Versuch über eine Politik der Psychoanalyse

Lutz Goetzmann

Y – Z Atop Denk 2022, 2(4), 2.

Abstract: Im vorliegenden Artikel wird versucht, eine Politik der Psychoanalyse zu entwerfen, die zu einer Transformation der Gesellschaft beitragen könnten. Ausgangspunkt ist die Aktualisierung realer, d.h. nicht-repräsentierter Empfindungen in Form eines fairen oder unfairen Aktes, dem eine Aktualisierung symbolischer Überich-Strukturen vor dem Hintergrund des Ödipus-Komplexes entgegengesetzt wird. Eingehend wird die Möglichkeit der Wahlfreiheit diskutiert und hier auf die Überlegung zurückgegriffen, dass eine freie rationale Wahl nur von einem Ort des Mangels ausgehen kann. Hier wird zwischen einem „Subjekt des Unbewussten“1 und einem „Subjekt der praktischen Vernunft“ unterschieden. Diese Überlegungen werden in Bezug gesetzt zu John Rittmeisters Notizen, die Rittmeister in Berliner Gefängnissen auf Tüten und Papierfetzen festhielt, und die als Grundlage einer heutigen „Politik der Psychoanalyse“ gelten dürfen.

Keywords: Politik der Psychoanalyse, Empfindungen, das Reale, Ödipus-Komplex, Subjekt

Veröffentlicht: 30.04.2022

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1. Viktor Klemperer und die Geste der Fairness

Alljährlich findet am John-Rittmeister Institut in Kiel die „John Rittmeister-Gedächtnisvorlesung“ statt. Im Jahr 2021 ist mir die Ehre zugefallen, diese halten zu dürfen. Ich hoffe, dass ich mit meinem Versuch über eine Politik der Psychoanalyse dem Vorbild dieses großartigen Humanisten, Sozialisten und Psychoanalytikers, der für seine Ideen mit dem Leben bezahlt hatte, gerecht werde. Ich werde meine Ausführungen zum Überich-Gesetz und dem Fairplay mit einigen Beispielen beginnen, und von dort aus, anhand verschiedener psychodynamischer Überlegungen eine ‚Politik der Psychoanalyse‘ im Gedenken an John Rittmeister entwickeln. Zunächst führe ich einige Beispiele für eine Haltung an, die ich als ‚Geste der Fairness‘ bezeichnen möchte. Ich habe sie vor allem Viktor Klemperers Tagebüchern entnommen, in welchen der Dresdner Philologe und Romanist sein Leben und seinen Alltag während der Nazizeit dokumentierte. Um Lebensmittelkarten einzulösen, musste Klemperer zu Fuß in die Dresdner Innenstadt wandern, denn jüdischen Bürgern war es mit dem Erlass des „Reichsbürgergesetzes“ von 1935 verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Er notiert am Freitag, dem 8. Mai 1942, folgende Begebenheit:

„Aber gestern auch dies. Auf dem Wasaplatz zwei grauhaarige Damen, etwa sechzigjährige Lehrerinnen, wie ich sie oft in meinen Vorlesungen und Vorträgen antraf. Sie bleiben stehen, die eine kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu, ich denke: eine alte Hörerin und lüfte den Hut. Ich kenne sie aber doch nicht, und sie stellt sich auch nicht vor. Sie schüttelt mir nur lächelnd die Hand, sagt: ‚Sie wissen schon, warum!“ und geht fort, ehe ich ein Wort finde. Solche Demonstrationen (gefährlich für beide Teile!) sollen des Öftern stattfinden. Gegenstück zum neulichen: ‚Warum lebst du noch, du Lump?!‘ Und dies beides in Deutschland, und mitten im 20. Jahrhundert.“ (Klemperer 1995, S. 79)

Diese spontane und intuitive, jedoch hochriskante, lebensgefährliche Geste, mit welcher der Mitbürger, d.h. der ‚Mitmensch‘, somit auch der ehemalige Professor der Technischen Universität anerkannt wird, möchte ich als einen ‚Akt‘ oder eine ‚Geste der Fairness‘ bezeichnen (vgl. Wesche 2014, S. 269). Klemperer schildert, wie nichts anders zu erwarten, auch zutiefst unfaire Handlungen, so in seinem Eintrag vom 14. Mai 1942:

„Zwei Jungen, wohl zwölf und sechs, nicht proletarisch, kommen mir auf engem Bürgersteig entgegen. Der ältere schleudert den kleinen Bruder beim Passieren rangelnd gegen mich und ruft: „Jude!“ – Es wird immer schwerer, diese Schmach zu ertragen.“ (Klemperer 1995, S. 84)

Wer würde nicht an folgende Passage denken: Freuds Vater erzählte, so steht es in der Traumdeutung, von einem Ereignis im mährischen Freiberg, in der Stadt, in welcher die Freuds wohnten, bevor sie nach Wien zogen:

„Als ich ein junger Mann war, bin ich in deinem Geburtsort am Samstag in der Straße spazieren gegangen, schön gekleidet, mit einer neuen Pelzmütze auf dem Kopf. Da kommt ein Christ daher, haut mir mit einem Schlag die Mütze in den Kot, und ruft dabei: ‚Jud, herunter vom Trottoir!‘ ‚Und was hast du getan?‘ – ‚Ich bin auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze aufgehoben‘, war die gelassene Antwort.“ (Freud 1900, S. 203).

