’schen Psychoanalyse auf der Grenze der humanwissenschaftlichen Reflexion in Les mots et les choses lassen sich in Foucaults Texten Fragmente eines interessierten Ferngesprächs mit Lacan finden, wenngleich der mitunter eigenwillige Umgang mit Lacan’schen Theoremen eher vom Interesse an der eigenen Theoriebildung als vom Wunsch nach Kommunikation zu zeugen scheint. Und dennoch eignete sich Lacans Denken offenbar über viele Jahre für Foucaults Arbeiten als Ressource. Worin liegt das begründet?
1. Die 1940er und 1950er Jahre – Erste Begegnungen
David Macey (1993, S. 36) zufolge begegnete Foucault Lacan nicht erst in ihrer gemeinsamen Zeit am Pariser Krankenhaus Sainte-Anne, sondern bereits in den 1940er Jahren an der ENS. Dort hatte George Gusdorf seinen Freund Georges Daumézon damit betraut, monatliche Vorlesungen über Psychologie zu organisieren, um die Normaliens mit den neuesten Entwicklungen auf diesem Feld vertraut zu machen. Im Zuge dieser Veranstaltung hielt Lacan einen oder mehrere Vorträge, die Macey zufolge von Foucault besucht wurden, doch tun sich hier chronologische Unstimmigkeiten auf: Laut Élisabeth Roudinesco (1996, S. 443) hielt Lacan seine dortige Vorlesung – bemerkenswerterweise zum Ursprung des Wahnsinns – im November 1945, Foucault wurde jedoch erst im darauffolgenden Jahr an der ENS angenommen. Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass Foucault, der sich in dieser Zeit bereits in Paris befand und sich auf seinen zweiten Aufnahmeversuch vorbereitete, die offene Vorlesung dennoch besucht hat.
In jedem Fall begegneten sich beide in Sainte-Anne, wo Foucault Anfang der 1950er Jahre als Psychologe arbeitete und Lacan 1953 seine Seminare begann, doch auch zu dieser Episode finden sich widersprüchliche Angaben. David Maceys Aussage (1993, S. 56), Foucault habe in dieser Zeit das Seminar Lacans besucht, findet sich mit der Zeittafel der Dits et écrits im Einklang (Defert 2001, S. 23), welcher zufolge Foucault im Januar 1953 an Lacans Veranstaltung teilgenommen hat. Hans-Dieter Gondek (2008, S. 178) weist jedoch richtigerweise darauf hin, dass Lacans Seminar in Sainte-Anne erst im November 1953 begann, zudem Foucault (1980, S. 73) in einem Interview seine Teilnahme an den Seminaren verneinte. Dass Foucault nie an einer Seminarsitzung teilgenommen hätte, kann damit jedoch auch nicht gemeint sein; zumindest für den 18. Mai 1966 ist seine Teilnahme verbürgt (Lacan 1966).
Foucaults umfangreiche Einleitung zur französischen Übersetzung von Ludwig Binswangers Traum und Existenz von 1954 legt Zeugnis von einer grundlegenden Kenntnis der Arbeiten Lacans ab. Die Bezugnahme ist hier jedoch allgemein gehalten, ohne Verweise auf bestimmte Texte und in sich abgrenzender Geste: In ihrer Orientierung an der Sprache gelinge es der Lacan’schen Analyse nicht, dem spezifischen Sinngehalt von Bildern Gerecht zu werden, wodurch Lacan den Sinn des Trauminhalts Foucault zufolge (1954, S. 117) nicht angemessen deuten kann. In Briefen an Jacqueline Verdeaux aus dieser Zeit äußert Foucault sich offenbar abfällig über die seiner Ansicht nach mangelhafte philosophische Bildung Lacans, hält ihm eine prätentiöse Art vor und zeigt sich amüsiert über dessen Reise zu Heidegger nach Freiburg (Macey 1998, S. 96).
Sollte Foucault dennoch an den Seminaren Lacans teilgenommen haben, kann es sich bei diesen lediglich um die Seminare 1 und 2 gehandelt haben. Als Lacan im November 1955 das Seminar über die Psychosen begann, war Foucault bereits in Uppsala und erst 1960 kehrte er dauerhaft nach Paris zurück.
2. 1961 – Die Sprache des Wahnsinns
Zur Zeit der Veröffentlichung von Folie et déraison mussten Foucaults Kenntnisse von Lacans Werk dementsprechend begrenzt gewesen sein. Rückblickend konstatiert er in den 1980er Jahren:
„Zweifellos hat das, was ich von seinen Werken erfassen konnte, für mich eine Rolle gespielt. Aber ich habe seine Lehre nicht aus hinreichender Nähe verfolgt, um von ihr wirklich durchdrungen zu sein. Ich habe manche seiner Bücher gelesen; doch um Lacan zu verstehen, muss man ihn bekanntlich nicht nur lesen, sondern auch an seinem Unterricht teilnehmen, seine Seminare besuchen, eine Analyse absolvieren. Ich habe nichts davon getan. Ab 1955, als Lacan den wesentlichen Teil seiner Lehre lieferte, war ich schon im Ausland…“ (Foucault 1980, S. 73).
Dennoch scheint in den Jahren, die Foucault im Ausland verbrachte, sein vormals negatives Bild von Lacan sich gewandelt zu haben. Kurz nach der Veröffentlichung seiner Dissertation bekundet Foucault in einem Interview den Einfluss Lacans auf seine Arbeit, welcher der Psychoanalyse in Frankreich zu einer „zweite[n], glanzvolle[n] Existenz“ (Foucault 1961a, S. 235) verholfen habe; er tut dies jedoch erst auf Nachfrage und nicht ohne zugleich darauf hinzuweisen, dass dem Einfluss anderer Autoren wie Blanchot, Roussel oder Dumézil mehr Gewicht zukommt. An der nachgeordneten Bedeutung Lacans für Foucaults Denken wird sich auch in den kommenden Jahren nichts Grundlegendes ändern: Auch wenn die Relevanz Lacans in Foucaults Texten der Folgezeit offener zutage treten wird, werden andere Denker, namentlich Blanchot, Bataille und Klossowski, eine prominentere Rolle spielen und – anders als Lacan – ausdrücklich als „Gipfelpunkte des Denkens“ (Foucault 1963b, S. 328) gepriesen.
Foucault (1973, S. 534 f.) bewertet die Psychoanalyse in Folie et déraison zwiespältig. Zum einen habe sie auf dem Feld der Psychopathologie den Reden der „Wahnsinnigen“ erstmalig in der Moderne einen Bezug zur Wahrheit zugestanden, zum anderen aber habe sie eine Apotheose des Analytikers betrieben, in dessen Therapiesitzungen der Analysand sich abermals einer augenscheinlich übermächtigen Instanz zu unterwerfen habe. Es ist das zuerst genannte, positive Urteil, von dem aus sich Parallelen zu Lacan andeuten: Zunächst hält Lacan in seinen Äusserungen über die psychische Kausalität trotz seiner definitorischen Unschärfe ausdrücklich am Begriff folie mitsamt seinem „antiken Nachgeschmack von Heiligem“ (Lacan 1946, S. 180) fest, worauf ein kurzer Absatz folgt, der auch als Beschreibung des Forschungsvorhabens Foucaults dienen könnte:
„Um in konkreten Termini zu sprechen: Gibt es etwas, das den Geisteskranken [aliéné] von den anderen Kranken unterscheidet, wenn nicht dies, dass man ihn in eine Irrenanstalt einsperrt, während man sie ins Hospital verbringt? Oder noch: Entstammt die Originalität unseres Gegenstandes – sozialer – Praxis oder – wissenschaftlicher – Vernunft?“ (ebd., eckige Klammer im Original).
