Von einer Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft

Delaram Habibi-Kohlen

Y – Z Atop Denk 2024, 4(7), 3.

Originalarbeit

Abstract: Die Hoffnung, die sich auftat beim Beginn der Fridays-for-Future-Bewegung, hat sich deutlich abgeschwächt, stattdessen ist ein Rückbau der Klimaschutzmaßnahmen zu beobachten und im Zusammenhang mit einer gesellschaftlich-politischen Bewegung nach rechts, schwindet die Hoffnung auf rechtzeitige Transformationen zur Eindämmung der Klimakrise noch weiter. Der Text stellt die Wichtigkeit einer Verbindung zwischen individuellem und politischem Handeln heraus und beschreibt schließlich ein Paradox von Hoffnung, die dann realistisch wird und zum Handeln führt, wenn sie die Hoffnung auf ein Weiterbestehen des bisher selbstverständlich Geglaubten aufgibt.

Keywords: Radikale Hoffnung, Entfremdung, Klimakatastrophe, Individuum und Gesellschaft

Copyright: Delaram Habibi-Kohlen | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.07.2024

Artikel als Download: pdfWas lässt uns hoffen?

 

1. Einführung

Die Treibhausgase sind in den letzten zehn Jahren trotz aller Bemühungen global angestiegen mit der Folge einer Erwärmung um 1,3 Grad seit 1880. Abhängig vom je durchgespielten Szenario in Bezug auf die Emissionen beträgt das Ausmaß der Erwärmung seit der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des 21. Jahrhunderts 1,5 bis 5,7 Grad.1 In neueren Erhebungen zur Verlangsamung der Atlantischen Umwälzzirkulation (AMOC), von der unser Golfstrom ein Teil ist, und der schnelleren Annäherung dieses Systems an einen möglichen Kipppunkt ist die Rede von befürchteten dauerhaften Kälteeinbrüchen in Nordeuropa bis zu -40 Grad im Winter bei gleichzeitiger weiterer Erhitzung im globalen Süden (Rahmstorf 2024).

Zugleich erfährt die aktuelle Klimabesorgnis wie auch die Maßnahmen zur Eindämmung der Treibhausgase einen Backlash. Und wie immer fragt man sich: Wie kann man das verstehen?

Die Eurobarometer-Umfrage zur Haltung der Menschen in der EU kommt zum Ergebnis, dass Europäer:innen im Jahr 2019 Fragen zum Klimaschutz als zweitwichtigstes Thema erachteten, im Jahre 2024 jedoch nur noch als fünftwichtigstes sehen. Am wichtigsten ist den Menschen nun Armutsbekämpfung, Gesundheit, ökonomische Fragen und Jobsicherheit sowie die Verteidigungsfähigkeit Europas und die Sicherheit (Germanwatch 2024).

Das Gebäudeenergiegesetz hat gezeigt, dass die Angst vor eigenen wirtschaftlichen Einbußen, trotz der Planung einer Kompensationszahlung an die bedürftigeren Menschen, sogar zu kontraproduktiven Handlungen wie dem schnellen Neueinbau einer Gastherme führte.

Der vorliegende Text versucht, das nachlassende Gefühl der Wichtigkeit der Klimatransformationen sowohl individuell als auch politisch nicht schnellschlüssig als ein egozentristisches Handeln des Menschen zu verstehen, welches eintritt, sobald die eigene wirtschaftliche Situation gefährdet ist. Vielmehr soll das Thema in einen größeren Kontext von Individualisierung und Entfremdung eingebunden werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Zusammenhang von individuellem und politischem Handeln, der im gegenwärtigen Diskurs leider häufig zu eng geführt und isoliert voneinander gesetzt wird: Das individuelle Handeln wird dabei entweder angemahnt als die Verantwortung der Einzelnen, die diesen alleinig auf die Schultern gelegt wird, oder umgekehrt wird das kollektive politische Handeln als alleinig wirkmächtig angesehen. In diesem Fall wird die Mahnung zum individuellen Verzicht als Abwälzung der Verantwortung von Politik und Wirtschaft betrachtet. Die Autorin argumentiert, dass beide Haltungen im Absoluten fehlschlagen, da sie die Interdependenz von individuellem und politischem Handeln verkennen.

