Ein Beitrag zur Rekonstruktion eines daseinsanalytischen Traumverstehens im Rückgang auf Medard Boss und Martin Heidegger: Zur fundamentalontologischen Dimension des Bezugs von Wachsein und Träumen.
Johannes Vorlaufer
Y – Z Atop Denk 2023, 3(2), 2.
Abstract: Der Beitrag möchte unser Wachsein und Träumendsein in ihrem Bezug zueinander und in fundamentalontologischer Hinsicht bedenken: Inwiefern kann das Wachsein für Träume fruchtbar sein? Warum haben uns Träume etwas zu sagen? Und wie können wir auf ihr Gesagtes und Ungesagtes hören? Im fragenden Nachdenken des spannungsreichen Dialogs von Medard Boss und Martin Heidegger wird versucht, die Bedeutung einer Besinnung auf das Traumphänomen für den therapeutischen Prozess zu erschließen.
Keywords: Wachen, Träumen, Möglichkeit, Wirklichkeit, Daseinsanalyse, Psychotherapie
Veröffentlicht am: 28.02.2023
Artikel als Download: Wachheit für die Träume
Wie wenig wissen wir vom Rätsel und Wesen der Möglichkeit?
Martin Heidegger (2014, S. 266)
Einleitung
Am 26. Januar 1952 schreibt Martin Heidegger in einem Brief an Medard Boss: „Hoffentlich waren Sie in den Ferien in einer fruchtbaren Wachheit für die ‚Träume’.“ (Heidegger 2006, S. 305) Ist die Frage, die sich in diesem alltäglich formulierten Satz seines Briefes verbirgt, eine bloß alltägliche oder ist sie voller Rätsel? Biografisch gesehen wäre wohl eine recht einfache Antwort möglich: Boss schrieb gerade an seinem ersten Traumbuch. Fruchtbarkeit könnte sich also auf sein Buch Der Traum und seine Auslegung aus dem Jahr 1953 beziehen. 1975 folgte dann sein zweites, inhaltlich anschließendes Buch mit dem Titel Es träumte mir vergangene Nacht. Dieses versteht sich als ein Praxisbuch, das Sehübungen anbietet und dann v.a. im Schlussteil nach dem Wesen des Träumens fragt. Neben diesen beiden Traumbüchern hat Boss in den Zollikoner Seminaren Gespräche mit Heidegger u.a. auch über Träume dokumentiert und in einer Reihe von Aufsätzen das Thema des Träumens erörtert (z.B. Boss, 1989).
Hinter dieser vielleicht also richtigen biographischen Antwort enthält das Zitat aus Heideggers Brief aber noch Fragwürdiges: Denn suchen wir unser Wachsein und unser Träumendsein in ihrem Bezug zueinander und in fundamentalontologischer Hinsicht zu bedenken, so kommt gar manches Vorverständnis ins Wanken und tiefere Fragen werden wach: Sind Wachen und Träumen das Selbe oder sind es zwei zu unterscheidende Weisen unseres Existierens, die irgendwie miteinander zu tun haben, und wenn so ist, wie haben sie miteinander zu tun, d.h.: Wie können wir sie unterscheiden und wie beziehen sie sich aufeinander? Schließlich können Träume uns nur deshalb wachrütteln, weil sie zu uns in einem Bezug stehen. Doch wie ist dieser Bezug zu verstehen? Sind es zwei getrennte, für sich bestehende parallele Welten, zwischen denen wir hin- und herwandern? Oder gibt es nur eine einzige, eine so genannte „wirkliche“ Welt, welche die andere beherrscht und sie dann als „unwirklich“ abwertet? Welche dieser Welten hat dann einen Vorrang vor der anderen? Wenn ja, nach welchem Kriterium? Inwiefern kann das Wachsein für Träume dann aber fruchtbar sein, wenn hier entweder eine der Welten von vornherein abgewertet wird oder aber auch, wenn sie nur parallel verlaufen? Was könnte Fruchtbarkeit in diesem Kontext meinen? Muss sich die Frucht unseres Bezugs unseres Wachseins zu unseren Träumen nicht auf uns selbst beziehen, auf unsere Weise, wie wir existieren? Sind wir – so meine These – vielleicht sogar selbst in unserer spezifischen Weise ein „Selbst“ zu sein – also nicht als Ichsubjekte, sondern in unserem eigentümlich offenen Selbersein, d.h. als Ek-sistierende, sich in eine Weite und Tiefe des Daseins Erstreckende – diese Frucht des Bezugs von Wachen und Träumen? Bestimmt uns diese Frucht vielleicht in unserem Frei-sein, also in der Weise, wie wir als weltoffene Wesen unsere Offenheit leben, indem wir uns aus unseren Möglichkeiten begreifen?
Eine Voraussetzung dieser noch zu bestimmenden Fruchtbarkeit wäre jedenfalls, dass Träume uns etwas zu sagen haben. Das hieße dann aber, dass sie zwar irgendwie mit uns verbunden, aber dennoch etwas Anderes, vielleicht sogar Fremdes sind, allgemeiner gesagt: dass zwischen mir und meinen Träumen eine Differenz herrscht: Ich bin nicht meine Träume und doch bin ich es, der träumt, ohne sie allerdings zu machen, herzustellen oder gar zu planen. Darauf, dass Träume zu unserer Identität gehören, weist etwa der Umstand, dass wir es zumeist als indiskret empfinden würden, von einem Fremden nach unseren Träumen gefragt zu werden. Dennoch ist die Zugehörigkeit meiner Träume zu mir selbst eine gespannte, in der wir nicht nur die Subjekte des Träumens, sondern zugleich die Angesprochenen und die Hörenden sind. Wie aber können wir auf ihr Gesagtes und Ungesagtes hören? Und wer kann uns sagen, d.h. zeigen, was sie uns sagend zeigen möchten? Etwa wir selbst als Geträumt-Habende oder aber der:die Therapeut:in als Autorität in Sachen Traumauslegung? Und was können wir überhaupt sehen, wenn wir uns mit Boss auf seine „Sehübungen“ einlassen? Müssen wir, um Wesentliches zu sehen, nicht nur das Vermögen haben, zu träumen, müssen wir vielleicht unser Träumen auch noch mögen und bereit sein, auf sie in einer besonderen Weise zu achten? Und, so nebenher gefragt: Müssen wir, um durch die Sehübungen Wesentliches sehen zu können, nicht auch noch in einer besonderen Weise hören können? Kaum beginnen wir also, uns dem Bezug von Träumen und Wachen zu öffnen, werden wir von Fragen überwältigt. Vorläufig können wir nur sagen: Zum Rätselhaften unseres Träumens und Wachens gehört auch ihr Bezug zueinander, das Zusammengehören von Verschiedenem im Selben, eine Identität im Differenten und eine Differenz im Identischen.