Lacan versucht einsichtig zu machen, dass der Wahnsinn nicht als eine Irritation des Ichs verstanden werden könne, sondern wesentlich in der imaginären Beziehung des Subjekts zum Ich gründe. Jene Wahnsinnigen, die von sich glauben, jemand zu sein, der sie nicht sind, verhalten sich Lacan zufolge in dieser Hinsicht nicht anders als alle anderen Menschen, deren imaginäres Ich prinzipiell nicht mit ihrer Subjektivität in Übereinstimmung gebracht werden könne. Der so verstandene Wahnsinn sei mithin nichts, was dem Denken von Außen zustößt, sondern „ein Phänomen des Denkens“ (ebd., S. 189), dessen grundlegende Struktur dem menschlichen Sein diesseits jeder Pathologie zugehöre. Das bedeutet nicht, dass es keine Möglichkeit zur Psychopathologie gäbe. Vielmehr legt Lacan nahe, dass die grundlegenden Strukturmomente dessen, was als Wahnsinn aus dem Kreis vernünftigen Verhaltens ausgeschlossen wird, die psychische Ordnung irreduzibel bedingen.2
Zwar folgt Foucault Lacan darin nicht, den Wahnsinn im Rahmen einer psychoanalytischen Theorie des Imaginären zu interpretieren, darüber hinaus aber ist die Semantik seines Begriffs jener des Lacan’schen in Hinblick auf die Betonung einer nicht-pathologischen Struktur des Wahnsinns verwandt. Auf dem Grunde dessen, was im Laufe der Geschichte als Wahnsinn ausgeschlossen worden ist, lasse sich Foucault zufolge (1961c, S. 223 ff.) das nicht-intelligible Substrat der Vernunft erkennen, woraus folgt, dass die Vernunft in dem Moment, wo sie den Wahnsinn in der Theorie diskriminiert sowie die „Irren“ internieren lässt, sich autoaggressiv gegen das eigene Ursprungsmilieu verhält. Die Reden der Wahnsinnigen, denen Schriften und Kunstwerke der Renaissance noch eine Beziehung zur Wahrheit des Seins zusprachen, seien ab dem Bruch des klassischen Zeitalters fast zur Gänze in den Griff einer Rationalität geraten, die ihren Ursprung selbst als vernünftigen denkt und das deviante Gemurmel der Irren aus dem Bereich des Wahren ausschließt. Auf dem Feld der Behandlung von Wahnsinnigen habe erst die Psychoanalyse den Wahrheitswert der delirierenden Diskurse wiederentdeckt, Wahnsinn aus seiner oppositionellen Stellung zur Vernunft befreit und das Phantasma eines sich selbst transparenten Bewusstseins aufgelöst. Im Epilog fordert Foucault Gerechtigkeit gegenüber Freud, dessen Arbeiten als „souveräne Gewalt einer Rückkehr“ (Foucault 1961b, S. 75, Hervorhebung im Original) verstanden werden müssten. Unter dieser Rückkehr versteht Foucault offenbar, dass die Psychoanalyse dem Sprechen der Wahnsinnigen wieder einen Wert zugesteht:
„Freud nahm den Wahnsinn auf der Ebene seiner Sprache wieder auf, stellte eines der wesentlichen Elemente einer durch den Positivismus zum Schweigen gebrachten Erfahrung wieder her; er fügte der Liste der psychologischen Behandlungen des Wahnsinns nichts Bedeutsames hinzu; er stellte innerhalb des medizinischen Denkens die Möglichkeit eines Dialogs mit der Unvernunft wieder her. […] In der Psychoanalyse geht es überhaupt nicht mehr um Psychologie: sondern genau um eine Erfahrung der Unvernunft, deren Maskierung der Sinn der modernen Psychologie gewesen ist“ (ebd., Hervorhebung im Original).
Auch wenn es Foucault hier nicht um die „Rückkehr zu Freud“, sondern um Freuds Werk als Rückkehr zum Dialog mit der Unvernunft geht, lässt die Verbindung des Namens Freuds mit dem Begriff der Rückkehr unüberhörbar das Credo Lacans (1955) anklingen, zumal im Verweis darauf, dass mit Freud die sprachliche Ebene des Wahnsinns adressiert werde, wobei sowohl „Rückkehr“ als auch „Sprache“ von Foucault hervorgehoben sind.
Während im Epilog also ein Dialog zwischen Vernunft und Wahnsinn möglich erscheint, trifft Foucault am anderen Rand des Buches – in der Vorrede – konzeptionelle Entscheidungen, die die Möglichkeit eines solchen Gesprächs in weitreichende Komplikationen verwickeln. Hier entwirft Foucault den spekulativen Rahmen, der der Arbeit am Material ihre philosophisch-metahistorische Perspektive gibt. In einer ersten Zäsur, die gleichbedeutend ist mit dem Ursprung der Geschichte selbst, sei es durch die Herausbildung einer sinnvollen Sprache und der damit verbundenen Möglichkeit des Erinnerns und Bewahrens zu einer Trennung der produktiven Rede von einem „dumpfen Lärm […] unterhalb der Geschichte“ (Foucault 1961c, S. 229) gekommen, der als „unvermeidliche Leere“ (ebd.) wie ein Schatten die Geschichte in ihrem Verlauf begleite. Die später erfolgte Organisation dieser Trennung in eine Sphäre des Wahns und eine Sprache der Vernunft konstituiere den vertrauten Gegensatz von Wahnsinn und Vernunft, um zugleich die gemeinsame Wurzel beider zu verdecken. Wenn aber bereits in der einfachsten bedeutungsvollen Rede die primäre Trennung sich vollzogen hat, wie kann es dann möglich sein, auf diskursivem Wege zur gemeinsamen Wurzel zurückzufinden oder den Dialog wiederaufzunehmen? Befindet sich eine historische Analyse, wie sie Folie et déraison darstellt, dann nicht zwangsläufig auf der Seite der Vernunft im Allgemeinen, so sehr sie sich auch anstrengen mag, die Begriffe und Konzepte einer bestimmten, historisch bedingten Vernunft wie die der Tradition der Psychopathologie zu vermeiden? Zwar schreibt Foucault durchaus von einer Sprache des Wahnsinns, der lediglich von Seiten der Vernunft ihr Recht abgesprochen werde, doch die seine Konzeption fundierende Unvereinbarkeit von bedeutungsvoller Sprache und Wahnsinn lässt fraglich werden, ob die delirierenden Reden in dem Moment, wo sie auf irgendeine Weise Sinn annehmen, noch in den Bereich des Wahnsinns fallen und nicht nur einer historisch bedingten Gestalt des Geistes widersprechen. Die proklamierte Wiederaufnahme des Dialogs mit dem Wahnsinn erscheint von der philosophischen Konzeption in der Vorrede aus als Uneinlösbar.3
3. 1962 – Ein verworfener Gott?