 

2. Immer dieselbe Frage: Warum tun wir nichts, obwohl wir wissen?

Die Klimakrise ist global und lokal völlig unterschiedlich in ihren Auswirkungen. Für die Einzelnen sieht dies so aus, als gäbe es überhaupt keine Regelhaftigkeit mehr. Im Alltag beschweren sich die Menschen, dass der Sommer unzuverlässig geworden ist: Mal ist es kalt, mal ist es unerträglich heiß, mal schüttet es wie aus Eimern, und in manchen Regionen innerhalb Deutschlands fällt wochenlang kein Tropfen Regen. Für die Bürger:innen, die seit dem 2. Weltkrieg gewohnt sind, dass das Leben angenehm ist, es immer voran geht, die Wirtschaft wächst, die Zukunftsaussichten immer besser werden, Arbeitsplätze sicherer, auch dass die Einkommen wachsen (jedenfalls bis vor einigen Jahren), ist diese Zeit der Polykrisen extrem bedrohlich. Eine neue Biedermeier-Zeit scheint anzubrechen mit einem grundsätzlichen Rückzug ins Private und Abgeschottete, wo die gefährliche Welt draußen bleiben soll. Dies geht einher mit Gefühlen von Ohnmacht, Resignation, sowieso nichts ausrichten zu können, und mit Zweifel an der Demokratie, die in ihrer Gesetzgebung, aber erst recht in ihrem Schneckentempo der bürokratischen und verwaltungstechnischen Umsetzung zu langsam sei. Wer sich nicht zurückzieht, wird laut und fordert schnelle und einfache Lösungen, was die Gesellschaft weiter spaltet.

Beide Haltungen zeugen von einem Wunschdenken, das seinen Ursprung im magischen Denken findet. Die einen wünschen sich einen friedlichen und ungestörten Ort, an dem am besten alles so bleiben soll, wie es ist. Veränderungen erscheinen hier bedrohlich, weil sich die Ahnung breit macht, dass die Zukunft keine Besserungen mehr bereithalten wird. Bezeichnend für diese Haltung ist der Satz: „Ich gucke (und höre) mir gar keine Nachrichten mehr an“. Die anderen steigern sich hinein in die Suche nach den Sündenböcken, fordern eine Exklusion der Störenden und suchen das Heil in einer Nation, die sich der Abhängigkeiten, die die Globalisierung mit sich bringt, entledigen will. Sie nehmen den Rechtsextremismus, der hier im Schlepptau hängt, entweder als kleineres Übel in Kauf oder befürworten ihn sogar aktiv. Natürlich kennzeichnen beide Positionen zwei Pole, und es gibt viele Zwischentöne. Gemeinsam ist ihnen jedoch eine gewisse Kurzschlüssigkeit, mit der die heutigen Kompliziertheiten und Abhängigkeiten im Leben verleugnet werden sollen. Diese Entwicklung hat den Aufschwung einer postfaktischen Lebenspraxis zu Folge, die von den (a)sozialen Medien befeuert wird, in denen der Hass, der die schnelle und kurzfristig befriedigende Zerstörung des Störenden propagiert, ein Wesensmerkmal des omnipotenten Wunschdenkens ist.

Dieses Wunschdenken entspricht einer Phase der menschlichen Entwicklung zwischen der Omnipotenz des kleinen und zutiefst von seinen Primärobjekten abhängigen Kindes und seinem allmählichen Anerkennen von Realität. Zum letzteren gehört die unangenehme Wahrheit, dass Mutter und Vater wie auch das Kind selbst gute und schlechte Eigenschaften haben. Das bedeutet, dass das frühe intrauterine Paradies sich allmählich als nicht dauerhaft, störanfällig und anstrengend erweist. Es wird zu einer Illusion, ohne dass diese Einsichten aber zu einem dauerhaften Zusammenbruch führen. Bei einer optimalen Entwicklung kann das unperfekte Leben ausgehalten werden: Mit Humor und Toleranz, man kann dann Grenzen ziehen und ist fähig zu Fürsorge und Neugier, zu einem zunehmenden Bewusstwerden des eigenen schmerzlichen Nicht-Könnens und der eigenen Abhängigkeit, die aber ertragen wird.

In einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft jedoch, in der es über Jahrzehnte unmerklich zu einer Verschiebung der Baseline gekommen ist, was ethische Werte und die Wichtigkeit von Gemeinwohl betrifft, und in der das Konsumieren zu einer Art Menschenrecht herangewachsen ist, hat das Wunschdenken wieder mehr Macht gewonnen: Grenzenlosigkeit im Wünschen, das aber nicht mehr weiß, dass Wünschen auch die Möglichkeit zur Nichterfüllung mit einschließt, kreiert Fetische, die versprechen, dass nichts mehr unmöglich ist. In den letzten Jahren ist dies durch die sozialen Medien und die stetig anwachsende Flut von Influencer:innen derart verbreitet worden, dass es schwer geworden ist, sich davor zu retten. Der britische Psychoanalytiker David Bell sprach von der:

„immer weiter zunehmenden Kommerzialisierung der Welt, die […] tief in die Psychologie der Person hinein [reicht] – sie schreibt die Persönlichkeit, das psychologische Leben, die moralische und ethische Verantwortung um. […] Diese zunehmende Durchdringung der Marktform in unser gelebtes Leben, die Verwandlungen menschlicher Aktivitäten und menschlichen Innenlebens in Waren, wird so allgegenwärtig, so natürlich, dass wir aufhören, sie wahrzunehmen“ (Bell 2019, S. 81).

Hinzu kommt, dass es sich dabei um ein Begehren handelt, das von der Steigerungsmaximierung lebt, und das kaum noch einen Triebaufschub duldet und deshalb auch keine Ausdauer hat. Eine solche Kurzlebigkeit und – so ist hinzuzufügen – Austauschbarkeit in Bezug auf das Objektziel hat aber weitreichende Konsequenzen in Bezug auf die Funktion der Realitätskontrolle. Fakten, die dem grenzenlosen Wunsch widersprechen, werden in einer primärprozesshaften Verfassung negiert, verdreht, schöngeredet, ausgeblendet und verleugnet. In erschreckender Weise wurde und wird uns dies vorgeführt in der Rede von der „gestohlenen Wahl“ Trumps, aber auch die Verschiebung politischer Haltungen nach rechts, die immer mehr in die Mitte der Gesellschaften in Europa rücken, verweist darauf. Es handelt sich um die Abwehr einer schwer erträglichen, extrem komplexen Realität und – in Bezug auf die Klimakrise – womöglich nicht mehr aufzuhaltenden Katastrophe.

 

3. Omnipotenz und die Illusion von Allverfügbarkeit

Die Omnipotenz ist hierbei ein wirksamer Bestandteil der Abwehr von schwer erträglicher Abhängigkeit. Wir sind abhängig von der Erde, von Wasser und Luft und einer ausbalancierten Wärme, aber wir können diese Abhängigkeit erst mit deren Abwesenheit oder deren Übermaß tatsächlich fühlen. Ansonsten erscheinen uns diese Elemente selbstverständlich verfügbar, und wir wissen nichts mehr von ökologischen Kreisläufen und Interdependenzen, jedenfalls als von der Natur überwiegend entfremdete und in immer urbaneren Gegenden aufgewachsene Subjekte.

Diese Omnipotenz verschärft sich noch mit der fortschreitenden Digitalisierung, die uns mit einfachen Clicks immer mehr (illusionäre) Verfügbarkeit präsentiert (vgl. Rosa 2020).

Zugleich – und dies ist die Kehrseite der Verfügbarkeit – klafft hier eine deutliche Leere in Bezug auf die wichtigen Lebensfragen. Anderson (1998, S. 51) sagt dazu: „Niemals in einer früheren Zivilisation schienen die großen metaphysischen Fragen vom Sein und vom Sinn des Lebens derart bedeutungslos zu sein.“.

