Hilmar Schmiedl-Neuburg
Y – Z Atop Denk 2021, 1(10), 1.
Abstract: Die Philosophie, die Psychoanalyse und die Kulturwissenschaften sind eigenständige, komplexe Weisen menschlicher Selbstverständigung und stehen zugleich in vielfältigen Beziehungen zueinander. Im Rahmen dieses Aufsatzes werden die Perspektiven eines Gesprächs, Austauschs und wechselseitigen Lernens, aber auch der wechselseitigen Kritik von Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften exploriert, ohne dabei einer der drei Disziplinen einen Primat einzuräumen.
Keywords: Philosophie, Psychoanalyse, Kulturwissenschaften, Cultural Studies, Transdisziplinarität
Veröffentlicht: 18.10.2021
Artikel als Download: Perspektiven im Polylog.
1. Polylog der Perspektiven
Die Philosophie, die Psychoanalyse und die Kulturwissenschaften1 sind eigenständige, intrikate und komplexe Weisen menschlicher Selbstverständigung und Selbstaufklärung und stehen zugleich systematisch in mannigfachen wechselseitigen Beziehungen zueinander. Im Rahmen dieses Aufsatzes wird es darum gehen, die Perspektiven eines Gesprächs, Austauschs und wechselseitigen Lernens, aber auch der wechselseitigen Kritik von Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften zu explorieren, ohne dabei einer der drei Disziplinen einen Primat einzuräumen.
Hierbei ist zu bedenken, dass jede dieser drei Selbstverständigungsweisen menschlichen Daseins unverwechselbare, für die jeweilige Disziplin spezifische Gesichtspunkte in das Gespräch der drei Disziplinen einbringt und dadurch Perspektiven des Denkens eröffnet, welche den anderen von ihrem Standpunkt aus ohne diesen Austausch verschlossen blieben. Neben diesem komplementären und ergänzenden und damit weitenden Effekt eines solchen Trialogs verdient jedoch auch das kritische Potential dieses Gesprächs Aufmerksamkeit. Denn die Eigenständigkeit jeder der beteiligten Disziplinen ermöglicht es auch, dass die Philosophie Psychoanalyse und Kulturwissenschaften produktiv kritisiert, aber ebenso die Psychoanalyse die Philosophie und die Kulturwissenschaften und die Kulturwissenschaften wiederum Philosophie und Psychoanalyse fruchtbar kritisieren können.
Diese wechselseitige Ergänzung und Kritik spielt sich hierbei auf zwei unterschiedlichen Ebenen aus. Denn zum einen werden Vorzüge und Stärken, Schwächen und blinde Flecken einer der drei Disziplinen besonders deutlich, wenn die Disziplin selbst aus Sicht der anderen beiden beleuchtet wird. Wenn etwa die Philosophie die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen der Kulturwissenschaften wie der Psychoanalyse herausarbeitet und kritisch bedenkt, den Begriff der Kultur vermisst oder die sprach- und bewusstseinsphilosophischen und anthropologischen Grundlagen psychoanalytischen Denkens klärt; wenn die Psychoanalyse2 die Theorien der Philosophie auf das in ihnen Verdrängte und Unbewusste befragt, die Praktiken des philosophischen Sekundärprozesses zugunsten der Wahrnehmung des Primärprozesshaften durchbricht oder die Modelle und Theorien der Kulturwissenschaften auf verdeckte psychodynamische Konstellationen und Probleme hin untersucht3; wenn die Kulturwissenschaften, also die Geistes- und Sozialwissenschaften nach ihrer kulturwissenschaftlichen Reformierung, die impliziten kulturellen, symbolischen, ideologischen, politisch-ökonomischen, sozialen und geschichtlichen, ebenso wie sprachlichen Voraussetzungen, Biases und Vorurteile der Philosophie und der Psychoanalyse4 analysieren und bewusst machen, dann können auf dieser Ebene wechselseitiger Analyse die drei Disziplinen einander kritisch-konstruktiv korrigieren und produktiv ergänzen.