Ich möchte im Folgenden nicht einzelne Träume auslegen, sondern nach dem „Sinn“ des Träumens fragen, d.h. nach dem Horizont, in dem wir sie überhaupt angemessen verstehen können – ich möchte also innerhalb der Grenzen einer Fundamentalontologie verbleiben und reflektiere vor allem Gedanken, mit denen sich Boss, wie er in seinem zweiten Traumbuch schreibt, an „Besinnliche“ (Boss 1975, S. 8) wendet. Trotz der Gefahr einer zu groben Darstellung sei vorsichtig gesagt: Boss entfaltet sein Traumverstehen, Heidegger bringt Perspektiven ein, ohne sie systematisch und historisch auszuarbeiten. Boss und Heidegger stehen so in einer fruchtbaren Auseinandersetzung. Und vielleicht gelingt es, die Spannung ihres Fragens und ihrer Gespräche und ihres sich vom Phänomen des Traumes Ansprechen-lassens nicht zu verlieren. In dieser Absicht möchte ich zuerst einige Grundzüge von Boss, das, was sein Denken bewegt hat, zur Sprache bringen und dann den Rückweg zu Heidegger versuchen, der das Boss’sche Denken stets begleitet hat.
1. Die Frucht des Jahres 1953: Der Traum und seine Auslegungen und die späte Frucht 1975: Es träumte mir vergangene Nacht.
In Der Traum und seine Auslegungen dekonstruiert Boss, oder, um es in seiner Terminologie zu sagen: Er destruiert Konstruktionen des Traumes wie sie von alters her überkommen sind und sucht einen Weg vom Traum hin zum Träumen, d.h. er sucht zunehmend vom Substantiv und seiner möglichen Hypostasierung und Vergegenständlichung sich auf die verbale Bedeutung zurück zu beziehen, d.h. sich auf den Traum in seinem Geschehens- und Vollzugscharakter einzulassen, oder, wie es in den Zollikoner Seminaren heißt: „Träume nicht als Anzeichen und Folgen von etwas Dahinterliegendem, sondern sie selber in ihrem Zeigen und nur in diesem [zum Sprechen zu bringen]. Damit beginnt erst die Fragwürdigkeit ihres Wesens.“ (Heidegger 2006, S. 308) In methodisch-phänomenologischer Hinsicht setzt er damit einen wichtigen Schritt zurück von der Vorstellung einer Sache zu ihrer Erfahrung, genauer könnte man sagen: Boss übt sich in der Epoché als einer kritischen und selbstkritischen Weise des Vernehmens.
Dass man hingegen historisch gesehen mit Träumen theoretisch und praktisch immer wieder sehr unterschiedlich umgegangen ist, muss hier nicht dargestellt werden, das ist etwa Thema der Wissenschaftsgeschichte, der Wissenschaftstheorie oder aber der historischen Kulturanthropologie, der Medizingeschichte oder auch der Religionswissenschaft, die viel Wissenswertes ans Licht bringen können. Denn diese unterschiedlichen und vielfach konträren Umgangsweisen mit unseren Träumen haben durchaus einen Sinn und geben Aufschluss über soziale Beziehungen ebenso wie über ein zugrunde liegendes Verständnis von Welt, von Göttern oder von Subjektivität. Die sowohl wissenschaftlichen wie lebenspraktischen Zugänge sind aber auch für die Träumenden selbst wichtig, denn sie können z.B. die von Träumen geschürten Ängste mildern, indem man sie etwa in Rituale einbindet. Aber auch dann, wenn man Träume wissenschaftlich „erklären“ will, mag man dadurch ihre Fremdheit ein Stück weit zu reduzieren, z.B. indem man sie als bloß symbolische Erscheinungsform abwertet oder als Produkt einer unbewussten Arbeit eines Unbewussten begreift. Auch Theorien können so auf ihre Weise das Unheimliche von Träumen in den Griff bekommen und uns verunsicherten Träumenden wieder einen festen Boden unter den Füssen zu geben versuchen. Sie helfen uns, uns von unseren Träumen zu distanzieren so, dass wir dadurch in ein Gegenüber zu ihnen kommen und ihre unheimliche Nähe in eine Gegenständlichkeit wegrückt. Zugleich ist dies eine Weise, wie wir vor uns selbst flüchten, indem wir unser Träumen von uns wegschieben als etwas, das von etwas in uns, oder aber auch von außen durch einen Demiurgen bewirkt wird, der dann die Schuld an unseren Träumen trägt.
In seinem ersten Traumbuch wendet sich Boss kritisch solch vergegenständlichenden Trauminterpretationen zu. Seine Fragen und Überlegungen zielen darauf ab, ein den Träumen gemäßeres Verstehen zu entfalten. Bei der Lektüre seiner Bücher kann auffallen, wie sehr Boss ein Fragender bleibt, auf dem Unterwegs seines Nachdenkens sich immer wieder neu vom Traumphänomen ansprechen lässt. Er destruiert nicht nur vergegenständlichende Traumtheorien, sondern auch sein eigenes Denken unterliegt auf diesem Weg einem sanften Wandel.
So zitiert Boss in der Indienfahrt eines Psychiaters, also noch vor seinem ersten Traumbuch, einen indischen Weisen: „Kein Mensch träumt von einer schwerfälligen, eingepanzerten Schildkröte, dem es nicht schildkrötenhaft eng und beschwerlich zumute ist.“ (Boss 1976, S. 221). Konstantin Gemenetzis weist in seinem Aufsatz Traum-Erkundungen darauf hin, dass hier das Verständnis des Traums auf die Stimmung des wachen Menschen zugeschnitten ist: Sein schildkrötenhaft enges und beschwerliches Wachleben bestimmt seinen Traum. In dieser Hinsicht sagt Gemenetzis, segelt Boss noch „im Kielwasser der freudschen Traumauffassung“ (Gemenetzis 2016, S. 147). Wachen und Träumen wird hier auf den wachen Menschen hin ausgelegt, denn der indische Weise bzw. Boss hätten nie gesagt: Nun weiß ich nicht, ob dieser Mensch geträumt hat, dass er eine Schildkröte sei, oder ob die Schildkröte geträumt hat, dass sie dieser Mensch sei.