 

4. Klimakatastrophe und das spaltende Ich

Sieht man die Klimakatastrophe als die wichtigste Priorität dieses Jahrhunderts an, die es zu bewältigen gilt im Sinne einer Bekämpfung ihrer Ursachen (Treibhausgasemissionen), einer Mitigation und einer Anpassung an das, was nicht mehr aufzuhalten ist, und akzeptiert man, dass für diese Maßnahmen auch eine Veränderung des Bewusstseins der Menschen nötig ist, so muss man konstatieren, dass es hier eine rasante Entwicklung in divergierende Richtungen gibt. Mit dem Aufkommen der Fridays-for-Future-Bewegung schien die Zeit reif für Transformationen. In der Corona-Zeit und erst recht mit dem Ukraine-Krieg erfuhr dies jedoch einen Rückschlag und die Fakes herstellenden Think Tanks wurden mächtiger, auch mit dem Aufkommen neuer sozialer Medien wie TikTok.

Während sich die Wetterextreme mehren und immer öfter die Rede davon ist, dass die 1,5 Grad-Grenze nicht mehr einhaltbar sein wird (Ossing 2022), scheint die Hoffnung bei vielen Menschen zu schwinden, dass sich die Katastrophe in einem noch erträglichen Maß halten könnte. Dies hat unterschiedlichste Folgen: Es zeigt sich ein zunehmender Eskapismus (s. o., keine Nachrichten mehr hören, lesen oder sehen wollen; Rückzug ins Private), es zeigt sich auch ein zunehmender apokalyptischer Sog mit Auswüchsen wie der „Prepper-Szene“, die in sich allerdings sehr   ist. In dieser Szene geht es darum, sich auf den Weltuntergang vorzubereiten durch Anhäufung von Vorräten, Übungen in Selbstverteidigung, Selbstversorgung – und in rechtsextremen Kreisen auch mit der Anschaffung von Waffen für den kommenden Kampf ums Überleben (Luy 2022). Das Anwachsen der Hoffnung, eine rechtsgerichtete Regierung könne für mehr Schutz sorgen, was im Moment in vielen europäischen Ländern zu beobachten ist, zeugt vom Wunsch nach Sicherheit, Zugehörigkeit zu einer homogenen Gruppe und nach einem Wir-Gefühl, sowie von der Illusion, das Bedrohliche könnte gebannt werden, wenn man es exkludiert, verfolgt und aus dem Weg räumt. Ohne Zweifel sind dies Kennzeichen einer immer paranoider werdenden Welt.

 

5. Warten auf Godot?

Das Gros der europäischen Bevölkerung ist sich darüber einig, dass gegen den Klimawandel, wie er immer noch bei der Mehrzahl der Menschen heißt, „etwas getan werden muss“. Es ist sich aber zutiefst uneins darüber, was getan werden muss (ein Zwiespalt, der in Deutschland recht gut durch die Ampel-Regierung repräsentiert wird). In der Sendung „Wie klimafreundlich bist du?“ (NDR, 15.07.24, 22.45 Uhr) wurden z.B. sechs Menschen dazu befragt, was sie dazu bewegen müsste, sich klimafreundlicher zu verhalten in Bezug auf Fliegen, Fleisch essen, Autofahren usw. Dabei wurde deutlich, als wie selbstverständlich eingeschrieben das Recht auf umweltschädliches Verhalten gilt, und dass Menschen sich nur dann eine Verhaltensänderung vorstellen können, wenn sie eine Art Belohnung dafür erhalten würden. Ebenso wichtig scheint es zu sein, dass man selbst auf nichts verzichten will, was der Nachbar weiterhin für sich beansprucht. Eine intrinsische Befriedigung, z.B. das Auto stehen zu lassen, ist für einige vorstellbar, aber nicht selbstverständlich, was auch mit den infrastrukturellen Voraussetzungen (Stadt/Land) begründet wird.

Natürlich reicht eine Veränderung des individuellen Handelns nicht aus, um die Klimakatastrophe auch nur annähernd zu bremsen. Und es stimmt, dass der CO2-Fußabdruck von British Petroleum (BP) kreiert worden ist, um die ethische Verantwortung der fossilen Industrie auf den Einzelnen abzuwälzen. Aber was stimmt dann nicht an dem Ruf nach einer Politik, die Gesetze beschließen soll, die dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24.03.2021 entsprechen würden? Eine solche Gesetzgebung würde die Landwirtschaft, den Bausektor, die Energiewirtschaft, die Industrie, den Verkehr und die Mobilität, die Abfallwirtschaft und vieles mehr betreffen.