Zum anderen gilt dieses aber auch auf einer zweiten Ebene, und zwar auf der der Untersuchung des jeweiligen, gemeinsam untersuchten Forschungsgegenstandes. Indem dieser aus unterschiedlichen Perspektiven, triangulierend wie die qualitative Sozialforschung sagt, untersucht wird, zeigt sich der Gegenstand in vollerer Gestalt und einer größeren Mannigfaltigkeit seiner Facetten und Abschattungen und die Gefahr, den Gegenstand methodengerecht, also prokrusteshaft hin- und zuzurichten, wird reduziert. Stattdessen ermöglicht der plurale, polyperspektivische Blick von philosophischen, psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Standorten aus, die Methoden dem Gegenstande anzupassen statt umgekehrt, und spezifische Verflechtungen dieser disziplinär-methodischen Perspektiven zu finden, welche dem jeweiligen Gegenstand in seiner Eigenheit in besonderem Maße gerecht werden.
2. Transdisziplinär integrative Forschungsperspektiven
Vor diesem Hintergrund erschöpft sich das Potential eines solchen Trialogs von Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften auch nicht im rein interdisziplinären Austausch. Denn über interdisziplinäre Brückenschläge hinaus kann die gegenstandsangemessene, je gegenstandsspezifische Verflechtung der drei Disziplinen, vermittels ihrer wechselseitigen Kritik, komplementären Ergänzung, reziproken Weitung und Integration, zudem genuin transdisziplinär integrierte Forschung ermöglichen.
Philosophische Anregungen für ein solches polyperspektivisches, integratives und transdisziplinäres Unternehmen kommen dabei aus verschiedenen Richtungen. Zum einen dienen das Programm des frühen Instituts für Sozialforschung in Frankfurt und Max Horkheimers Idee eines dieses auszeichnenden inter- und transdisziplinären Forschungsprogramms in seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (Horkheimer 2021) als Inspiration, denn, so Horkheimer, nur eine selbstreflexive Integration der Philosophie und der verschiedenen sozial-, geistes- und kulturwissenschaftlichen Fachwissenschaften vermöchte deren Partialitäten zu überwinden und der Totalität der Gesellschaft und ihrem Gewordensein wissenschaftlich und politisch gerecht zu werden. Zum anderen wirkt Nietzsches Perspektivismus als Anregung (vgl. Nietzsche 1999a, 1999b), da für diesen alles Wissen notwendig perspektivisch und zudem – auch Michel Foucault (1987) eingedenk – mit Macht verbunden ist. Da keine Perspektive die ganze Wahrheit erfassen oder auch nur beleuchten kann, ja, diese Perspektiven gleichsam sogar wahrheitsschaffend sind, erscheint vor diesem Hintergrund nur ein pluraler, polyperspektivischer Weg offen, wie ihn Friedrich Nietzsche in seinen verschiedene Perspektivenfragmente collagierenden Texten geht.
Kulturwissenschaftlich wird dieser Gedanke der Polyperspektivität in der qualitativen Sozialforschung unter dem Schlagwort der Triangulation verschiedener, sowohl kommensurabler wie inkommensurabler Forschungsmethoden zur Erforschung eines Gegenstandes aufgegriffen. Und auch in der Programmatik und Forschung der Cultural Studies der Birmingham School des CCCS, von Raymond Williams‘ Culture and Society (2017) bis zu Stuart Halls wegweisenden Beiträgen (z.B. Hall 2019), kam es zu einer inspirierenden, verschiedene disziplinäre Perspektiven dezidiert transdisziplinär, kritisch und auch politisch, statt nur interdisziplinär, integrierenden Forschung. Zwar sind auch andere Beiträge aus Soziologie, Ethnologie, Geschichte, Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft, Religionswissenschaft und Sprachwissenschaft und anderen geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern hier von Bedeutung, doch bieten die Cultural Studies der Birmingham School eines der avanciertesten Rahmenwerke5 für einen solchen transdisziplinären Polylog, dem vielleicht nur Michel Foucaults verschiedene Disziplinen transdisziplinär integrierende Diskurs- und Dispositivanalytik, z.B. in Die Ordnung der Dinge (Foucault 2003) oder Der Wille zum Wissen (Foucault 1987), als weiteres wichtiges kulturwissenschaftliches Rahmenwerk beizugesellen ist.