In den Texten der folgenden Jahre versucht Foucault, das Verhältnis von Sprache und Wahnsinn neu zu fassen, wovon bereits das 1962 veröffentlichte Le „non“ du père Zeugnis ablegt.4 Mit diesem Text schaltet sich Foucault in eine Debatte ein, die auf Karl Jaspers’ Strindberg und van Gogh von 1922 zurückgeht. Unter dem Titel La folie par excellence steuerte Maurice Blanchot der französischen Übersetzung ein langes, kritisches Vorwort bei, in welchem er sich ganz auf eine verhältnismäßig kurze Passage zu Hölderlin konzentriert. Blanchot (1951, S. 18 ff.) kritisiert Jaspers’ Auslegung des Wahnsinns Hölderlins als Ausdruck seiner Schizophrenie und versucht zu zeigen, dass jene Aspekte des Werks, die als Zeugnisse des Wahns gelesen werden, bereits vor dem Ausbruch der psychischen Erkrankung nachweisbar sind. Der Wahnsinn Hölderlins sei nicht pathologisch, sondern die konsistente Erfahrung eines Autors, der sich auf die Anrufung der Sprache eingelassen habe und dabei dem Sog der ihr innewohnenden Abwesenheit gefolgt sei. Was das Werk Hölderlins anziehe, sei die Leere im Herzen der Sprache; je näher das Werk diesem Brennpunkt komme, desto näher komme es dem eigenen Zusammenbruch; die Vollendung seiner Bewegung erreiche das Werk mithin in seiner Implosion.5
Jean Laplanche (1975, S. 19 ff.) wiederum wendet sich in seiner 1961 erschienenen Dissertation Hölderlin et la question du père kritisch gegen Blanchot. Was letzterer als Mysterium der psychopathologischen Beschreibung entziehen wolle, sei lediglich ein Effekt des Endzustands einer Schizophrenie. Blanchot erliege dem durch den Selbstverschluss der Psychose erzeugten Schein und breche das kritische Befragen unter falschen Annahmen zu früh ab. Zudem unterlaufe Blanchot in seinem zentralen Einwand gegen Jaspers ein Fehler: Zwar stimme es, dass das Werk bereits vor dem ehemals angenommenen Zeitpunkt des Ausbruchs der Schizophrenie Spuren des Wahns trägt, doch seien für die Bestimmung jenes Zeitpunkts allein literarische Kriterien ausschlaggebend gewesen. Wenn sich bereits früher als bisher angenommen eine wahnhafte Veränderung im Werk ablesen ließe, so verschiebe sich parallel auch der Ausbruch der Psychose. Laplanche sieht im Fall Hölderlins die seltene Möglichkeit einer psychobiographischen Untersuchung eines Psychotikers, dessen Werk sich als Ausdruck seiner Krankheit verstehen lasse und neue Erkenntnisse über das psychoanalytisch nur wenig erschlossene Gebiet der Schizophrenie ermögliche. Sein erklärtes Ziel ist es, die zweigliedrige Frage nach Werk und Wahnsinn in einen einfachen Diskurs zu überführen, d.h. „das Werk und Hölderlins Entwicklung zum Wahn und im Wahn selbst in einer einzigen Bewegung [zu] beurteilen“ (ebd., S. 23). Diametral zu Blanchots Betonung der nicht-pathologischen Dimension des Wahnsinns zielt Laplanches Untersuchung auf Hölderlins psychotisches „In-der-Welt-Sein[ ]“ (ebd., S. 13) und die damit verbundene Frage, auf welche Weise die künstlerische Produktion eine Funktion innerhalb des psychopathologischen Konflikts spielt. Laplanche (ebd., S. 77 ff.) sucht dazu nach Parallelen zwischen Leben und Werk Hölderlins; so liest er beispielsweise die Figurenkonstellation des Hyperion als Ausdruck von Hölderlins problematischen Beziehungen zu Schiller oder Susette Gontard. Eine entscheidende Bedeutung für Hölderlins Schizophrenie spricht Laplanche (ebd., S. 57 ff.) einer missglückten Konstitution des Vater-Signifikanten im Sinne der Psychosentheorie Lacans zu, derzufolge die Verwerfung des Namens-des-Vaters, also desjenigen Schlüsselsignifikanten, der als Garant der Gesetze der symbolischen Ordnung im Normalfall in diese einführt, die Psychose ausbrechen lasse.
Mit Le „non“ du père wählt Foucault einen Titel, der unzweideutig auf das besagte Lacan’sche Theorem anspielt und tatsächlich läuft Foucaults Einwand gegen Laplanche darauf hinaus, an diesem Punkt über den Lacan-Schüler hinauszugehen. Foucault (1962, S. 279 f.) teilt das Ansinnen Laplanches, die Trennung von Werk und Wahnsinn aufzuheben, bewertet jedoch das psychobiographische Vorgehen zu diesem Zweck als ungeeignet. Nicht nur habe Laplanche in seiner chronologischen Korrektur an Blanchot die jüngere Hölderlin-Forschung außer Acht gelassen, die in ihrem Nachweis der Kontinuität der Hölderlin umtreibenden Themen durchaus eine Entkopplung der „wahnsinnigen“ Aspekte des Werks von der psychischen Erkrankung ermöglichten, vor allem aber könne er nicht erklären, was das verbindungsstiftende Element zwischen Leben und Werk Hölderlins sei. Stets, wenn er eine Strukturisomorphie beider Ebenen proklamiere, fungiere ein ominöser Begriff des „Selben“, dessen Sinn unerörtert bleibe, als Scharnier. Die Folge davon sei, dass es Laplanche nicht gelinge, in einem einzigen Diskurs die Differenz von Werk und Wahnsinn aufzulösen; vielmehr bewege er sich in raschen Schwingungen zwischen beiden Ebenen hin und her, ohne dass sie sich je berührten.
Der Berührungspunkt von Werk und Wahnsinn finde sich Foucault zufolge weder in einem positiven Element noch in struktureller Identität beider Ebenen, sondern in einem gemeinsamen Fluchtpunkt. Auf diesen hätte Laplanche in der Thematisierung des Namens-des-Vaters stoßen können.
„Die grundlegende Lücke in der Stellung des Vaters ist folglich nicht mit Begriffen der Funktion oder der Versorgung als ein Ausfall zu denken. Sagen können, dass er fehlt, dass er gehasst, verworfen oder introjiziert wird, dass sein Bild symbolische Verwandlungen durchläuft, setzt voraus, dass er nicht von vornherein ‚verworfen‘ ist, wie Lacan sagt, dass sich nicht an seiner Statt eine absolute Kluft eröffnet. Diese von der Psychose, die sich in diese Kluft hineinstürzt, bekundete Abwesenheit des Vaters bezieht sich nicht auf den Bereich der Wahrnehmung oder Bilder, sondern auf den der Signifikanten. Das ‚Nein‘, durch das diese Kluft eröffnet wird, zeigt nicht an, dass der Vatername ohne wirklichen Träger dieses Titels geblieben ist, sondern dass der Vater niemals Zugang zur Benennung erlangt hat und dass dieser Platz des Signifikanten, durch den der Vater sich benennt und durch den er dem Gesetz gemäß benennt, leer geblieben ist. Auf dieses ‚Nein‘ läuft in direkter Linie die Psychose unfehlbar zu, sobald sie, wenn sie sich ihrem Sinnabgrund entgegenstürzt, in den Formen des Wahns oder des Phantasmas und im Desaster des Signifikanten die verheerende Abwesenheit des Vaters hervortreten lässt“ (Foucault 1962, S. 279 f.).
Hier verortet Foucault jenes „Selbe“, das Laplanche in der Strukturisomorphie von Wahn und Werk zu finden hoffte: Es ist der Abgrund, zum dem es das Werk ziehe und der den leeren Kern des Wahnsinns bilde. Was Laplanche Blanchot als Mystifikation der Schizophrenie vorwarf, stellt sich dergestalt als die verbindende Leerstelle heraus, die Laplanche benötigt hätte, um seinem eigenen Anspruch auf einen ungeteilten Diskurs über Werk und Wahn gerecht werden zu können. „Diese Kontinuität [von Wahnsinn und Werk] aufrechtzuerhalten gelang indes Laplanche nur, indem er die rätselhafte Identität, von der aus er zugleich vom Wahnsinn und vom Werk sprechen kann, aus der Sprache heraushielt“ (ebd., Hervorhebung im Original).