Psychodynamisch betrachtet, geht es hier um eine Verschiebung der Verantwortung. Es geht um eine Abspaltung im Sinne eines „turning a blind eye“, wenn der Ruf nach der Politik alternativlos gesetzt wird, ohne sich selbst als handelndes Subjekt miteinzubeziehen. Häufig nutzen Menschen diesen Ruf als eine Möglichkeit, selbst im Windschatten dessen, dass ja noch nichts geschieht, weiter von der Externalisierung der Klimakosten zu profitieren, z. B. von der Externalisierung in andere Länder, in die Atmosphäre, in die zukünftigen Generationen. Für diese recht stabile Abwehrkonstellation wird eine Rationalisierung mit dem wahren Kern, dass es zunächst einmal der Gesetze bedarf, zu Hilfe genommen. Unter dem Deckmantel des Wartens auf solche Gesetze kann jedoch alles weiterlaufen wie bisher. Die Verantwortung der Einzelnen wird hier abgewälzt auf das große Ganze. Und die Einzelnen warten dann auf eine Veränderung von oben. Umgekehrt verweisen Politiker:innen gern auf den Willen des Souverän, der z. B. kein Tempolimit wolle, so Verkehrsminister Wissing (Spiegel online 03.04.2024), obwohl 62 % der bundesdeutschen Bürger:innen eher für die Einführung eines solchen Limits sind sind (Impey 05.07.2024). Damit wird die Verantwortung wiederum auf die Einzelnen abgewälzt, und es wird so getan, als sei man als Politiker:in lediglich Erfüllungsgehilfe der souveränen Bürgerschaft.

Was es also zu beschreiben gilt, ist eine Kluft zwischen der kognitiven Einsicht in die Transformationsnotwendigkeit einerseits und der Beziehung der Einzelnen zur Natur, aber auch zu zukünftigen Generationen. Unglücklicherweise ist diese Beziehung gekennzeichnet von Entfremdung und jahrzehntelang eingeübter Isolierung und Individualisierung. Man könnte auch sagen: Man ist nicht (mehr) selbstverständlich politisch, die Zuständigkeit für die Gesellschaft, in der wir leben, wird von den meisten Menschen nicht mehr gefühlt. 

 

6. Zum gefühlten Zusammenhang zwischen Individuellem und Politischem

Was hier den Unterschied ausmacht, habe ich am eigenen Leib an einer Kleinigkeit erlebt:

In der Pandemie hatte ich gelesen, dass man die Befestigungsgummis der Masken beim Wegwerfen abtrennen soll, weil sich sonst die Vögel auf den Müllbergen darin verheddern bis hin zur Strangulation. Diese Vorstellung erschreckte mich und führte mir vor Augen, dass mein Müll weiterexistiert auf diesen Bergen, dass er etwas macht: Er ist also nicht konsequenzenlos. Seit der Erfindung des Wasserklosetts sind wir daran gewöhnt, dass unser „Müll“, also das Unverdauliche definitiv verschwindet, sobald er das Haus verlässt. Wir haben damit nichts mehr zu tun. Er ist weg. Natürlich wissen wir, dass dem nicht so ist, aber diese Tatsache wird nicht gefühlt. Stellt man sich hingegen vor, dass der Müll weiter existiert, und dass es der eigene Müll ist, für den man im Grunde Verantwortung trägt, drängt sich damit auch die Vorstellung von riesigen Müllhalden auf. Es stellt sich ein Gefühl dafür ein, wieviel diese Gesellschaft an Müll produziert, konkret wie symbolisch – und, dass dieser Müll gewissermaßen für den Tod von Lebewesen verantwortlich ist. Man könnte sagen, dass sich damit der Blick weitet, und dass der Mensch sich mit anderen Menschen verbindet (und mit den Tieren, also mit der Natur, in die wir eingebunden sind). Und dass wir alle zusammen die Verantwortung für den gemeinsam produzierten Müll tragen (inklusive der CO2-Emissionen) und – etwas weitergedacht – für den Umgang mit den Ressourcen dieser Erde und den Mitgeschöpfen. Dies kann bei manchen Leuten zu einer Art Schock führen, d. h.  auch zu einem veränderten Bewusstsein – aber in jedem Fall verbindet es das eigene Konsumverhalten indirekt oder – je nachdem, auch unmittelbar – mit den strukturellen Bedingungen, aus denen dieses Konsumverhalten entspringt.