Psychoanalytische Anregungen zu diesem Projekt sind gleichfalls vielfältig. So liest sich Wilfred Bions (1992) Empfehlung eines binokularen Sehens (binocular vision) des Analytikers als Empfehlung eines multiperspektivischen Sehens der klinischen Phänomene. Denn wie das teilweise überlappende Sehen mit beiden Augen einen Gegenstand besser erfasst, als das Sehen je mit nur einem, da so das Gleiche aus verschiedener Perspektive betrachtet wird und zudem das eine Auge auch manches sieht, was dem anderen ganz verborgen bleibt, so gilt ein Gleiches für das binokulare Sehen des Analytikers, welches das klinische Wahrnehmen und Spüren in der analytischen Stunde mit dem nachträglichen, auch theoretischen Nachdenken, die Aufmerksamkeit für das Unbewusste mit der für das Bewusste kombiniert. Desweiteren ist auch die klassische Psychoanalyse Sigmund Freuds selbst schon ein Forum des transdisziplinären Gesprächs, da in ihr unter psychoanalytischer Führung ebenfalls Naturwissenschaften und Geistes-, Kultur- und Sozialwis-senschaften sowie die Klinik miteinander in ein Gespräch geraten (Freud 1926, Teil VII).6 Zudem spricht aus psychoanalytischer Perspektive für den Trialog dreier Disziplinen – statt eines einfachen Dialoges, etwa von Psychoanalyse und Philosophie – die Einsicht in die Bedeutung der ödipalen Öffnung dyadischer Beziehungen auf triadische hin.
Das Ziel dieses polyperspektivischen, transdisziplinären Gesprächs von Psychoanalyse, Philosophie und Kulturwissenschaften besteht dabei aber nicht vornehmlich in der Herstellung eines Konsenses, sondern eines pluralen, mit Mikhail Bachtin (1982) gesprochen, heteroglossalen, also ‚variiert-widersprüchlich-vielstimmigen‘ (разноречие), manchmal konsonanten, aber eben auch oft dissonanten, stets sich in Bewegung befindlichen Dialogs oder genauer Polylogs der Disziplinen.
Das Polylogische eines solchen Gesprächs wird dabei noch verstärkt durch die innere Heterogenität, also Pluralität und Heteroglossalität jeder der drei Denktraditionen. Denn nicht nur die Philosophie und die Psychoanalyse verfügen über eine Vielzahl an Schulen und Strömungen, welche für ein solches Gespräch von besonderem Interesse sind, etwa philosophisch die Kritische Theorie, die Existenzphilosophie, die Hermeneutik, die Phänomenologie oder der Strukturalismus und der Poststrukturalismus, in der Psychoanalyse z.B. die klassisch-freudianische, die objektbeziehungstheoretische, die strukturalistische, die intersubjektive und relationale Analyse oder die freudomarxistischen und ethnopsychoanalytischen Strömungen. Auch die Kulturwissenschaften weisen eine große innere Mannigfaltigkeit von Ansätzen auf, die für dieses Gespräch von Relevanz sind, und aus so unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen stammen wie der Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Medienwissenschaft, der Kunstgeschichte, den verschiedenen Philologien und Sprachwissenschaften, der Ethnologie, Kulturanthropologie und Volkskunde, der Geschichte, Geographie, Soziologie und Psychologie, der Religionswissenschaft, der Ökonomie und Politikwissenschaft oder den transdisziplinären Cultural Studies.
Vor der Hintergrundfolie dieser Überlegungen wird auch deutlich, dass sich das transdisziplinäre Gespräch nicht auf wissenschaftliche Gesprächspartner aus Philosophie, Kulturwissenschaften und Psychoanalyse einschränken kann und darf, sondern auch Beiträge der Kunst bzw. der verschiedenen unterschiedlichen Künste, von der bildenden wie der darstellenden Kunst über die Literatur bis zur Musik, in ihrer heterogenen Vielfalt einzubinden hat. Ein solches plurales, polyloges und heteroglossales Gespräch lässt so subkutan auch die alle Wissenschaften, Religion und Kunst verbindende Transzendentalpoetik und das Symphilosophieren der Romantik eines Novalis in Blütenstaub oder den Lehrlingen zu Saïs (enthalten in Novalis 2008) und Friedrich Schlegels in den Athenaeumsfragmenten (Schlegel 2018) anklingen, ebenso wie die Wissenschaft, Kunst und Literatur wie politischen Aktivismus verbindenden, vornehmlich französischen Avantgarden im 20. Jahrhundert, wie z.B. den Situationismus.