Auf diese Weise verbindet Foucault Blanchots Rede von der Leere in der Sprache mit Lacans Untersuchungen zur Psychose. Diese Verbindung wird möglich, da es sich in beiden Fällen um ein Drama auf der Ebene der Sprache handelt, in dessen Mitte ein Loch klafft. Hier zeichnet sich jedoch die Schwierigkeit ab, dass Blanchot der fundamentalen Abwesenheit in der Sprache eine Allgemeingültigkeit zuspricht, die sich auf konsistente Weise einem Denken eröffnen kann, dass sich auf die prekäre Erfahrung des Schreibens eingelassen hat, Lacan hingegen die Verworfenheit des Namens-des-Vaters zur Erklärung des Ausbruchs einer Psychose heranzieht. Foucault entgeht jedoch diesem Problem, indem er Lacans Theorem jenseits des pathologischen Kontexts dem Tod Gottes annähert, der den Raum des modernen Denkens ab etwa 1800 grundlegend strukturiere und die wesentliche Bedingung der Spracherfahrung Hölderlins darstelle.6
„Stärker als in unserer Affektivität durch die Furcht vor dem Nichts hat in unserer Sprache der Tod Gottes durch das Schweigen, das er an ihren Anfang gesetzt hat, und das kein Werk, wenn es nicht reines Geschwätz ist, verdecken kann, eine tiefe Wirkung gezeitigt. Die Sprache hat damit eine souveräne Gestalt erhalten; sie tritt hervor, als sei sie von anderswoher gekommen, von dort, wo niemand spricht; doch Werk ist sie nur, wenn sie, ihren eigenen Diskurs zurückgehend, in Richtung dieser Abwesenheit spricht. In diesem Sinne ist jedes Werk ein Unterfangen zur Erschöpfung der Sprache; die Eschatologie ist in unseren Tagen zu einer Struktur der literarischen Erfahrung geworden; diese ist von Geburtsrecht die letzte“ (Foucault 1962, S. 280 f.).
Weit davon entfernt, sich auf die Effekte einer Erkrankung reduzieren zu lassen, besteht der Wahnsinn Hölderlins Foucault zufolge in nichts Geringerem als in einer modernen Erfahrung der Grenzen einer Sprache, die sich auf sich selbst besinnt und dabei weder Halt noch Ursprung zu finden im Stande ist. Hierin besteht des Weiteren die Lösung für die Probleme, die sich aus der dichotomen Konzeption von Sprache und Wahnsinn im Vorwort von Folie et déraison ergaben: der Tod Gottes, verstanden als die Erfahrung einer fundamentalen Leere in einer Sprache, welcher der Garant für Ursprung und Ordnung abhanden gekommen ist, markiert den Punkt einer paradox anmutenden Berührung. Zu ihm gravitiere das Werk Hölderlins, ohne dass es ihm als Leere selbst einen positiven Ort im Werk geben könnte. In Anbetracht dessen, dass die Spitze des so verstandenen Wahnsinns selbst nicht sprachlich auszudrücken ist, bezeichnet Foucault den Wahnsinn als „l’absence d’oeuvre“ (Foucault 1964, S. 539), als Abwesenheit des Werks im doppelten Sinne.
Es wäre zweifellos übereilt, von Foucaults Auslegung des „Falls Hölderlin“ auf Psychotiker im Allgemeinen zu schließen und hinter jeder Schizophrenie einen Bezug zur Situation der Sprache im Zeichen des Todes Gottes zu behaupten. Doch wie genau das Verhältnis von psychischer Erkrankung zur Erfahrung der Sprache zu denken ist, lässt Foucault an dieser Stelle noch im Dunklen.
4. 1963-1964 – Vom Wahnsinn in die Überschreitung
Der in Le „non“ du père nur kurz aufgerufene Topos „Tod Gottes“ spielt in Préface à la transgression von 1963 eine zentrale Rolle. Bemerkenswerterweise lässt Foucault diesbezüglich Kant und Sade als wichtigste Zeugen auftreten, womit er jene Autoren in Verbindung bringt, zwischen denen Lacan in der gleichen Zeitschrift bereits einige Monate zuvor einen Zusammenhang hergestellt hatte. Lacans Kant avec Sade beinhaltet zudem eine Fußnote, in der die „bewundernswerte Geschichte des Wahnsinns von Michel Foucault“ (Lacan 1963b, S. 307, Hervorhebung im Original, übersetzt von mir) als weiterführende Lektüre empfohlen wird. Inhaltlich indes spielt der Text Lacans für Foucaults Préface offenbar keine Rolle; vielleicht handelt es sich bei der Wiederholung des ungleichen Paars Kant und Sade lediglich um die Erwiderung der Freundlichkeit in besagter Fußnote.7
Was im Préface hingegen durchaus eine Rolle spielt, ist die Psychoanalyse, namentlich die Bedeutung, die sie der Sexualität zuspricht. Kant habe mit der Thematisierung der Grenze im Zusammenhang der Metaphysik den Spekulationen über Gott die Grundlage entzogen, jedoch die Anwendung der Vernunft auf den Bereich diesseits der Grenze limitiert, ohne die Möglichkeiten zur Erfahrung ihrer Überschreitung auszuloten. Tatsächlich erscheint eine Überschreitung als Erfahrung aus kantischer Perspektive widersinnig, schließlich markiert die Grenze die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung; es würde sich mithin um eine Erfahrung jenseits dessen handeln, was Erfahrung konstituiert. Doch Foucault weist darauf hin, dass in jüngeren Forschungsansätzen die konstitutive Grenze nicht mehr im Kontext transzendentaler Subjektivität thematisiert werde, sondern im Zusammenhang sexueller Verbote.
„Wir haben die Sexualität nicht befreit, sondern wir haben sie bis genau an die Grenze herangeführt: Grenze unseres Bewusstseins, denn letztlich diktiert sie die für unser Bewusstsein allein mögliche Lesart unseres Unbewusstseins; Grenze des Gesetzes, denn sie tritt als der einzige absolut universelle Inhalt des Verbotes in Erscheinung; Grenze unserer Sprache: Sie bezeichnet den Rand der Gischt desjenigen, was auf dem Sand des Schweigens gerade noch in ihrer Reichweite ist. Durch sie kommunizieren wir folglich nicht mit der geordneten und glücklich profanen Welt der Tiere; vielmehr ist sie ein Riss: er läuft nicht um uns herum, um uns einzugrenzen oder zu bezeichnen, sondern um die Grenze in uns zu ziehen und uns selbst als Grenze zu entwerfen“ (Foucault 1963b, S. 320 f.).
Wenn sich hier mit der Psychoanalyse (Grenze des Bewusstseins), Lévi-Strauss’ Strukturaler Anthropologie (Grenze des Gesetzes) sowie Batailles Erotik (Grenze des Bewusstseins, des Gesetzes und der Sprache) die konstitutive Grenze im Zusammenhang mit sexuellen Verboten auftut, dann ist es prinzipiell möglich, diese zu überschreiten. In der sexuellen Raserei, die Bataille (2020, S. 29) zufolge die gesellschaftliche Ordnung sowie die individuelle Psyche zu dekomponieren im Stande ist, sieht Foucault die Möglichkeit zur Erfahrung der Überschreitung – einer Überschreitung jedoch ohne positives Jenseits, die lediglich vor Augen führen kann, dass die konstituierten Ordnungen keinerlei transzendentes oder transzendentales Fundament besitzen. Wie an der Diskussion um Hölderlin ersichtlich wurde, lässt sich Foucault zufolge in der Sprache eine ganz ähnliche Erfahrung der Überschreitung und der Leere machen. „Vielleicht hängen die Bedeutung der Sexualität in unserer Kultur und die Tatsache, dass sie seit Sade so häufig mit den tiefgreifendsten Entscheidungen unserer Sprache in Verbindung gebracht wird, mit dieser Bindung an den Tod Gottes zusammen“ (Foucault 1963b, S. 322).