Die Frankfurter Schule und hier insbesondere Adorno (1966) hat die Trennung zwischen dem biographischen Gewordensein des Individuums von den Strukturen der Gruppe und Großgruppe, in denen es sozialisiert wurde, pointiert kritisiert. Adorno geht ferner auch davon aus, dass Psychotherapie immer politisch sei, insofern als das zu behandelnde Individuum eingebettet ist in ein System, in dem soziale wie auch politische Strukturen maßgeblich sind und das Individuum tiefgreifend prägen:

„Freud, der [...] schließlich die Soziologie als angewandte Psychologie verstanden wissen wollte, ist paradoxerweise in den innersten psychologischen Zellen auf Gesellschaftliches wie das Inzestverbot, die Verinnerlichung der Vaterimago und primitiver Hordenformen gestoßen. Wer Psychologie und Soziologie starr auseinanderhält, eliminiert wesentliche Interessen beider Disziplinen: das der Soziologie an ihrem wie immer auch vermittelten Rückbezug auf lebendige Menschen, das der Psychologie an dem gesellschaftlichen Moment noch ihrer monadologischen Kategorien.“. (Adorno 2015, S. 88)

 

7. Entfremdung

Dass wir uns von der Natur entfremdet haben, hängt mit den Entwicklungen seit der industriellen Revolution zusammen, und es ist müßig, diese Entfremdung im Allgemeinen zu beklagen, da sie dem Menschen inhärent, ja auch eine Fähigkeit ist, sich selbst fremd zu werden, d. h. sich selbst reflektieren zu können. Ideengeschichtlich bedeutet diese Entfremdung zum einen, eine Entfernung von Gott zu erleiden, später auch von den Mitmenschen, von sich selbst, von der Natur. Aber sie bedeutet auch das Gegenteil: Das Fremdwerden aufzulösen, sich zu ent-fremden. Ein solches Ent-fremden, d. h. die Herstellung einer Verbindung findet in dem o. g. Müllbeispiel statt. Es will sagen, dass die gesellschaftlich gewordene Struktur des zunehmenden Individualismus, des alles kommodifizierenden Kapitalismus zunächst einmal als gemacht und nicht gegeben ist. Welzer (2011) spricht davon, dass diese durch den Kapitalismus geprägten gesellschaftlichen Strukturen als unbewusste, tief verankerte Haltungen ins Individuum hineinwandern, die man selbst dann für „normal“ hält. Er nennt sie „mentale Infrastruktur“. Kann diese „Infrastruktur“ des Geistes wahrgenommen werden, bedeutet dies bereits eine kleine Distanzierung, da sie bewusst geworden ist.

Aber dies kann sehr schmerzhaft sein und bis zu dem Gefühl führen, in einer verrückten Welt zu leben, in der man sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass es die Regierung gut mit einem meint. Die Studie von Hickman et al. (2021) verweist darauf: Hier wurden 10.000 Jugendliche aus 42 Ländern zur Klimakrise befragt, im globalen Norden wie Süden. Etwa 60 % der Befragten erlebten sich als sehr oder extrem besorgt über den Klimawandel, 45 % fühlten sich davon in ihrem Alltag beeinträchtigt (die meisten aus dem globalen Süden mit Ausnahme von Portugal, das die höchste Besorgnisrate verzeichnete, wohl weil im Jahr der Befragung extreme Waldbrände aufgetreten waren). 77 % der Jugendlichen erlebten die Zukunft als beängstigend, etwa 60 % erlebten sich als verraten, im Stich gelassen, belogen von der Regierung, und 39 % erwogen, keine Kinder zu bekommen.