In einem solchen heterogen-vielstimmigen Gespräch gilt es, Hans-Georg Gadamers hermeneutische Einsichten in Wahrheit und Methode (Gadamer 2010) bedenkend, das wechselseitige Verstehen zu fördern und zu diesem Zwecke auch das Gemeinsame der jeweiligen Gesprächspartner zu erkennen, welches das Verstehen erst ermöglicht, zum anderen aber auch, gleichsam inspiriert von Jacques Derridas Dekonstruktion, z.B. in seinen Randgänge der Philosophie (Derrida 1988), die inneren Brüche und die wechselseitigen Inkommensurabilitäten der verschiedenen Gesprächsbeiträge deutlich werden zu lassen. Vermittels des dialektischen Zusammenspiels beider Weisen, d.h. durch den hermeneutischen Zirkel ebenso wie durch die Dekonstruktion, wird das Gespräch der Disziplinen ein Ort der Veränderung. Psychoanalytisch lässt sich hieran dabei leicht anschließen, denn auch in der Psychoanalyse erfolgt die Suche nach der Wahrheit des Analysanden im Gespräch, welches Verstehen gerade dadurch ermöglicht, dass die Brüche im sinnhaften Reden des Analysanden dem Verstehen neue Perspektiven, Narrationen und Sinnstiftungen erschließen, was mutatis mutandis auch im Gespräch der Disziplinen und ihrer Suche nach Wahrheit zu geschehen vermag.
3. Die Bedeutung des „Subjektiven“, des Singulären und des Gegenstands
Psychoanalytisch handelt es sich bei der in der analytischen Stunde gesuchten Wahrheit jedoch nicht einfach um eine „objektive“ Wahrheit, sondern um die subjektive Wahrheit des Analysanden. Im akademischen Diskurs hingegen wird meist, worauf schon Edmund Husserl in seiner Krisis-Schrift (Husserl 2012) kritisch verwies, ein zutiefst problematisches positivistisches Objektivitätsideal gepflegt, das in der Psychotherapie die Verhaltenstherapie, in der Sozialwissenschaft die quantitative Sozialforschung und in der Philosophie die analytische Philosophie und ihre positivistischen Vorläufer hervorgebracht hat.
Eine Kulturwissenschaften, Philosophie und Psychoanalyse verflechtende transdisziplinäre Forschung eröffnet dagegen die Möglichkeit einer radikalen Kritik eines solchen Positivismus und einer Rehabilitation des als „nur subjektiv“ von den Wissenschaften in ihrem Tanz um den Objektivitätsfetisch Ausgeschlossenen. Je nach Gebiet mag es sich bei dem als „nur subjektiv“ Ausgeschlossenen um qualitative, z.B. diskursanalytische oder dekonstruktive, hermeneutisch-phänomenologische, interpretative oder kritische Untersuchungen in den Kulturwissenschaften, in der Psychoanalyse um klinische, sich der persönlichen therapeutischen Erfahrung und Intuition des Analytikers verdankende Einsichten am individuellen Einzelfall, oder in der Philosophie um sich nur schwer in einfache, gar formalisierbare, Verstandesbegriffe fassende Vernunfteinsichten handeln.