Eben mit einem solch irritierenden Traum aber beginnt das erste Boss’sche Traumbuch, er weist er auf einen möglichen Wandel seines Traumverständnisses hin, wie zaghaft immer dieser Wandel auch ausgefallen sein mag. Auch wenn Boss diesen Traum nicht auslegt, kann dieser Traum vielleicht zwar nicht einen Weg aufzeigen, aber doch auf eine Spur weisen:
„Einst träumte Zhuāngzǐ, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Zhuāngzǐ. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Zhuāngzǐ. Nun weiß ich nicht, ob Zhuāngzǐ geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Zhuāngzǐ sei.“ (Zhuāngzǐ 1972, S. 52)
Dieser Jahrtausende alte Traum, der uns aus China überliefert ist, ist nicht nur das Motto für das erste Traumbuch (Boss 1953, S. 9), Daseinsanalytiker erzählen ihn seitdem immer wieder1. Der Schmetterlingstraum spricht von etwas Unheimlichem, von einem Wissen, das nicht weiß, wer wir sind: Sind wir träumende Schmetterlinge oder träumen wir von Schmetterlingen? Wer sind wir „wirklich“ – oder „möglicherweise“? Bringt dieser Traum Fragen, ja vielleicht sogar ein Rätselhaftes zum Vorschein? Und welche Rolle spielt das Aufwachen aus diesem Traum? Verschwinden dadurch die Fragen des Rätsels? Verschwindet das Rätsel des Traums? Obwohl Boss diesen Schmetterlingstraum noch einmal in seinem zweiten Traumbuch (Boss 1975, S. 201) heranzieht, legt er ihn auch dort nicht aus, sondern gibt stattdessen einen kurzen Hinweis auf die entscheidende ontologische Frage, was denn ein Traum sei: „Hatte uns denn nicht schon der weise Tschuang-Tse auf die grundsätzliche Ununterscheidbarkeit aufmerksam machen wollen? Was anderes hätte er damit zu bezwecken vorgehabt“? (Boss 1953, S. 233)
Der chinesische Traum soll also begreifen lassen, wie das Verhältnis von Wachen und Traum zu verstehen ist. Was bedeutet dies, er sei nicht unterscheidbar vom Wachen? Um diese Ununterscheidbarkeit zu illustrieren, ist bei Boss ein beliebtes Beispiel ein im Traum erscheinender Hund: „Auch ein Traumhund ist und bleibt […] ein Hund, der einem Menschen begegnet und bedeutet nicht außerdem noch etwas anderes.“ (Boss 1975, S. 39) Mit dem Traumhund wird bei Boss die symbolische Deutung von Träumen abgewehrt. Denn symbolische Deutung hieße, dass das Träumen abgewertet wird. Genau besehen muss man zu diesem Traumbeispiel sagen: Im Vollzug des Träumens, also während des Traums ist diese Ununterscheidbarkeit wesentlich. Man könnte dies so formulieren: In der Unmittelbarkeit des Träumens gibt es keine Differenz z.B. zwischen wirklich und unwirklich. Erst nach dem Erwachen wird die Frage virulent und wir fragen dann: „War es ein Traum oder nicht?“ Die Frage nach der Differenz ist eine nachträgliche Frage von Erwachten. War es ein Traum? Mit dieser differenzierenden Frage sind wir wieder beim Problem einer Ontologie des Traumes.
Darauf konzentriert sich Boss sowohl im Schlussteil seines ersten wie seines zweiten Buches, letzterer ist betitelt mit Das Eigene des Träumens im Vergleich zu dem des Wachens. Er stellt dort die These auf: „Solange uns nicht gelingen will, die Verfassung des träumenden Menschen von der des wachen grundlegend abzugrenzen, dürfen wir nicht wähnen, etwas Beachtenswertes zum Verständnis unseres Träumens beigetragen zu haben.“ (Boss 1985, S. 201) Es geht ihm um das Abgrenzen, genauer: um das grund-legende Ab-grenzen, also um ein Definieren, um von der Grenze her einen Grund zu legen für ein zureichendes Verständnis des Träumens.
Zugleich mit dieser grundlegenden Grundfrage wird ein anderer Gedanke mitgedacht, den Boss ausdrücklich als die Frucht seines Buches bezeichnet: Die „wesentlichste Frucht [ist] die Erkenntnis, dass Träume nicht als irgendwelche Gegenstände von einem Menschen losgelöst und mit anderen von ihm hergestellten Objekten verglichen werden können“ (Boss 1953, S. 137 f.), und dass der Mensch träumend „völlig im Bezughaben zu den Dingen und Menschen aufgeht.“ (Boss 1953, S. 138) Im Schlusskapitel wiederholt und verstärkt Boss diese Erkenntnisfrucht und schreibt, „dass wir das Träumen und das Wachen im ganzen nicht als zwei verschiedene gegenständliche Bereiche miteinander vergleichen können [...] deren Verschiedenheiten man durch inhaltliche Merkmale zu bestimmen vermöchte“ (Boss 1953, S. 232) – wie etwa Apfel und Birne. Seine Begründung lautet: „ein jeder derartiger Vergleichsansatz ist deshalb zum vorneherein verfehlt, weil stets dieselbe Person vom Träumen ins Wachen erwacht, eine Identität sich also durch jedes Wachen und Träumen durchhält.“ (Boss 1953, S. 232) Damit ist dem Träumen „die Würde einer eigenen Weise des menschlichen Daseins“ zugesprochen. (Boss 1953, S. 232)
Hier geht es um Verschiedenes: um die Würde einer eigenen Weise menschlichen Daseins, um das Abgrenzen als Fundament eines Verstehens von Träumen und darum, dass Träume nicht wie Gegenstände losgelöst vom Menschen verstanden werden können. Lässt man das Boss’sche Anliegen der Würde vorläufig beiseite, bleibt dann nicht ein Widerspruch übrig? Definieren von etwas, das kein Etwas ist, weil es nicht losgelöst, d.h. abstrakt verstanden werden kann?
Deshalb sei eine Rückfrage an sein definierendes Grundanliegen versucht: Gelingt ihm dies? Ich möchte das Problem nochmals schärfer formulieren: Einerseits ist also keine Abgrenzung im Sinne einer gegenständlichen Differenzierung möglich, anderseits gibt es ein Bedürfnis nach Unterscheidung und zudem die Erkenntnis, dass unser Träumen in einer solch intensiven Weise beansprucht, also in An-Spruch genommen ist, dass es hier im Traumgeschehen selbst kein Differenzieren gibt und geben kann. Erst mit dem Erwachen und der damit verbundenen wachen Identität i.S. eines sich in einer Kontinuität durchhaltenden Subjekts beginnt eine neue Ebene der Erkenntnis.
Gelingt es Boss, seinem eigenen Anspruch zu entsprechen und die „Verfassung des träumenden Menschen von der des wachen grundlegend abzugrenzen“? Als eine Antwort auf diese relevante Frage stellt Karl Baier in seinem Beitrag Probleme der Ontologie des Traums bei Medard Boss die These auf, dass Boss, ausgehend vom unmittelbaren Traumgeschehen und seiner spezifischen Seinsvergessenheit letztlich Paralleluniversen konstruiert, „die sich nur dadurch unterscheiden, dass die Traumwelten aus rätselhaften Gründen jeweils nur einen Traum lang dauern.“ (Baier 2009, S. 148) Man könnte sagen, dass Boss, indem er das Träumen jeder verobjektivierenden Analyse entzogen hat, die ontologische Differenz übersprungen hat. So schreibt Baier: „Die im [sic] Träumen vergessene Differenz von Wirklich-Sein und Imaginär-Sein verführt Boss zu einem univoken Seinsverständnis in Bezug auf Wach- und Traumwelt.“ (Baier 2009, S. 148) Nötig sei es aber, „zwischen analogen Weisen des Erscheinens“ (Baier 2009, S. 148) zu differenzieren.