 

8. Das Paradoxale der Hoffnung

Wie könnte also eine Hoffnung aussehen, die die individuelle Begrenzung des privaten Raumes überschreitet, d. h. die sich mit dem Draußen verbindet? Eine solche Hoffnung zu denken, ist nicht einfach. Denn wir sind in den mentalen Infrastrukturen oft sehr gefangen. Sich etwas anderes vorzustellen als die Welt, in der man lebt und die doch wie selbstverständlich erscheint, erfordert auch eine Konfrontation mit der Angst und eine Infragestellung der gewohnten Denk- und Handlungsmuster. Wir brauchen eine „nicht hoffnungsleere Hoffnungslosigkeit“ (Schneider et al. 2005), die es uns ermöglicht, die Realität zu sehen, ohne von der Hoffnungslosigkeit überwältigt zu werden, und die es wagt, alte Muster infrage zu stellen. Wenn die Trägheit in Bezug zur Klimakrise im politischen wie auch individuellen Handeln aus einer Resignation stammt, nämlich dass wir als Individuen nichts ausrichten können, brauchen wir eine Hoffnung, dass wir gemeinsam etwas ausrichten können. Nach jahrzehntelanger Individualisierung (Beck u. Beck-Gernsheim 1994), in der wir uns von Formen des gemeinsamen Handelns entwöhnt haben, wird diese Trägheit erklärbar als Abwehr, die im gewohnten Weiter-So der Versorgung verbleiben will bzw. sich ohnmächtig fühlt und nicht weiß, wo man anfangen soll oder sich davor schämt, aus der individualisierten Zelle herauszutreten und sichtbar zu werden.

Kehren wir zurück zu den Müllbergen und den sich strangulierenden Vögeln: Was hier zum Handeln zwingt, ist ein Entsetzen über die Konsequenzen des eigenen Unterlassens. Hier liegt die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft. Es hilft schon, sich das Emotionale gegenseitig mitzuteilen und nicht ins Wohnzimmer zu verbannen. Indem die Einzelnen etwas tun, können sie Gedanken und Gefühle multiplizieren, die politisch etwas verändern. Indem die Politik Gesetze erlässt, die etwas verändern und regulieren, verändert dieser Akt die Einzelnen, d. h. ihr Bewusstsein und Handeln, und er schafft neue mentale Infrastrukturen. Letzten Endes geht es um einen Prozess der Selbstermächtigung, in dem man im gegenseitigen Austausch lernt, sich zuständig, kompetent und erwachsen zu fühlen – mitsamt dem eigenen imperfekten Noch-nicht-Können-und-Wissen.

Aber: Eine realitätsgerechte Hoffnung, die eben nicht manisch ist, muss wohl einen Teil Ohnmacht aushalten können, um nicht naiv zu sein. Dafür muss diese Hoffnung paradoxerweise ausreichend hoffnungsarm sein, d. h. sie muss mit dem Bewusstsein gespeist sein, dass wir einerseits tatsächlich einen Strukturwandel und etwas Großes brauchen, wenn wir den Kindern eine Zukunft erhalten wollen. Andererseits muss sie damit leben, dass dies nur sehr langsam geht, und sie muss die Erfolge, die bereits erzielt worden sind (und das sind nicht wenige, siehe zuletzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des Klimaschutzgesetzes) wertschätzen können. Sie muss auch mit der Realität leben können, dass die Ökosysteme nicht so stabil bleiben, wie sie einst waren – was bereits jetzt mit den Extremwetterereignissen spürbar ist. Ebenso muss die Realität ertragen werden, dass es wahrscheinlich noch einige gesellschaftliche Verwerfungen geben wird. Diese Hoffnung muss auch anerkennen, dass es verordnete Verzichtsleistungen geben wird, wie z. B. Einschränkungen der Gartenbewässerung im Sommer, um nur die kleinste zu nennen, und dass der befürchtete gesellschaftliche „Niedergang“ (im Sinne der Verzichtsleistungen) nicht plötzlich und absolut, sondern schrittweise passieren wird. Das bisherige Empören gegen Verzichtsaufrufe geht immer noch davon aus, dass die bisherige Verfügbarkeit von allem weiterhin gegeben sein wird. Möglicherweise kann sich eine realistische Hoffnung nur dann einstellen, wenn sie zugleich eine unrealistische, gleichsam manische Hoffnung loslässt und beerdigt, nämlich die, dass das Leben ohne großen Schaden einfach so weitergehen wird.