Philosophisch streicht in diesem Zusammenhang Friedrich Nietzsche (1999a, 1999b) den Konnex von „Subjektivität“ und Perspektivität hervor und die Perspektivität und Subjektivität allen Wissens. Auch die Phänomenologie und die Existenzphilosophie teilen diese Einschätzung eines Primats der „Subjektivität“, etwa wenn Søren Kierkegaard existenzphilosophisch in der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift (Kierkegaard 2005) davon spricht, dass Subjektivität die Wahrheit (der Existenz des Einzelnen) ist, oder wenn Edmund Husserl phänomenologisch in den Ideen I (2009) alle Phänomenerkenntnis vom Subjekt, dem transzendentalen Ego, aus versteht und später, in der Krisis-Schrift (Husserl 2012), alle Welterschließung vom lebensweltlichen Ich ausgehen lässt, auf deren Basis erst sich die „objektiven“ Wissenschaften nachträglich konstituieren können.7 Auch die Kulturwissenschaften, insbesondere in Form der Cultural Studies (vgl. Bromley, Göttlich & Winter 1999), wissen um die Bedeutung des „Subjektiven“ (und des Kontexts) und streichen gerade deshalb den Topos der Kultur hervor, da die Kultur und ihre Symbolräume in ihrer subjektiven Deutungsoffenheit und Deutungsnotwendigkeit – man denke hier etwa an die Untersuchungen der Cultural Studies (Bromley, Göttlich & Winter 1999) zur Populärkultur und der widerständigen Appropriation herrschaftlicher Symboliken durch unterdrückte Gruppen – und in ihrer situativen Kontextabhängigkeit – man erinnere sich Clifford Geertz‘ ‚dichter Beschreibung‘ (Geertz 1973) – sozialwissenschaftlich positivistischen Objektivitätsprätentionen wirksam und nachhaltig einen Riegel vorschieben. Aber auch und besonders die Psychoanalyse Sigmund Freuds weiß um die Bedeutung der einzelnen „Subjektivität“. Denn in der Psychoanalyse erfolgt der Erkenntnisgewinn und auch die allgemeine Theoriebildung am und durch den Einzelfall, an der Erforschung der subjektiven Wahrheit des Analysanden. So wie Immanuel Kant in der Kritik der Urteilskraft (Kant 1986) die Kunst dadurch bestimmte, dass in ihr nicht die unter das Allgemeine subsumierende bestimmende Urteilskraft regiert, sondern die reflektierende, am Singulären, Einzelnen8 und durch das Einzelne das Allgemeine suchende Urteilskraft, ist auch für die Psychoanalyse Freuds das reflektierende, klinische Verstehen des einzelnen Falls, der individuellen, singulären Subjektivität, der Ort, an dem das Allgemeine sich zeigen kann und zeigt. Diese Orientierung am Einzelfall und an der reflektierenden Urteilskraft verweist auf die Verwandtschaft psychoanalytischer Erkenntnisgewinnung mit der Kunst und der aisthetischen Erkenntnis am einzelnen Kunstwerk – ein Umstand, der die Bedeutung der Kunst für den Trialog von Psychoanalyse, Kulturwissenschaften und Philosophie nochmals in Erinnerung ruft.
Eine solche Rehabilitation der Subjektivität darf dabei aber nicht einfach im Sinne einer Apologie eines modernen selbstherrlichen transzendentalen Subjekts à la Kant verstanden werden, das zu Recht von Martin Heidegger im Brief über den Humanismus (Heidegger 1946) kritisiert und dem dort phänomenologisch die Bedeutung des sich-von-sich-selbst-her-Zeigens des Gegenstandes bzw. des Phänomens kontrastiert wird. Es gilt – auch eingedenk Aristoteles‘ Nikomachischer Ethik (1986, Buch I) – sowohl dem Gegenstande wie auch der Subjektivität gerecht zu werden, statt beide auf dem Altar der positivistischen Methodologie zu opfern. Wie es möglich ist, der Subjektivität wie dem Gegenstande angemessen zu verfahren, zeigt sich m.E. vorbildlich in der Negativen Dialektik Theodor Adornos (2003), in der dieser beide Aspekte gekonnt dialektisch ineinander verflicht.
Allerdings ermöglicht das Nachdenken über den Begriff der Subjektivität im Rahmen des Trialogs von Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften aber auch, diesen Begriff in seiner Ambiguität offenzulegen. Denn wie Theodor Adorno in der Dialektik der Aufklärung (Adorno & Horkheimer 1988) oder Michel Foucault in der Hermeneutik des Subjekts (Foucault 2009), aber auch, je auf ihre Weise, Jacques Lacan (1986), Louis Althusser (2010) und Gilles Deleuze (1974) zeigen, ist das Subjekt nicht nur einzigartige Subjektivität im obigen Sinne, sondern zugleich auch ganz im Wortsinne Unterworfenes, gesellschaftlich und symbolisch Konstituiertes, weswegen es nicht nur einer Rehabilitation des Subjektiven bedarf, sondern ebenfalls einer philosophisch-psychoanalytisch-kulturwissen-schaftlichen Analyse der Konstitution desselben, sei es gesellschaftlich-dialektisch, psychodynamisch, strukturalistisch, interpretativ und/oder symbolisch-semiotisch.