Mit der Figur der Überschreitung strebt Foucault also über Kants kritische Philosophie hinaus, zugleich aber vermeidet er die Dialektik Hegels, in welcher der bereits bei Hegel (1802, S. 432) mit Kant verbundene „Tod Gottes“ als ein Moment in der Geschichte des sich erkennenden Selbstbewusstseins aufgehoben wird. Die Überschreitung darf in Foucaults Lesart nicht als Negation begriffen werden, die in einem subversiven oder revolutionären Prozess produktiv werden würde, andererseits auch nicht als bejahende Befreiung eines vormals ausgeschlossenen Bereichs, sondern als eine „nicht-positive Bejahung“ (Foucault 1963b, S. 326), die sowohl die Grenze selbst, wie auch das Unbegrenzte jenseits ihrer bejaht, ohne jenes Unbegrenzte als einen bestimmten Inhalt fassbar zu machen. Die Überschreitung erlaubt es mithin, eine Beziehung zwischen Sprache und Sein zu denken, die weder in der Immanenz eines Diskurses Sein mit Denken identifizieren würde, noch ihren Ursprung und Abschluss im transzendentalen Subjekt hätte. „In einer entdialektisierten Sprache, im Herzen dessen, was sie sagt, aber eben auch an der Wurzel ihrer Möglichkeit, weiß der Philosoph, dass ‚wir nicht alles sind‘“ (ebd., S. 331).
In Hinblick auf Lacan ist hier von Interesse, dass Foucault im Zusammenhang mit der Überschreitung zweimal das Verb „verwerfen“ (rejeter) verwendet, also jenes Wort, das Lacan (1954, S. 456 ff.) in Hinblick auf das Scheitern der symbolischen Integration des Namens-des-Vaters als Bedingung der Psychose und in expliziter Abgrenzung zur Hegel’schen Verneinung verwendet. Zunächst bezeichnet Foucault den „Inhalt“ (Foucault, 1963b, S. 325) des Unbegrenzten als von der Grenze verworfen, was dahingehend, dass entsprechender „Inhalt“ gerade keinen differentiellen Wert angenommen, also nie Zugang zum Symbolischen gehabt hat, dem Grundmotiv des Lacan’schen Begriffs entspricht. Das zweite Mal umschreibt Foucault im Zusammenhang mit der transgressiven Literatur Batailles das Subjekt als von der Sprache „gleichsam verworfenes“ (ebd., S. 329), da es nicht dazu im Stande sei, die beständig implodierende Sprache festzuhalten und sich in der Folge auf eine Weise wiederfinde, die sich seiner Artikulation entzieht. Auch auf Seiten des Subjekts findet sich also die Unfähigkeit, sich zu symbolisieren.
Sollte Foucaults Rede vom verworfenen Unbegrenzten und dem gleichsam verworfenen Subjekt tatsächlich eine Referenz auf Lacan darstellen, wäre sein Umgang mit dem Wort offenkundig terminologisch weniger streng als der des letzteren. Während bei Lacan das Verwerfen als Verweigerung der Aufnahme in die symbolische Ordnung pathologische Effekte zeitigt, ist das Unbegrenzte im Sinne der Überschreitung prinzipiell der Symbolisierung unzugänglich. Foucaults Anmerkung zum von der Sprache gleichsam verworfenen Subjekt ähnelt eher von fern Lacans Bestimmung des Subjekts als gespalten-ausgesperrtes, als dass hier der Begriff des Verwerfens im Lacan’schen Sinne Anwendung finden könnte. Darüber hinaus erscheint fraglich, ob der Begriff der Verwerfung sich wirklich dazu eignet, der Dialektik zu entgehen, schließlich findet das Verworfene zwar keine Aufnahme in das Symbolische, nichtsdestotrotz kehrt es im Realen dennoch wieder. Vielleicht hat Foucault an dem Begriff lediglich seine Geste interessiert: Die Möglichkeit, etwas zu adressieren, das in einer sprachlichen Ordnung keinen Platz finden kann.
Offensichtlicher ist der Lacan-Bezug in Foucaults zweitem Text, der die Überschreitung zum Thema hat, La folie, l’absence d’oeuvre von 1964, erschienen in einer Ausgabe von La table ronde, die der Situation der Psychiatrie gewidmet ist. Foucault stellt in Aussicht, dass in einer kommenden Kultur der Begriff des Wahnsinns möglicherweise nicht mehr verstanden werde. Nicht nur sei eine medizinische Kontrolle der geistigen Erkrankungen denkbar, auch sei das Ansinnen, im Lauschen auf den Wahnsinn eine verborgene Wahrheit unserer Selbst zu enträtseln, im Verschwinden begriffen. „All das, was wir heute im Modus der Grenze oder der Fremdheit oder des Unerträglichen erfahren, wird wieder auf die heitere Gelassenheit des Tatsächlichen getroffen sein. Und das, was für uns jetzt dieses Äußere bezeichnet, wird durchaus eines Tages uns bezeichnen können“ (Foucault 1964, S. 540). Was nämlich erhalten bleibe und an jener historischen Schwelle, an der Foucault sich verortet, eine neue Erfahrung eröffne, sei die „allgemeine Form der Überschreitung“ (ebd., S. 543), die bisher mit dem Wahnsinn in Verbindung gestanden habe und gemeinsam mit ihm ausgeschlossen worden sei. Damit nimmt Foucault eine wichtige begriffliche Differenzierung vor: War bisher noch unklar, in welchem Verhältnis für Foucault beispielsweise die Psychose Hölderlins zu seinem Wahnsinn im Sinne moderner Spracherfahrung steht, begegnet er hier dem möglichen Missverständnis, er wolle jedwede Form der Psychopathologie zugunsten einer Verklärung geistiger Erkrankungen im Sinne des Aufblitzens einer tieferen Einsicht verabschieden. Doch nicht nur thematisiert er hier geistige Erkrankungen, er stellt den Begriff des Wahnsinns zur Disposition und löst die Überschreitung aus ihm heraus.8
Im Laufe der Geschichte habe der Wahnsinn mit dem Verstoß gegen unterschiedliche sprachliche Verbote in Verbindung gestanden: Verstöße gegen den sprachlichen Code im Sinne formaler Fehler, Verstöße durch das Verwenden blasphemischer Wörter, Verstöße durch das Evozieren verbotener Bedeutungen sowie Verstöße durch die Verwendung eines codierten Sprechens, das dem, was es sagt, „einen stummen Mehrwert hinzu[fügt], der stillschweigend aussagt, was er sagt, und zugleich den Code, gemäß dem er es sagt“ (Foucault 1964, S. 545). Bei dieser letzten Art verbotenen Sprechens, die hier von Interesse ist, komme es weniger darauf an, was gesagt werde, als vielmehr um das Spiel einer Sprache, die sich im Inneren ihrer selbst befreie und eine „unkontrollierbare Flucht auf einen stets lichtlosen Brennpunkt“ (ebd.) hin antrete. Erst mit Freud habe sich die Erfahrung des Wahnsinns zu dieser Form des Sprachverstoßes, in der das Sprechen der Wahnsinnigen nichts anderes impliziere als ihre Sprache selbst, verschoben.
„Freud hat nicht die verlorene Identität eines Sinns entdeckt; er hat die hereinbrechende Figur eines Signifikanten eingekreist, der absolut nicht so ist wie die anderen. Das hätte genügen müssen, um sein Werk vor all den psychologisierenden Deutungen zu schützen, womit unser halbes Jahrhundert es im (lächerlichen) Namen der ‚Humanwissenschaften‘ und ihrer geschlechtslosen Einheit zugedeckt hat.“ (ebd., S. 546 f., Hervorhebung im Original).