Boss würde sich wohl gegen die kritische Analyse, er konstruiere Parallel-Welten, sträuben, zumindest insofern, als diese „zwei“ Welten auch für ihn keine numerisch abzählbaren Entitäten sind und sein können: Es sind auch für ihn jedenfalls keine zwei ontischen Welten. Die nicht entschiedene ontologische Frage, ob das Boss’sche Traumverständnis von einem univoken Seinsverständnis getragen wird oder nicht, ist ungleich schwieriger zu beantworten. Denn mag das Wirklichkeitsverständnis und der ihm entsprechende Seinsbegriff beim Boss’schen Verständnis von Wachwelt und Traumwelt tatsächlich univok orientiert sein, so zeigt sich für Boss aber dennoch und zugleich noch etwas Anderes, dieses univoke Seinsverständnis letztlich sprengende, wenn er vom Traumgeschehen als einer besonderen „Modifikation des menschlichen Daseins“ (Boss 1953, S. 233) spricht. Und an einer Stelle seines ersten Traumbuches spricht Boss sogar von „Traumerscheinungen als eigenständiger [sic] Offenbarungen des Wesensgrundes aller Dinge“ (Boss 1953, S. 137), ohne allerdings diesen Wesensgrund in seiner Ab-Gründigkeit zu bedenken. Insofern Boss jedenfalls Heideggers zentrale Überlegung, dass Wachen und Träumen eine je „eigene Weise der Anwesung“ (Heidegger 1982, S. 125) sind, aufgreift, wird von ihm implizit auch gesagt, dass ihr Bezug kein differenzloser und das Seinsverständnis somit aus der Differenz zu verstehen ist, die Identität daher keine differenzlose ist.
Deshalb scheint mir Boss zumindest bis an die Grenze eines Denkens des Analogen zu gelangen. Diese Grenze, die einen Blick auf ein Jenseits seines Gedachten freigibt, könnte in seinem Buch dort zu finden sein, wo Boss die Rolle des Er-wachens zwar unterstreicht, sie aber m.E. nicht in seine Tiefe hinein entfaltet. So schreibt Boss, gegen die vergegenständlichenden Traumtheorien gerichtet: „Und wurde da nicht erst noch das Scheidende, das Erwachen, als eine Art von Selbstverständlichkeit unbedacht im Dunkeln gelassen?“ (Boss 1953, S. 234) Muss diese Frage von Boss vielleicht auch gegen Boss gerichtet werden?
Im Kontext der Frage nach dem Erwachen taucht bei Boss erneut die Frage nach der Identität auf, und in dieser Identitätsfrage bricht eine eigentümliche Differenz auf, die für das Verständnis des Traums zentral ist: meine Träume sind meine Träume. Boss mag methodisch-phänomenologisch noch so sehr vor dem Traum zurücktreten, der Traum ist doch immer je mein Traum. Die Differenz holt uns ein: ich träume, ja ich bin träumend, aber ich bin nicht mein Traum. Was ich bin und was ich nicht bin sind in ihrer zusammengehörenden Differenz das Selbe. Auch dort und gerade dort, wo das Es des Träumens betont wird: Es träumt mir, so bin doch ich selbst es, der träumt und nicht bloß etwas in mir träumt. Erfahren wir im Erwachen, wieder ins Wachsein geholt zu werden, so entspricht dieses Sich-gegeben-werden einer Traumerfahrung, die sich im „Es“ des „Es träumt“ ausspricht: Wir werden uns träumend gegeben, werden uns im Traum als einer Weise der sich wiederholenden Existenz gegeben, werden uns im Traum wiederholend uns selbst gegeben. Ist somit die Schildkröte nicht doch eine angemessene Traumerfahrung? Denn sie würde das verständlich machen, was Boss einer Therapie unterstellt: das Entsprechen. Und dennoch träumt „Es“ mir, wie der chinesische Schmetterlingstraum sagen will. Träumen ist, so kann man viele Traumauslegungen von Boss lesen, ein Wiederholen unseres Daseins, das z.B. in Stimmungen manifest wird. Aber Erwachen ist ein Sich wieder holen aus der Traumwelt.
Der Schlusssatz seines Buches ist – wie könnte es bei Boss anders sein – eine Frage und öffnet erneut den Blick und irritiert: Würde nicht das Wesen unseres Träumens „gerade auch im Geheimnis [sic] der geschichtlichen Kontinuität des Daseins gründen?“2 Bei Boss ist die Kontinuität der sich durchhaltenden Wachwelt ein Kriterium, das Differenzierung und Grenzziehung ermöglichen soll. Und nun wird Kontinuität selbst als ein Geheimnis erfahren oder zumindest – für den Leser eher jäh und blitzartig – angedeutet, aber nicht entfaltet. Kontinuität aber ist ein temporaler Begriff – verweist er in ein tieferes Verständnis einer Ontologie des Träumens? Mit der Boss’schen Abkehr von abwertenden Traumtheorien werden die Fragen nach dem Sein des Traumes somit nicht weniger, sie werden bedrängender.
2. Heideggers Pindarauslegung: Eines Schattens Traum
Im WS 1941/42 hält Heidegger eine Vorlesung über Hölderlins Hymne „Andenken“ und geht dort auf die Frage nach dem Wesen des Träumens ein. Heidegger geht in diesen Vorlesungen einen Schritt über Boss hinaus, indem er radikaler als Boss modalontologisch denkt. Er sagt dort in komprimierter Weise über das Wesen der Träume: „Träume sind das Schwere, Gewichtige, Kostbare und deshalb das kaum zu Meisternde.“ (Heidegger 1982, S. 106) In dieser verdichteten Formulierung ist sein modalontologischer Zugang zum Wesen des Träumens geborgen, diesen gilt es im Folgenden zu entfalten.
Negativ und im Bild gesprochen heißt es hier: Träume sind nicht bloße Schäume, sondern eher die Welle, die uns trägt. Das Schwere, das Gewichtige und das Kostbare dieser Welle scheint ein Überforderndes zu enthalten: Sind Träume zu schwer, zu gewichtig und zu kostbar, weshalb sie für uns auch kaum zu meistern sind? Zudem ist nicht ausgemacht, ob unsere alltäglichen Erfahrungen mit diesen Begriffen ausreichen, um Heideggers Satz in seinem intendierten Sinne zu verstehen: So sind die Begriffe schwer und gewichtig gegenwärtig negativ konnotiert und widersprechen einer weit verbreiteten erstrebten Leichtigkeit des Seins. Man könnte weiters fragen, ob in einer durchkapitalisierten Lebenswelt der Begriff der Kostbarkeit überhaupt noch außerhalb einer Tauschwertlogik erfasst werden kann. Das bedeutet aber: War bisher der Traum das Rätsel, das wir bedacht haben, so schwappt die Welle nun über auf unser Dasein als Ganzes. Macht uns vielleicht eine Besinnung auf das Wesen der Träume offenbar, dass unsere Alltagswelt, d.h. unsere alltäglichen Selbstentwürfe zu wenig schwer, zu wenig gewichtig und zu wenig kostbar sind? Könnte eine Besinnung auf unsere Träume eine Kritik an unserem wachen Dasein implizieren?