4. Die Wahrheit des Gegenstandes und ihre Entzogenheit
Obgleich nun dieses polyperspektivische, kontext- und gegenstandssensitive, selbstreflexive Gespräch der Philosophie, der Kulturwissenschaften und der Psychoanalyse den Forschungsgegenständen und ihrer Wahrheit um so vieles eher gerecht wird, als das vermeintlich aperspektivische, in Wahrheit aber monoperspektivische und unreflektierte positivistische Streben nach „Objektivität“, so lässt sich gleichwohl die Wahrheit des Beforschten selbst letztendlich nur umschreiben, aber nicht gänzlich erfassen und begreifen. Schon die Romantiker (Novalis 2008, Schlegel 2018) waren sich dieses Umstandes bewusst, weswegen selbst die alle Wissenschaftsdisziplinen, Künste und Religion integrierende Transzendentalpoesie sich nur in fragmentarischer Form angemessen manifestieren konnte, da das Fragment gerade durch seinen fragmentarischen Charakter auf das immer entzogene Ganze zielte.
Adorno drückt in der Negativen Dialektik (Adorno 2003) einen ähnlichen Gedanken in seiner Idee der Konstellation aus, nach der verschiedene Sichtweisen oder Positionen die Wahrheit des Gegenstandes, das Nichtidentische, nur konstellativ umschreiben können. Da die verschiedenen Positionen und Perspektiven streng genommen eigentlich nur zu sagen vermögen, was das Wahre nicht ist, kann in ihrem konstellativen Zusammenspiel, gleichsam in ihrer leeren Mitte, die entzogene Wahrheit geahnt werden. Ja mehr noch, gerade in den Widersprüchen und Dissonanzen der verschiedenen einander negierenden Positionen mag ein Widerhall des entzogenen Nichtidentischen zu hören zu sein. Und auch die Psychoanalyse weiß darum, dass sich der Nabel des Traums immer entzieht (Freud 1961, S. 116 Fußnote 1), das Unbewusste niemals in Gänze aufzuklären ist und jede Erkenntnis beschnitten, also unvollständig bleibt.
Das transdisziplinäre, polyloge Gespräch von Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften ist vor diesem Hintergrund ein stets bewegter, sich verändernder, mithin ortloser Ort, an dem das Entzogene, das „Subjektive“ und Singuläre, der Gegenstand in seiner Eigenart sowie die heterogene Pluralität der Deutungen und ihre transdisziplinären Verflechtungen in ihrer Dignität restituiert und in ihrer Bedeutung für den Menschen aufgezeigt werden können.
1 Unter Kulturwissenschaften verstehe ich hier die seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts kulturwissenschaftlich reformierten Geistes- und Sozialwissenschaften, einschließlich der Kulturwissenschaft im Singular, die im deutschen Sprachraum aus der Literaturwissenschaft erwuchs, und auch einschließlich der transdisziplinären Cultural Studies im englischen und amerikanischen Raum. Insofern umfassen die Kulturwissenschaften nicht nur die kulturbezogenen Subdisziplinen einzelner Geistes- und Sozialwissenschaften, wie die Kultursoziologie, die Kulturgeschichte, die Interpretative Ethnologie, die Kulturgeographie, die Kulturpsychologie, Kunstgeschichte, Religionswissenschaft und Literaturwissenschaft, sondern die Gesamtheit der Geistes- und Sozialwissenschaften, soweit sie einen cultural turn vollzogen haben. Vgl. zum cultural turn und Definitionsfragen des Begriffs ‚Kulturwissenschaft‘ Böhme, Matussek und Müller (2007, Kapitel I) sowie Fauser (2011, Kapitel II), aber auch Assmann (2017). Kultur in diesem Sinn wird ethnologisch gelesen und steht für alles vom Menschen Geschaffene, von seinen Denkformen, Theorien, Wissenschaften, Technologien und Religionen, seinen Sozial- und Rechtsformen und Wirtschaftsweisen, seinen Politik- und Moralvorstellungen, seinen Künsten, Musiken und Literaturen bis zu den materiellen Produkten von Kunst, Handwerk und Industrie. Im Unterschied zum Begriff der Gesellschaft oder der Gesellschaftswissenschaften, tritt in kulturwissenschaftlicher Perspektive neben Fragen des Soziostrukturellen und Politisch-Ökonomischen die Zeichen- und Bedeutungsebene menschlicher Vergemeinschaftung und damit Fragen nach kollektiven Bedeutungen und Symbolen, nach Wissensbeständen und rituellen Praktiken, nach Sprache und Schrift, nach Religion und Ideologie in den Vordergrund.