Es ist offensichtlich, dass es sich hier um eine dezidiert lacanianische Lesart Freuds handelt und hier abermals auf den Namen-des-Vaters angespielt wird. Was die sich selbst implizierende Sprache betrifft, so hatte Lacan in D’une question préliminaire à tout traitement de la psychose Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken ganz in diesem Sinne gelesen. Bereits im Seminar zu den Psychosen merkt Lacan (2016, S. 36 f.) an, Freud habe festgestellt, dass Schrebers Theorie der Gottesstrahlen seiner Libidotheorie sehr nahe komme und auch Lacan selbst bekräftigt, seine eigene Darstellung der Funktionen des Unbewussten sei nicht sehr verschieden von den Ausführungen Schrebers. Zwar ist Foucaults Teilnahme an diesem Seminar bekanntlich ausgeschlossen, doch auch in D’une question préliminaire spricht Lacan in Hinblick auf Schrebers „Grundsprache“ als von dem Ort, „wo die Subjektivität ihre wahrhafte Struktur liefert, die Struktur, in der das, was analysiert wird, identisch ist mit dem, was artikuliert wird“ (Lacan 1958b, S. 62). Bedenkt man zudem, dass Lacan zufolge „das Unbewusste die radikale Struktur der Sprache hat, dass ein Material darin den Gesetzen gemäß funktioniert, welche die sind, die das Studium der positiven Sprachen, der Sprachen, die wirklich gesprochen werden oder wurden, entdeckt“ (Lacan 1958a, S. 83), dann erscheint Schrebers wahnsinniger Diskurs als ein Sprechen, dass nichts aussagt als den eigenen Bezug zur Sprache des Unbewussten.
Foucault fordert – wie bereits im Epilog zu Folie et déraison – zur Gerechtigkeit gegenüber Freud auf:
„Man wird Freud eines Tages die Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen, dass er nicht einen Wahnsinn hat sprechen lassen, der seit Jahrhunderten genaugenommen eine Sprache war (ausgeschlossene Sprache, geschwätziger Unsinn; ein Sprechen, das außerhalb des reflektierten Schweigens der Vernunft endlos seinen Lauf nimmt); er hat im Gegenteil den unvernünftigen Logos ausgetrocknet, trockengelegt; er hat die Wörter bis zu ihrer Quelle zurücksteigen lassen – bis zu jener blanken Region der Selbstimplikation, in der nichts gesagt wird“ (Foucault 1964, S. 547).
Lässt sich diese Wiederholung der Gerechtigkeitsforderung gegenüber Freud nicht schlicht als Bekräftigung der Lacan’schen Rückkehr zu Freud verstehen? Während Derridas These (1998, S. 74), Foucaults diesbezügliche Aufforderung im Epilog von Folie et déraison impliziere die Versuchung, ungerecht gegenüber Freud zu sein9 – eine Annahme, die von Apologeten der Psychoanalyse gegen Foucault dankbar aufgegriffen worden ist (Vgl. Whitebook 1999, S. 37 f.) – in einem Werk, das von einer ambivalenten Haltung gegenüber Freud gezeichnet ist, plausibel erscheinen kann, findet sich hier die fast identische Formulierung in einem Kontext, in dem Freud rundheraus affirmiert wird. Retrospektiv kann damit auch der frühere Ruf nach Gerechtigkeit gegenüber Freud als Anlehnung an Lacan begriffen werden. Interessant ist indes die Verschiebung des Grundes, warum Freud Gerechtigkeit gebührt: War es 1961 noch der wieder begonnene Dialog mit einer verfemten Sprache, so ist es 1964 dies ausdrücklich nicht, sondern die Bloßlegung der Selbstimplikation der wahnsinnigen Rede. Die spätere Forderung nach Gerechtigkeit richtet sich mithin gegen eine ungerechte Auslegung Freuds, die ziemlich genau jener entspricht, der der früheren Aussage gemäß gerechte Anerkennung gebührt.
Zwischen diesen beiden Forderungen lässt sich die Entwicklungslinie nachzeichnen, die Foucault in Hinblick auf das Verhältnis von Wahnsinn und Sprache abgeschritten ist: Angefangen bei der Aporie, einer wahnsinnigen Sprache, die wesentlich Schweigen ist, sprachlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, über die Identifikation der Blanchot’chen Leere in der Sprache mit der Leerstelle der entschwundenen Götter Hölderlins, bis hin zum Fallenlassen des Begriffs des Wahnsinns zugunsten einer überschreitenden Sprache, die durch keine Bindung an einen Inhalt fixiert werden kann und dergestalt eine neue Erfahrung ankündigt, „in der es um unser Denken gehen wird: Ihr unmittelbares Bevorstehen, bereits sichtbar, aber absolut leer, kann noch nicht benannt werden“ (Foucault 1964, S. 550). Während all dieser Modifikationen bleibt Lacan für Foucault ein ferner Bezugspunkt und vielleicht ist es dieser Distanz und diesen nur lose skizzierten Verbindungslinien geschuldet, dass er es bei allen Veränderungen, die das Werk Foucaults in diesen Jahren durchläuft, bleiben konnte. Auch erscheint fraglich, ob eine größere theoretische Annäherung möglich gewesen wäre, ohne dass sich unüberbrückbare Differenzen aufgetan hätten. Dies zeichnete sich bereits im Zusammenhang mit dem Wahnsinn Hölderlins ab, für dessen Deutung Foucault die Verworfenheit des Namens-des-Vaters akzeptierte, um ihn zugleich mit dem Tod Gottes in Verbindung zu bringen und in Hölderlins Wahn die Grundzüge der allgemeinen Situation des modernen Denkens zu erkennen. Zwar erhebt auch Lacan den Anspruch, mithilfe der Erzeugnisse von Psychotikern wie etwa Schrebers Denkwürdigkeiten zu allgemeinen Aussagen über die Struktur des Unbewussten zu gelangen, doch bleibt das Verwerfen hier auf den Kontext der Psychose beschränkt. Mit anderen Worten ist die Verwerfung des Namens-des-Vaters für Lacan gerade die differentia specifica, die die psychische Organisation der Psychotiker von anderen Menschen unterscheidet, für Foucault jedoch – in der lediglich skizzierten Verbindung mit dem Tod Gottes und in einer terminologisch weniger strengen Verwendung – das Signum des modernen Denkens.
Andererseits bemerkt Lacan am Ende von D’une question préliminaire, Schreber habe mit seiner Entweihung des Gottesnamens bereits die Erfahrungen Batailles antizipiert, die auch für Lacan nicht in den Bereich der Psychose zu fallen scheinen. „So erweist sich das letzte Wort, in dem ‚die innere Erfahrung‘ unseres Jahrhunderts uns ihre Zeitrechnung geliefert hätte, als eines, das mit fünfzig Jahren Vorsprung durch die Theodizeé geäußert wurde, für die Schreber die Zielscheibe ist: ‚Gott ist eine H…‘“ (Lacan 1958b, S. 70).10 Zudem sieht er hier in Anbetracht der Situation der Psychoanalyse davon ab, mit ihren Mitteln weiter auf das Feld der Psychose vorzudringen; dies wäre „genauso dumm wie sich an den Riemen zu quälen, wenn das Schiff auf dem Sand sitzt“ (ebd., S. 71). Trotz der unbestrittenen Spannung, die zwischen Foucaults Gedanken zu Wahnsinn und Überschreitung sowie Lacans psychoanalytischer Untersuchung der Psychose bestehen, existieren mithin genügend Leerstellen und angedeutete Linien über den Kreis pathologischer Fragen hinaus, die zumindest einen zwingenden Widerspruch zwischen beiden hier noch nicht aufkommen lassen. In jedem Fall setzen sich die Spuren Lacans auch in den folgenden Arbeiten Foucaults, die sich jenseits der Fragen um den Wahnsinn und die Überschreitung bewegen, fort.