In seiner Vorlesung zieht Heidegger jedenfalls die Konsequenz aus der Abkehr von überkommenen Traumtheorien bzw. aus seiner Hinkehr zum Träumen selbst, und diese Neuausrichtung mündet in die Frage, „ob man überhaupt den Traum aus der Art des menschlichen Seelenlebens erklären könne oder ob nicht umgekehrt eher der Traum geeignet ist, erst einen Blick auf das Wesen des Menschen zu tun.“ (Heidegger 1982, S. 107) Was aber ist am Traum so eigentümlich, wenn nicht rätselhaft, dass wir selbst betroffen sind, dass uns unser Wesen aus seinem Wesen her an- und aufgeht?
Heidegger geht, um diesen Frageweg zu beschreiten, mit Hölderlin in die griechische Antike zurück, zu Pindars Ode Pythia. Pindar schreibt in dieser Ode einen Vers, der in der Übersetzung Hölderlins lautet: „Tagwesen. Was aber ist einer? was aber ist einer nicht? Der Schatten Traum, sind Menschen.“ (Heidegger 1982, S. 111) Wir könnten uns schnell an der nahe liegenden Deutung dieses Verses als Tagwesen im Sinne von „Eintagswesen“ beruhigen und uns so als Wesen begreifen, die nur flüchtig existieren und sterblich sind. Dieser verführerischen und eingängigen, weil den alltäglichen Erfahrungen korrespondierenden Interpretation widersetzt sich Heidegger: Pindars Frage, so seine These, „sucht keineswegs die Feststellung dessen zu treffen, was der Mensch ist, um dann noch ergänzend all das anzugeben, was er nicht ist [...]; dies aufzuzählen, wäre ohne Sinn und Tragkraft.“ (Heidegger 1982, S. 114) Pindars Doppelfrage fragt nicht nach zwei Bestandteilen des Menschen, sondern ist vielmehr eine in sich zwiefältige Frage, in der schon die entscheidende Antwort mitgegeben ist: „Zum Sein des Menschen gehört ein Nichtsein.“ (Heidegger 1982, S. 114) Diese Doppelfrage ist also keine ontische, sondern eine ontologische.
Der Schatten Traum sind Menschen: Was bedeutet das nun für das Traumverständnis? Ist vielleicht bei Pindar der Traum und damit auch der Mensch „nur eine Steigerung des Schattenhaften, also der Schatten eines Schattens und damit das Flüchtigste alles Flüchtigen“ (Heidegger 1982, S. 115), sozusagen das schlechthin Unwirkliche? Mit dieser Deutung hätten wir das Traumverständnis mit unserer eigenen Vergänglichkeit kompatibel gemacht und ins Äußerste gesteigert. Heideggers Zusatz, den er unmittelbar anbringt, verwehrt allerdings eine solche Interpretation, denn er sagt: „dort, wo der Mensch nur am ständig Entschwindenden hängt, dem Täglichen des Alltags.“ (Heidegger 1982, S. 115) Dieser Zusatz sprengt unser alltagsgemäßes Verstehen. Greifen wir noch einmal den Begriff des Kontinuierlichen und Identischen auf, mit dem Boss das Wachsein gekennzeichnet und vom Träumendsein unterschieden hat: Das Kontinuierliche als das Identische, das sich in der Zeit durchhält, entspricht dem alltäglich-vulgären Zeitbegriff, der die Zeit aus dem Vergehen und Vernichten von Jetztpunkten deutet. Alltäglichkeit und ihr Identitätsverständnis ist von diesem Zeitbegriff erfahrungsmäßig getragen. Im Kontext dieses Zeitverständnisses, das Zeit aus ihrer ständigen Selbstvernichtung versteht, droht der Mensch mit der Zeit selbst unterzugehen und sucht Halt, hängt sich an das, was Halt verspricht, taumelt „hinter dem Täglichen her“ (Heidegger 1982, S. 115). Entsprechend dem temporalen Vorverständnis sucht man diesen Halt in einem Sich-Durchhaltenden.
Aber ist dieser Halt nicht ein Halt im Haltlosen? Und ist das sich Hängen an das ständig Entschwindende nicht illusionär? Heidegger verwendet diesen Begriff des Illusorischen nicht, er sagt statt dessen: „Indem der Mensch sich nur an das bloß Tägliche, an dies verschwindende Erscheinen des Entschwindenden hält, entschwindet er selbst in seinem Erscheinen, das ohne eigenes Leuchten ist: eines Schattens der Traum.“ (Heidegger 1982, S. 115) In den Erläuterungen zu Hölderlin formuliert Heidegger diesen Gedanken in einer anderen Terminologie, er spricht von Verblendung. Es heißt dort: Starren wir gebannt nur auf das Wirkliche, so entzieht sich uns „auf dem Grunde einer verblendeten Verlorenheit an das Wirkliche“ (Heidegger 1981, S. 112) das, was das Wirkliche allererst wirklich sein lässt. Starren ist im Gegensatz zum sein lassenden Augenblick wie er für Sein und Zeit zentral ist, ein Blicken, der das Erblickte festhält und in diesem Halten erstarren lässt. Er gibt nicht frei, ins Freie, um es darin sich zeigen zu lassen. An mehreren Stellen seines Werkes spricht Heidegger z.B. vom Glanz (Vgl. Thurnher 2008) auf den Dingen, der sich entzieht, wenn der Blick ein starrend-vergegenständlichender ist. Was aber lässt das Wirkliche wirklich sein? Das meint: Was ermöglicht dem Wirklichen sein Wirklich-sein, was ist sein Ermöglichungsgrund?