Dabei gilt es auch, zu trauern über das nicht rechtzeitige Gehandelt-Haben und über das, was die Menschheit an Ökosystemen, an Leben, an Biodiversität verlieren wird/bereits schon verloren hat. Wenn wir uns klarmachen, dass es jedes Jahr eine Flut geben wird (es ist ja bereits der Fall), und dies auch innerhalb Deutschlands, dass jedes Jahr wegen Dürre und Bränden viele Hektar Wald verloren gehen werden, und dass es bisher ungekannte Lebensmittelengpässe geben wird, dann werden sich neue Konzepte darüber, was wir zum Leben wirklich brauchen und wie wir es erhalten können, bilden. Das ist das Gegenteil vom „Doomism“, d. h. von einer apokalyptischen Haltung, die in einer Passivierung und Lethargie resultiert. Eine solche Haltung entspricht dem depressiven Zustand der Null-Linie, wie sie von Andre Green (2001) als „Desobjektalisierung“ beschrieben wurde. In einer bestimmten Ausprägung geht diese Depression dabei eine letale Verbindung mit der Idealisierung der Kälte, der Ersparnis von Bindung und der Überlegenheit durch Abtötung aller Gefühle ein. Es ist gewissermaßen eine psychische Magersucht, die zu einer Entleerung des Ichs führt, aber gleichsam einen Versuch darstellt, sich die Gefühle sparen zu können, die ansonsten zu schmerzhaft wären. Vielleicht geht es dabei um den Schmerz, der fühlbar wird in den Müllbergen und den Vögeln: Ein Schmerz, den wir fühlen, wenn wir uns verbunden fühlen mit unseren eigenen Gefühlen, mit unseren Kindern, mit der Menschheit. Die Menschheit stellt für uns einen Wert dar, weil sie uns zeigt, wieviel wir an Fürsorge und Arbeit und inneren Werten hervorbringen können, wenn wir uns verbunden fühlen. Es geht auch um den Schmerz über die Verbundenheit mit der Natur, von der wir leben, und die wir selbst auch sind, die wir zerstören. Aber warum fühlen wir Schmerz, wenn wir verbunden sind? Weil es um die Anerkennung der Möglichkeit geht, diese Verbindung verlieren zu können. Liebe und die Androhung von Verlust sind unwiderruflich miteinander verbunden.

Es mag paradox klingen, dass eine Anerkennung dessen, dass die äußeren Lebensbedingungen sich als immer schlechter werdend herausstellen, eine Hoffnung darstellen soll, ja, dass sie das Gegenteil einer apokalyptischen Haltung sein soll. Was diese Anerkennung jedoch ermöglicht, ist, dass wir die bestehenden Denkgewohnheiten und Erwartungen aufgeben und etwas Neues denken und erproben, wie es Jonathan Lear (2023) mit seinem Konzept der Radikalen Hoffnung vorgeschlagen hat. Dabei gilt weiterhin, eine Zehntel-Grad-Veränderung nach unten wertzuschätzen und zu sehen, dass es einen Unterschied macht und sich lohnt, dafür einzutreten. Ein Strukturwandel, den wir brauchen, kann nicht entstehen, wenn wir als Individuen nicht fühlen können, dass er notwendig ist. Erst dann können wir den notwendigen politischen Druck aufbauen.

 


1 https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/beobachtete-kuenftig-zu-erwartende-globale#aktueller-stand-der-klimaforschung

 

Literaturverzeichnis

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Welzer, Harald (2011): „Mentale Infrastrukturen: Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam“. In: Schriftenreihe Ökologie. Bd. 14. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung.

 

Autor:in: Frau Dipl.-Psych. Delaram Habibi-Kohlen ist niedergelassene Psychoanalytikerin (DPV/IPA/ DGPT) in Bergisch Gladbach und Lehranalytikerin an der PsAG Köln-Düsseldorf und arbeitet in psychoanalytischen Gruppen auf Verbandsebene wie international zur Klimakrise. Veröffentlichungen zur Klimakrise und zur Durcharbeitung der Gegenübertragung.

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