5. 1966 – Lacan in der Archäologie der Humanwissenschaften
In Les mots et les choses von 1966, das eine erneute Zäsur im Werk Foucaults markiert – Abkehr von Wahnsinn und Überschreitung als Leitbegriffen, Unterordnung der Bedeutung des Todes Gottes unter die Figur des Menschen und Wendung zur Positivität der Diskurse – lässt dieser die Psychoanalyse eine ähnliche Rolle spielen, wie sie sie bereits im Préface à la transgression innehatte: Neben der Strukturalen Anthropologie Lévi-Strauss’ bilde sie eine der Disziplinen, die der Anthropologie der Humanwissenschaften insofern entgehe, als dass sie reflexiv die konstitutiven Grenzen des Menschen thematisiere und die diesbezüglichen Elemente und Strukturen in den Blick bringe, die nicht unterhalb, sondern außerhalb des menschlichen Bewusstseins lägen. Foucaults Darstellung der Psychoanalyse als Unternehmung, die die „Sprache-als-Gesetz (gleichzeitig Sprechen und System des Sprechens)“ (Foucault 1974a, S. 449) sprechen lassen wolle, verweist abermals auf Lacan, auch wenn er hier nicht namentlich genannt wird.11
Was Lacan (1965, S. 50 ff.) betrifft, so hatte dieser bereits in der Sitzung vom 31. März 1965 des Seminars zu den Problèmes cruciaux pour la psychanalyse sich begeistert von Foucaults Naissance de la clinique gezeigt, in welcher er die Bedeutung des Objekts a in Bezug auf den Blick thematisiert zu finden meint.12 Lacan griff diesen Zusammenhang im folgenden Seminar, L’objet de la psychanalyse, wieder auf, hier jedoch in Hinblick auf Foucaults Interpretation von Velázquez’ Las meninas im ersten Kapitel von Les mots et les choses. Dieses Mal blieb es nicht bei einer kurzen Bemerkung; Lacan widmete dem Bild vier Seminarsitzungen (4., 11., 18. und 25. Mai), deren dritte auch von Foucault selbst besucht wurde. Sollte Lacan sich jedoch mit der Einladung Foucaults einen Austausch gewünscht haben, so blieb sein Wunsch unerfüllt; auf die Frage Lacans (1966, S. 37), ob er denn die Ausführungen Foucaults auch nicht deformiere, erwiderte dieser lakonisch, Lacan würde sie reformieren, darüber hinaus schwieg er.13
Ein vorerst letztes Mal bestätigt Foucault (1969, S. 1024 ff.) die Psychoanalyse Lacans in seinem Vortrag Qu’est-ce qu’un auteur?, in welchem er Freud als einen der maßgeblichen Diskursbegründer auftreten lässt und die Rückkehr zu Freud affirmiert, was vom anwesenden Lacan (ebd., S. 1040 f.) mit einem zustimmenden Kommentar begrüßt wird.
6. Sprache und Denken – Schlussbetrachtung
Mit dem Ende der 1960er Jahre scheinen auch Foucaults Ambitionen, psychoanalytische Elemente für die eigene Theoriebildung einzubeziehen, zu einem Ende gekommen zu sein. 1974 stellt er die Frage, ob die Psychoanalyse im Wesentlichen als modifizierte Fortführung der psychiatrischen Macht oder als Bruch mit ihr zu begreifen sei, womit er ihr wieder jene ambivalente Position zuweist, die sie bereits in Folie et déraison innehatte. In jedem Fall vernachlässigt Foucault zufolge (1974b, S. 813 f.) die Psychoanalyse in ihrer Fixierung auf verinnerlichte Machtbeziehungen äußere gesellschaftliche Zwänge, namentlich im psychologisch-psychiatrischen Kontext. Bereits ein Jahr darauf sieht Foucault (1975, S. 966) seine Aufgabe darin, zur Entsakralisierung von Freud beizutragen und ihn seiner obsoleten Rolle als Bezugspunkt zur Lösung gegenwärtiger Probleme zu entheben, um angemessenere begriffliche Werkzeuge jenseits seiner zu entwickeln. Trotz seines Erfindungsreichtums sei auch Lacan im Bannkreis Freuds verblieben und habe dementsprechend keine neuen Kategorien erschaffen können. Vermutlich spiegelt sich hier der Einfluss Gilles Deleuzes wieder, dessen Freundschaft mit Foucault sich in diesen Jahren vertiefte. Deleuzes mit Felix Guattari 1972 veröffentlichtes L’Anti-OEdipe ist Foucault zufolge die „radikalste Kritik der Psychoanalyse, die jemals geleistet worden ist. […] Und mit ausreichender Kraft, was einen physischen und politischen Ekel vor der Psychoanalyse hervorgerufen hat“ (Foucault 1975, S. 963). Im Konflikt zwischen Deleuze und Lacan bezieht Foucault (ebd., S. 969) jedoch ausdrücklich keine Position.
Foucaults Histoire de la sexualité hat sicherlich von all seinen Werken das nachhaltigste Interesse der Psychoanalytiker:innen auf sich gezogen und eine Wiedergabe der vielschichtigen Debatte, die vom Eingeständnis einer Reformbedürftigkeit der Psychoanalyse bis zu polemischen Abwehrreaktionen unterschiedlichste Positionen umfasst, kann hier nicht ihren Ort haben. Doch wie Foucault einst zur Gerechtigkeit gegenüber Freud gemahnt hatte, so betont er insbesondere seit Lacans Tod im September 1981 die Bedeutung, die Lacans Arbeiten für seine Generation in Hinblick auf die Überwindung der Subjektphilosophie und der Dialektik hatten.
„Wenn ich an die 50er-Jahre zurückdenke, an die Zeit, als ich die Bücher von Lévi-Strauss und die ersten Texte von Lacan las, dann scheint mir das Neue in Folgendem zu liegen: Wir erkannten damals, dass die Philosophie und die Wissenschaften vom Menschen einem sehr traditionellen Verständnis des menschlichen Subjekts verhaftet waren und dass es nicht ausreichte, bald mit den einen zu sagen, das Subjekt sei radikal frei, bald mit den anderen, es sei von den sozialen Bedingungen determiniert. Wir erkannten, dass wir alles befreien mussten, was sich hinter der scheinbar so einfachen Verwendung des Personalpronomens ‚Ich‘ verbarg. Das Subjekt ist etwas Komplexes und Zerbrechliches, über das man nur schwer sprechen kann, aber ohne das wir gar nicht sprechen können“ (Foucault 1981, S. 248 f.).
Wenn Foucault hier mit Lacan eine Reformation der Subjektvorstellung verbindet, handelt es sich um eine nachträgliche Interpretation, denn wenn auch die Kritik am Subjektbegriff für ihn bereits früh wichtig wurde, spielt das Subjekt als irreduzible Voraussetzung des Sprechens für Foucault lange Zeit keine Rolle. Wesentlich entscheidender scheint der Umstand zu sein, dass Lacan das Unbewusste als sprachlich strukturiert versteht, denn das, was die unterschiedlichen Entwicklungsstufen von Foucaults theoretischer Orientierung in den 1960er Jahren verbindet, ist die fundamentale Stellung, die die Frage nach der Sprache in ihnen einnimmt. Insbesondere in der sich an die Komplikationen von Folie et déraison anschließende Suche nach einer Möglichkeit, vom Wahnsinn zu sprechen, ohne ihn der stets vernünftigen Sprache einzugliedern und ohne ihn der Sprache absolut entzogen zu denken, erscheint Lacans Auffassung der Psychose es zu ermöglichen, noch auf dem Feld der Psychopathologie eine abgründige sprachliche Dynamik wiederzuerkennen. Im Zusammenhang mit der Überschreitung ist es die dem konkreten Inhalt gegenüber indifferente Selbstimplikation, die Lacan in Schrebers Denkwürdigkeiten sah und die es Foucault erlaubt, eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Sprache und Denken zu eröffnen. Und wenn in Les mots et les choses sich abzeichnet, dass das Denken des Menschen von der Wiederkehr einer Sprache abgelöst wird, die nicht in den Grenzen eines Bewusstseins gefasst werden kann, dann bietet sich die Psychoanalyse Lacans gerade deswegen als Reflexion der Grenze des Menschen an, weil sie die Konstituierung der Psyche als wesentlich symbolischen Prozess zu denken gestattet.