Das, was man die Seinsfrage nennen könnte, zeigt sich hier modalontologisch als Frage nach Möglichsein und Wirklichsein. Für das Verständnis des Träumens entscheidend ist nun der Hinweis: „Das Mögliche waltet im Wirklichen selbst. Ja, zuweilen ist sogar das Mögliche seiender als das Wirkliche.“ (Heidegger 1982, S. 118) Erfahrungsmäßig ist uns dies auch alltäglich, d.h. im Wachsein dort zugänglich, wo das Mögliche das Erhoffte, Ersehnte oder Gewünschte, d.h. das noch-nicht oder das nicht-mehr Wirkliche ist. Damit ist angedeutet, dass das Nichts, von dem auch alle Wirklichkeit getragen ist, nicht ausschließlich ein Nichts i.S. einer Negation, eines Mangels ist. Das Nichts kann auch ein Nichts der Fülle sein, erfahren aus der übergroßen strömenden Fülle des Möglichen, kann sich als ein gebendes Nichts zu erfahren geben. Man denke an das Nichts des Schweigens oder an das Nichts des Augenblicks, der Tiefes aufblitzen lässt. Heidegger bedenkt den Traum und seine spezifische Sprache im Horizont dieser modalontologischen Begrifflichkeit und verwendet vorsichtig, fast unscheinbar dieses Verständnis eines Nichts der Fülle: „Der Traum bringt die noch nicht angeeignete Fülle des Möglichen und bewahrt die verklärte Erinnerung an das Wirkliche.“ (Heidegger 1982, S. 121)
Im Nicht als einer Weise eines Abwesend-seins waltet deshalb ein Anwesen. Jetzt erst sehen wir das Entscheidende: „Auch die Abwesung als Abwesung dieses Entschwindens ist noch eine Anwesung. Der Bezug zu dieser bleibt das Entscheidende im Traum, nicht daß er ein bloßes Nichtiges ist.“ (Heidegger 1982, S. 117) Nicht in einer ontischen Beziehung, sondern in einem ontologischen Bezug von An- und Abwesen meldet sich das Entscheidende des Traums. In den Schwarzen Heften der Jahre 1957-59 wird dieser Gedanke in die Kurzformel gefasst: „Wohnen im Nichtwohnen: das Traumhafte.“ (Heidegger 2020, S. 41)
3. Der Traum und die Fundamentalontologie: Zur Ontologie des Traumes
Damit aber sind wir zurückverwiesen in Fragen der Fundamentalontologie. Sein und Zeit will ja trotz seiner anthropologisch relevanten Dimensionen keine Anthropologie sein, sondern die Frage nach dem Sein entwerfen. So wie Sein und Zeit daher z.B. in Hinblick auf die Frage einer Phänomenologie des Leibes manches aufzeigt und dennoch nur wenig über den Leib des Menschen sagt, so ist Träumen kein explizites Thema in Sein und Zeit. Der Traum ist hier, wo das Dasein in seiner ontologischen Struktur, seinen Existenzialien und seiner Temporalität entworfen wird, kein Thema, denn im Traum sind wir nicht da, sondern weg. Doch die Da-Seinsanalyse ist implizit auch eine Weg-Seinsanalyse: Unterschiedliche Weisen des Wegseins sind Thema von Sein und Zeit, am bekanntesten davon die Todesanalyse und die in Sein und Zeit angesprochenen vielfältigen Formen des Nichts. Damit wäre aber nicht aus-, sondern eingeschlossen, dass damit auch ein ontologisches Verständnis des Träumens mit vorbereitet wird.
Wenn Hansjörg Reck in der dritten seiner Thesen zum Traum (Reck 2020, S. 216), Boss zusammenfassend, Heideggers Bemerkung aufgreift, dass im Wachen und Träumen zwar eine unterschiedliche, aber eine je „eigene Weise der Anwesung“ (Heidegger 1982, S. 125) geschieht, so kann bzw. muss dieses ergänzende Zitat nun eigens bedacht werden: Könnte sich uns die je eigene Weise des Anwesens deutlicher enthüllen, wenn unser Bezug zum An- und Abwesen modalontologisch tiefer entfaltet wird? Abwesen ist nicht nichts, es geht uns an, denn im Entzug waltet ein Zug, der uns oftmals erst einen Bezug erahnen lässt. Abwesen kann deshalb als Quelle erfahren werden, die in ihrem Quellen in ein Gegenwärtigsein, d.h. Anwesen, freigibt. So kann z.B. Schweigen einen Raum eröffnen, in dem ein Gespräch erst ein uns berührendes wird. Die Quelle selbst aber „ist“ nur in ihrem Quellen und entzieht sich in eine Verborgenheit, verwehrt eine Vergegenständlichung. Mit dem „Es“ in der Formulierung des Boss’schen Traumbuches „Es träumte mir“ könnte das Verborgene der Quelle unseres Daseins benannt werden. Denn träumend tauchen wir gewissermaßen in den Quellbereich des Möglichen, wie es Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld formuliert: „Wir rühren im Schlaf und der ihm zugehörigen träumenden Existenz an die Geheimnistiefe menschlichen Daseins überhaupt.“ (Wucherer-Huldenfeld 2008, S. 83)
Während Wach-sein auch bedeutet, in eine Welt der Belanglosigkeiten und Bedeutungslosigkeiten zerstreut zu sein – so kann etwa ein in unserer Wachwelt begegnender Hund für unser Existieren völlig belanglos sein –, so existieren wir träumend hingegen in Bedeutungswelten. Zwar ist es der Vorzug unseres wachen Daseins, Bedeutungen als solche zu erkennen, doch träumend versammelt unser Dasein sich auf diese hin. In dieser Sammlung erschließen wir uns als Dasein unsere Wirklichkeit als Möglichkeit und Unmöglichkeit. Wenn Heidegger in Sein und Zeit sagt, dass Möglichkeit „höher als die Wirklichkeit“ (Heidegger 1977, S. 51 f.) ist, dann hieße Träumen, in die Tiefendimension von Wirklichkeit hinabzusteigen, sich selbst zu begegnen als einem Wesen, das durch Möglichkeiten ausgezeichnet und bestimmt ist.
Wachen, Schlafen und Träumen gehören zusammen. So sehr sie in temporaler Hinsicht durch Kontinuität und Diskontinuität unterschieden werden können, würde ihr Zusammengehören „als ein Ineinanderübergehen“ (Wucherer-Huldenfeld 2008, S. 83) ihre spezifisch zeitliche Weise als Modus unseres Daseins genauer zur Sprache bringen. Das zyklische Ineinanderübergehen kann als eine Bewegung des Aufgangs in die Unverborgenheit und des Rückgangs in die Geborgenheit von Schlafen und Träumen verstanden werden. In verwandelter Weise begegnet uns hier die fundamentalontologische Terminologie von Geworfenheit und Entwurf, die eben auch ein eigentümliches Ineinander von Seinsmöglichkeiten benennt. Wucherer-Huldenfeld hat dieses Ineinanderübergehen von Wachen und Schlafen, von Möglichkeit und Wirklichkeit mit einem Verstehen des Sich-zeitigens verbunden:
„Modalontologisch geht es im Dasein darum, dass wir uns für das entschiedene Gewesene (Notwendigkeiten) unseres In-der-Welt-seins offen halten, es in der gegenwärtigen Situation mit allen ihren Zufälligkeiten dem reinen Zukünftigen aussetzen; vollbringen, was wir vermögen; wirklich-werden-lassen, was uns möglich ist, d.h. (aktiv) zulassen, dass es ins Anwesen hervorgebracht wird, und zwar in der Auseinandersetzung mit dem, was nicht zugleich und in derselben Hinsicht anwesend und abwesend sein, sich ereignen und nicht ereignen, wirklich sein oder nicht wirklich sein kann.“ (Wucherer-Huldenfeld 2008, S. 86)
Auch hier wird sichtbar, was Boss so sehr betont: das Geheimnis von Identität bzw. Kontinuität. Dieses wird uns, wie wir bei Boss gesehen haben, im Erwachen in besonderer Weise zugänglich. Das Erwachen enthüllt, was Wachen ist: ein Sich-geschenkt-sein in Bezügen von Wirklichkeit und Notwendigkeit, von Möglichkeit und Unmöglichkeit, von Unwirklichkeit und Zufälligkeit: Wir sind ein geworfener Entwurf und sich je immer neu entwerfende Geworfenheit.