2 In diesem Aufsatz wird die Psychoanalyse in ihren Beziehungen zu Philosophie und Kulturwissenschaften fokussiert. Mutatis mutandis gölte vieles des hier spezifisch über die Psychoanalyse Gesagten allerdings auch für das Verhältnis der Philosophie und der Kulturwissenschaften zu den psychoanalysenahen humanistisch-existentiellen Psychotherapien, wie etwa der Gestalttherapie oder der Daseinsanalyse.
3 Zum systematischen und historischen Verhältnis von Philosophie und Psychoanalyse und zu Themen und Stoßrichtungen ihrer wechselseitigen Kritik, Ergänzung und Anregung vgl. Schmiedl-Neuburg (2017a, 2017b). Das Verhältnis von Philosophie und Kulturwissenschaften hingegen weist systematisch viele Parallelen zum Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft auf.
4 Vgl. z.B. zu einer kulturwissenschaftlichen Kritik der Therapieziele verschiedener psychoanalytischer Schulen Schmiedl-Neuburg (2017c).
5 Eine Zusammenstellung von Grundlagentexten der Cultural Studies von Raymond Williams, Richard Hoggart und Edward Thompson bis zu Stuart Hall et al. findet sich in Bromley, Göttlich und Winter (1999); eine Übersicht der geschichtlichen Entwicklung der Cultural Studies in Hall (2016).
6 Vgl. hierzu auch Anna Freuds Brief an einen an der Psychoanalyse interessierten Jungen: "Dear John ..., You asked me what I consider essential personal qualities in a future psychoanalyst. The answer is comparatively simple. If you want to be a real psychoanalyst you have to have a great love of the truth, scientific truth as well as personal truth, and you have to place this appreciation of truth higher than any discomfort at meeting unpleasant facts, whether they belong to the world outside or to your own inner person. Further, I think that a psychoanalyst should have... interests... beyond the limits of the medical field... in facts that belong to sociology, religion, literature, [and] history, ... [otherwise] his outlook on... his patient will remain too narrow. This point contains... the necessary preparations beyond the requirements made on candidates of psychoanalysis in the institutes. You ought to be a great reader and become acquainted with the literature of many countries and cultures. In the great literary figures you will find people who know at least as much of human nature as the psychiatrists and psychologists try to do.” Anna Freud zitiert nach Kohut (1968, 552 f.).
7 Vgl. zur nachgeordneten Rolle der „objektiven“ Wissenschaften gegenüber der primären lebensweltlichen, Subjektivität und Objektivität noch nicht geschieden habenden Weltauslegung auch des frühen Martin Heideggers Überlegungen in Sein und Zeit (Heidegger 2006) zum Verhältnis von alltäglicher Fundamentalontologie des Daseins und den nachgeordneten, die Wissenschaften fundierenden Regionalontologien.
8 Zur ethischen und epistemologischen Relevanz des Einzelfalls und zur Bedeutsamkeit der Situations-, Kontext- und Gegenstandsangemessenheit des eigenen Erkennens und Handelns vgl. auch Hans Georg Gadamers Wahrheit und Methode (2010, 312–346) sowie Aristoteles‘ Nikomachische Ethik (1986, Buch II).
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