Was mit den 1960er Jahren gleichfalls zu einem Ende kommt, sind die prophetischen Gesten Foucaults, mit denen er den Anbruch eines neuen Denkens – sei es der Überschreitung oder der Sprache – ankündigt. Die historischen Untersuchungen spezifischer Diskurse in Hinblick auf die Beziehung von Wissen und Macht scheinen der philosophischen Reflexion auf das Wesen der Sprache entraten zu können, wenn sie nicht gar die allgemeine Perspektive einer Philosophie, die unabhängig von konkreten wie verstreuten Diskursen Aussagen über die Beschaffenheit des Denkens der abendländischen Kultur treffen will, notwendigerweise verabschieden müssen.14 Von hier aus lässt sich erahnen, warum die Psychoanalyse Lacans für Foucault an Attraktivität verliert: Stand sie als Reflexion auf die sprachliche Konstitution des Menschen eben noch an einer epochalen Grenze, die sie mit einem Fuß bereits überschritten zu haben schien, so erscheint sie nun in erster Linie als eine historische Figur der Produktion und Organisation von Wissen, die ihre eigene diskursive Verflechtung nicht zu reflektieren im Stande ist.
1 Da Folie et déraison in späteren, modifizierten Auflagen von Foucault einen anderen Titel bekommen hat und bestimmte Passagen aus der ersten Auflage hier eine Rolle spielen, die deutsche Übersetzung die Umbenennung jedoch nicht spiegelt, zudem die deutsche Übersetzung von Le „non“ du père dessen Homophonie mit le nom-du-père verdeckt, gebe ich diese und alle weiteren Titel im französischen Original an, verweise jedoch auf die deutschen Übersetzungen, so sie existieren.
2 Im Seminar III wird Lacan (2016, S. 10) den Begriff der folie (in der deutschen Fassung mit „Verrücktheit“ übersetzt) mit dem der Psychose kurzschließen. In den hier verhandelten, neun Jahre älteren Äusserungen über psychische Kausalität befindet sich der Wahnsinn hingegen noch nicht eindeutig innerhalb eines pathologischen Registers.
3 Hierin besteht der zentrale Einwand, den Derrida (1963) gegen Foucaults Ansatz vorbringt. In einem Brief an Derrida bestätigt Foucault (1963a, S. 132), dass Derrida die Probleme erkannt habe und den richtigen Weg zu ihrer Lösung vorschlage, an der er via Nietzsche und Bataille bereits zu arbeiten begonnen habe. Nachträglich gibt Derrida an, mit seiner Fokussierung auf das Cogito durchaus die Bedeutung Descartes für Lacan im Blick gehabt zu haben. Hans-Dieter Gondek (1998, S. 230 f.) kann jedoch zeigen, dass diese Behauptung in chronologischer Hinsicht unplausibel ist.
4 Die Unzufriedenheit mit seiner theoretischen Spekulation führt dazu, dass Foucault in allen späteren Auflagen das ursprüngliche Vorwort gestrichen haben wird. Bezüglich der Editionsgeschichte der Histoire de la folie, siehe James (2011, S. 381 f.).
5 Der Einfluss von Blanchots Schriften auf Foucault in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ist kaum zu überschätzen. Seine komplexen Überlegungen zu Sprache und Literatur, die in der verkürzten Form der Darstellung hier zu Unrecht den Eindruck eines romantischen Mystizismus zu erwecken drohen, können an dieser Stelle leider nicht entwickelt werden.
6 Die Verbindung von Vater-Namen und Gott findet sich bereits bei Lacan (1958b, S. 39) selbst angelegt. Siehe hierzu auch Lacan (1963a).
7 Auf diese Art codiert wurde Derrida zufolge in den 1960er Jahren im Umfeld der ENS aufeinander Bezug genommen. „Man kommunizierte offenbar nicht. Man übersetzte sich nicht. Gelegentlich gab es Signale in der Nacht, von Weitem. Althusser richtete Lacan oder Foucault Grüße aus, der Lacan grüßen ließ, der dann Lévi-Strauss grüßen ließ“ (Derrida 2014, S. 34 f.).
8 In der Préface à la transgression verband sich mit der Überschreitung noch die „Möglichkeit des wahnsinnigen Philosophen“ (Foucault 1963b, S. 334). Indem hier nicht nur der Begriff des Wahnsinns, sondern auch die Idee, in ihm eine Wahrheit des Menschen im Allgemeinen erkennen zu können, verabschiedet wird, wendet sich Foucault offenbar nicht zuletzt gegen seine eigene Thematisierung des Wahnsinns in Folie et déraison.
9 Derrida erwähnt diese zweite Forderung nach Gerechtigkeit nicht, obgleich der Text, in der sie auftaucht, neben Foucaults Polemik gegen Derrida als zweiter Appendix der 1972 erschienenen Ausgabe der Histoire de la folie beigefügt ist und er ihn sicherlich gekannt hat. Bezüglich der verschiedenen Ausgaben und Titel der Histoire de la folie, siehe Fußnote 4.
10 L’expérience intérieure ist ein Werk Batailles. Roudinesco zufolge spielt der Namen Bataille eine grundlegende Rolle in der Entwicklung des Namens-des-Vaters-Theorem: Als Sylvia Bataille, bereits von George getrennt lebend, von Lacan, der seinerseits noch mit Malou verheiratet war, ein Kind erwartete, bestand keine rechtliche Möglichkeit, dass das Kind den Namen des biologischen Vaters tragen konnte. „Also gab Georges Bataille dem Kind von Lacan und Sylvia seinen Namen. Da lag einiges im Argen zwischen einer Rechtsordnung, die ein Kind dazu zwang, den Namen eines Mannes zu tragen, der nicht sein Vater war, und der Wirklichkeit der Dinge des Lebens, die es zuließ, daß dieses Kind die Tochter eines Vaters war, dessen Namen sie nicht tragen konnte“ (Roudinesco 1996, S. 252). Somit partizipiert Bataille auf unterschiedliche, doch je wesentliche Weise an Foucaults Begriff der Überschreitung wie an Lacans Namen-des-Vaters.
11 In einem Interview mit Alain Badiou ein Jahr zuvor hatte Foucault (1965, S. 584) Lévi-Strauss und Lacan in genau diesem Sinne noch namentlich genannt.
12 Siehe hierzu auch Allouche (2021, S. 3 f.).
13 Eine kommentierte deutsche Übersetzung aller diesbezüglichen Sitzungen hat Rolf Nemitz (2017) angefertigt. Die Frage, inwieweit sich Lacans Überlegungen zum Objekt a in Bezug auf den Blick mit Foucaults Arbeiten verbinden lassen, würde eine eigenständige Untersuchung erfordern.
14 Les mots et les choses nimmt hier eine Übergangsstellung ein; es handelt sich bereits um eine lokale Untersuchung bestimmter Diskurse, die prophetische Geste ist aber noch vorhanden.
Literaturverzeichnis
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Autor:in: Carl Corleis ist seit 2019 Doktorand am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wo er zuvor Philosophie sowie Neuere und Neueste Geschichte studierte. Thema seiner Dissertation ist die Auseinandersetzung zwischen Michel Foucault und Jacques Derrida. Über den Rahmen seines Dissertationsthemas hinaus interessiert ihn insbesondere die Konstellation französischer Philosoph:innen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in welcher er Fragen ausgehandelt findet, die ihm im Lichte gegenwärtiger Probleme noch immer aktuell erscheinen.