4. Von der fruchtbaren Wachheit: Der geträumte, der erinnerte, der erzählte und der gehörte Traum
Die Unmittelbarkeit des Träumens ist uns nur im Traumgeschehen selbst gegeben. Der geträumte Traum, wie er uns im Wachsein zugänglich ist, ist nicht nur ein schon geträumter und deshalb erinnerter Traum, er ist zumal ein erzählter Traum und, seitens der:des Therapeut:in, ein gehörter Traum. „Der“ Traum i.S. des vielfach vermittelten Traums ist deshalb in seinem Sichzeigen ein Moment eines hermeneutischen Zirkels, der die Vielfalt analog entfaltet. Wird unser Traum zur Sprache gebracht, so wird er ein anderer, zugleich aber kommt er in neuer Weise zu sich.3 Im Erzählen und Hören von Träumen finden Aneignungsprozesse statt, die sich wechselseitig erhellen aber auch verdunkeln können. Deshalb kann auch eine Irritation auftauchen: Ist der erzählte Traum überhaupt der geträumte Traum? Ist der gehörte Traum überhaupt der erzählte? Vielleicht erinnert sich mancher Patient während einer Traumerzählung an die eigentümliche Situation des Schmetterlingstraums: Erzähle ich den geträumten Traum oder erzählt der geträumte Traum mich bzw. von mir? Im Erzählen meiner Träume erzähle ich nicht bloß etwas, also nicht bloß einen erinnerten Traum, sondern ich erzähle immer auch mich selbst in analogen Formen.4
Wache ich oder träume ich? Je tiefer ich erzählend meine Traumwelt wiederholend vergegenwärtige, desto eher kann diese Frage sich melden. Sie weist darauf hin, was Boss am Schmetterlingstraum gesehen hat, dass Träumendsein und Wachsein nicht ontisch unterschieden werden können wie Apfel oder Birne: Diese Weisen zu sein sind eingebunden in ein Geschehen von Verborgenheit und Unverborgenheit, Sichöffnen und Sichverschliessen, augenblicklich-jähes Sehen einer Quelle und deren Entzug in eine bergend-verborgene Tiefe. Ein circulus vitiosus?
Sollen wir aus diesem zirkulären Geschehen flüchten und sollen Therapeut:innen Fluchthelfer sein? Oder kann das eigentümliche Hören der Therapeut:innen diesen Zirkel fruchtbar werden lassen? Was könnte die Frucht sein? Wenn der:die Therapeut:in ganz Ohr ist, lässt er Vorstellungen los, er ist dann präsent in einer Weise, wo Vergangenheit und Zukunft versammelt werden, Möglichkeiten und Wirklichkeiten, Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten in ein Freies gelangen so, dass der:die Patient:in sich selbst aus und als diesen Zirkel verstehen kann. Die eigentümliche Zeitdimension des:der Therapeut:in, dies, dass er jenseits aller gerechneten Zeit gegenwärtig ist, ist ein Verweilen, eine in bestimmter Weise gestimmte Weise des Daseins, die auch das Wegsein zulässt. Ist der erzählte Traum die Gabe des:der Patient:in, so ist dann die Auf-Gabe des:der Therapeut:in dies, hörend ganz Ohr zu sein, um so ganz Entscheidendes zuzulassen. Wenn Heidegger in seiner Sprache sagt: „Verweilen ereignet“ (Heidegger 2000, S. 175), so könnte das Heideggersche Ereignisdenken, hinübergesprochen in die Sprache der Therapie vielleicht so formuliert werden: Ganz Ohr zu sein weitet unser Dasein und öffnet sich nicht nur dem Anderen, sondern öffnet auch dem Anderen selbst einen Raum des Heilenden, des sich Bejahen-könnens, öffnet das Vermögen, sich zu mögen.
Wiederholender Rückblick auf den Schmetterlingstraum
Anfang des 19ten Jahrhunderts schuf der japanische Maler Hokusai einen Holzschnitt mit dem Titel: „Der chinesische Philosoph Sōshi betrachtet Schmetterlinge.“5 Er kann als eine spezifische Version und Deutung des überlieferten Schmetterlingstraums betrachtet werden:
Abbildung 1: Hokusai: Der chinesische Philosoph Sōshi betrachtet Schmetterlinge. (De Goncourt o. J., S. 89)
Was tut der Philosoph hier? Scheint er nicht eher nichts zu tun, denn etwas zu tun? Ein Nichts-Tun so, wie es hier gezeigt wird, muss eingeübt werden: Entscheidend ist – so sagt das Bild – das Sitzen, das Beiseitestellen der Schreibfeder, das Blicken, das Zurücknehmen der Neugierde, das Sich-enthalten eines Urteils, das Vergessen der Ästhetik, die Gebärde. Im Bild ist keine Intentionalität zu erkennen und statt eines Wollens nur ein reines Lassen, reine Gegenwart. In der Unmittelbarkeit der Versenkung weiß der Philosophierende nicht, ob er geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob umgekehrt der Schmetterling geträumt hat, dass er ein Philosophierender sei. Für die Philosophie, wie sie uns überliefert ist, ist das Begründen i.S. eines Fragens nach dem Warum, konstitutiv, aber auch noch die Frage nach dem Warum des Warum, wie sie etwa der Wiener Philosoph Fridolin Wiplinger reflektierte (Wiplinger 1962): Die ergründende Warum-Frage verdankt sich dem Fragwürdigen und sucht dieses ihr Verdanktsein noch einmal in ihre Warum-Frage zu integrieren, vielleicht sucht sie sich auch noch in ihr Woher zu versenken. Warum-fragend zeigt Philosophie so in ein Tieferes, Ermöglichendes, nicht mehr der Warumfrage Zugängliches und Fassbares, zeigt sie in ein Jenseits der Philosophie.
Philosophie kann, wenn sie glückt, in ein Ursprüngliches zeigen. Ohne diese Sammlung, die Versenkung in ihr Anderes, geriete Philosophie in den Sog eines Intellektualismus, d.h. in die Gefahr, sich in begrifflichen Konstruktionen zu erschöpfen. Aber ein Philosophieren, das im reinen Vernehmen vernehmend wäre, denkend das Gedachte versammelnd, muss nach der Destruktion und Dekonstruktion, die den Alltag und die Alltäglichkeit in eine Ursprünglichkeit hinein verlässt, wieder zurück in den Alltag: eine Rückkehr aus dem Ursprung, der selbst in eine Rückkehr gerufen hatte. Philosophie verbleibt nicht im Ursprung, lässt ihn gewissermaßen nur aufblitzen.
Und die Daseinsanalyse – tut sie etwas anderes oder sogar mehr als die Philosophie? Für die Daseinsanalyse als Therapie ist konstitutiv, dass sie Leidenden diesen Ein-Blick in das, was ist, ermöglicht, indem sie ein Geschehen des Sich-öffnens zulässt. Ihr Verstehen ist daher implizit immer schon ein Verstehen in Hinblick auf Andere, ein für-sorgendes Verstehen, d.h. eine fürsorgende Hermeneutik bzw. Hermeneutik der Fürsorge, die den Anderen immer schon im Blick der Sorge hat. Und für die Daseinsanalyse und ihre Traumanalysen hieße das, dass sie in dem Maß als sie phänomenologisch orientiert ist und Träume in ihrer Abgründigkeit gegenwärtig sein lässt, auch hermeneutisch denkt, d.h. den anderen hört und in dem Maß als sie hermeneutisch orientiert ist, phänomenologisch denkt, und dies meint nun: Insofern sie den Anderen zu verstehen sucht, tritt sie vor dem erzählten Traum so weit zurück, lässt sie ihn so weit deutungslos, dass er für die Patient:innen sprechend werden kann, so dass der:die Patient:in erfährt: Es ist mein Traum, der mir etwas sagt, und es ist mein Traum, der aus der unergründlichen Tiefe meiner selbst mich zu mir selbst ruft. Die Frucht dieses zirkulären hermeneutisch-phänomenologischen Denkens für die Patient:innen könnte sein, dass er die Weite und Tiefe seines Existierens vernimmt und vielleicht sogar dankend bejahen kann, d.h. dass ihm ein Zeit-Raum eingeräumt wird, um sich selbst in seiner Möglichkeit neu zu verstehen.
1 So etwa Konstantin Gemenetzis in seinem Vortrag Nachklänge des „Schmetterlingstraums“ (2008) oder Hansjörg Reck (2020, S. 208). Offenbar sagt dieser Traum DaseinsanalytikerInnen sehr viel – könnte es sein, dass dieser Traum auch sehr viel über die Daseinsanalyse sagt?
2 Boss (1953, S. 237). Wenn Gemenetzis schreibt, dass Boss kein Gespür für das Geheimnis hat (Gemenetzis 2016, S. 146), so ist diese Kritik daher nicht recht nachvollziehbar.
3 In unserem Alltag findet sich Vergleichbares: so entfaltet sich etwa die Begegnungsgeschichte zweier Menschen wohl ganz anders, wenn diese Beziehung, etwa ihre Liebe, ausgesprochen wird oder aber nicht. Die zur Sprache gebrachte Beziehungsgeschichte ändert sie in Hinblick auf ihre Möglichkeiten und Wirklichkeiten.
4 Dieter Thomä hat in seinem Buch Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem (1998) aufgezeigt, wie alles Erzählen von einem Etwas, das in unserem Leben geschehen ist, mehr als ein Informieren, sondern ein Erzählen von sich ist, denn in dem Erzählten bin ich selbst gegenwärtig.
5 Zur Interpretation vgl. Gemenetzis (2008).
Literaturverzeichnis
Baier, Karl (2009): „Probleme der Ontologie des Traums bei Medard Boss.“ In: Daseinsanalyse 25 (2009), S. 141-149.
Boss, Medard (1976): Indienfahrt eines Psychiaters. Dritte Auflage. Bern: Hans Huber.
Boss, Medard (1989): „Woraus besteht der Mensch, wenn er träumt, und wo ist er dann?“ In: Daseinsanalyse 6 (1989), S. 149-160.
Boss, Medard (1953): Der Traum und seine Auslegung. Bern: Hans Huber.
Boss, Medard (1975): „Es träumte mir vergangene Nacht, ...“ Sehübungen im Bereiche des Träumens und Beispiele für die praktische Anwendung eines neuen Traumverständnisses. Bern: Hans Huber.
Gemenetzis, Konstantin (2008): „Nachklänge des ‚Schmetterlingstraums’.“ In: Daseinsanalyse 24 (2008), S. 150-160.
Gemenetzis, Konstantin (2016): „Traum-Erkundungen.“ In: HORIZON. Studies in Phenomenology 5,2 (2016), S. 142-174.
Goncourt, Edmond de (o.J.): Hokusai. New York: Hokusai Parkstone Press International.
Heidegger, Martin (1977): Sein und Zeit. GA 2. Frankfurt/M.: Klostermann.
Heidegger, Martin (1981): Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. GA 4. Frankfurt/M.: Klostermann.
Heidegger, Martin (1982): Hölderlins Hymne „Andenken“. GA 52, Frankfurt/M.: Klostermann.
Heidegger, Martin (2000): Vorträge und Aufsätze. GA 7, Frankfurt/M.: Klostermann.
Heidegger, Martin (2006): Zollikoner Seminare. Protokolle – Zwiegespräche – Briefe. Dritte Auflage. Frankfurt/M.: Klostermann.
Heidegger, Martin (2014): Überlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931-1938). GA 94. Frankfurt/M.: Klostermann.
Heidegger, Martin (2020): Winke I und II (Schwarze Hefte 1957-1959). GA 101. Frankfurt/M.: Klostermann.
Jaenicke, Ute (1992): „Die Bedeutung der Traumauslegung in der Psychotherapie.“ In: Daseinsanalyse 9 (1992), S. 189-195.
Reck, Hansjörg (2020): Sehen- und Hörenlassen, was ist. Der phänomenologisch-hermeneutische Ansatz in der Psychotherapie. Berlin: LIT.
Thomä, Dieter (1998): Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem. München: C. H. Beck.
Thurnher, Rainer (2008): „Der Glanz auf den Dingen.“ In: Heideggers Beiträge zur Philosophie. Internationales Kolloquium 20.-22. Mai 2004 an der Universität Lausanne. Hg. v. Emmanuel Mejía und Ingeborg Schüßler. Frankfurt/M.: Klostermann, S. 315-325.
Vorlaufer, Johannes (2012): „Was gibt Es da zu träumen – was gibt Es da zu denken? Eine Einführung in die Daseinsanalyse am Paradigma des Traumes und seiner Auslegung bei Medard Boss.“ In: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 28 (2012), S. 5-26.
Vorlaufer, Johannes (2014): „‚Träume sind das Schwere, Gewichtige, Kostbare und deshalb das kaum zu Meisternde.‘ Traum und Träumen bei Martin Heidegger.“ In: Daseinsanalyse. Jahrbuch für phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie 30 (2014), S. 77-98.
Wiplinger, Fridolin: „Warum das Warum? Die ursprüngliche Frage und der Ursprung der Vernunft.“ In: Wort und Wahrheit 17 (1962), S. 335-356.
Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl (2008): „Fragen um den Beginn des Träumens.“ In: Daseinsanalyse 24 (2008), S. 66-88.
Zhuāngzǐ (1972): Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Übers. von Richard Wilhelm. Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Edmond de Goncourt (o.J.): Hokusai. New York: Hokusai Parkstone Press International, S. 89.
Autor:in: Prof. (FH) Mag. Dr. Johannes Vorlaufer studierte Philosophie, Psychologie, Politikwissenschaft und Theologie in Wien und München, er promovierte 1986. Derzeit ist er Lehrender an der FH Campus Wien, zuvor am Institut für Philosophie der Universität Wien und in Einrichtungen der Erwachsenenbildung.