Das ist mit Fairness bzw. Unfairness gemeint: Fair ist es, einen Menschen in seiner Würde anzuerkennen, mit ausgestreckter Hand. Unfair ist es, dem Anderen die Mütze vom Kopf zu schlagen. Nun gilt Fairness als ein etwas oberflächlicher, wenig gewichtiger Begriff. Aber die Etymologie dieses Begriffs ist interessant: Das altenglische Adjektiv fæger bedeutet „schön“, nämlich „pleasing to the sight (of persons and body features, also of objects, places, etc.); beautiful, handsome, attractive“ (Gillmeister 1995, S. 128 f.) Ursprünglich stammte das Wort von dem Früh-Germanischen fagraz ab, das sich im Altsächsischen zu fagar wandelte, immer noch im Sinne von „schön, prächtig, blendend“. Im Englischen entwickelte sich diese Bedeutung weiter zu „frei von Makel“, „günstig“, dann auch „licht, blond“, man denke nur an das Musical My Fair Lady. Das Gegenteil von fair ist unfair, also unfæger mit der Bedeutung von foul, altenglisch fúl, im Deutschen „faul“ wie das Obst, mit der Konnotation des Hässlichen (Gillmeister 1995, S. 132). Im 19. Jahrhundert wurde die Fairness zum Gentleman-Ideal der englischen Oberschicht, vor allem im damaligen Sport (Lenk & Pilz 1989, S. 21). Fair Play war ein Verhalten, das nicht auf Regeln, sondern vielmehr auf der Schönheit des Spieles beruhte. Englischer Sport war Ästhetik. Kalos hat im Griechischen übrigens eine vergleichbar doppelte Bedeutung: Eine gute Tat ist schön, Kallipolis ist in Platons Politeia nicht nur die schöne Stadt, sondern vor allem auch das wohlgeordnete, ideale Gemeinwesen (Erler 2006, S. 181).

 

2. Fair Play vs. Überich-Herrschaft

Man kann zwischen dem schönen Fair Play und der moralischen Normativität unterscheiden; letztere führt die Psychoanalyse auf das Überich zurück. Bevor ich auf die Differenzierung zwischen einem Akt der Fairness und dem Überich-Gesetz zu sprechen komme, möchte ich ein Modell skizzieren, in welches sich die Gedanken zum Unterschied von Fair Play und Überich-Normativität einbetten lassen. Dieses Allgemeine Modell des psychischen Seins wird in Abbildung 1 gezeigt:

 

Rittmeister Abb 1

Abbildung 1: Allgemeines Modell des psychischen Seins (in Anlehnung an Laplanche 2004, siehe auch Dejours 2001).

Grundsätzlich gehe ich von Laplanches ‚Allgemeiner Verführungstheorie‘ aus (Laplanche 2004; Laplanche 2017, S. 89 ff.). Laplanches Annahme lautet, dass die Sexualität immer von außen, vom Andern in Form einer „rätselhaften“, d.h. zunächst einmal unverständlichen Botschaft an das Kind herangetragen wird, und zwar vor- oder unbewusste Ansprüche und ein Begehren umfassend, was ebenso verführend wie bedrohlich oder verwirrend wirken kann. Diese Botschaft wird in der Psyche des Kindes nur eingeritzt und unterhalb einer „dünnen Schicht des Bewusstseins“ konserviert (Laplanche 2004). Den Ort dieser Implantation nennt Laplanche das „eingeschlossene Unbewusste“ (inconscient enclavé). Man könnte auch von einer ‚Enklave des (realen) Unbewussten‘ sprechen. ‚Real‘ deswegen, weil der Inhalt der Botschaft noch nicht repräsentiert oder überhaupt nicht repräsentierbar ist (vgl. Lacan 2012). Es handelt sich um reale Empfindungen, die durch die rätselhafte Botschaft des Andern ausgelöst werden. In Anlehnung an Lacan unterscheide ich ‚dinghafte Empfindungen‘, die übersetzbar sind – Bion (1992) würde von alpha-Empfindungen sprechen – von Empfindungen in der Art eines Lacan’schen „Objekts a“, das sich jeder Übersetzung, d.h. jeder Symbolisierung oder Mentalisierung entzieht. In Bions Terminologie handelt es sich dann um beta-Empfindungen.

Dinghafte alpha-Empfindungen, die real sind, können also symbolisiert bzw. übersetzt werden. Reale Empfindungen, die in der Art eines sogenannten Objekts a gleichfalls real sind, können nicht symbolisiert bzw. übersetzt oder mentalisiert werden. Beide Empfindungstypen sind durch die Botschaften des Andern verursacht und in der Enklave des realen Unbewussten eingeritzt bzw. implantiert. Nun verstehe ich die Akte der Fairness, aber auch der Unfairness als eine Aktualisierung solcher realen Empfindungen, die durch die fairen bzw. unfairen Botschaften des Andern ursprünglich ausgelöst wurden. Die Botschaft des Erwachsenen besteht aber nicht nur aus Worten, sondern erfolgt im Zuge eines „Sprechaktes“ (Butler 2018, S. 11 f.): Zu dieser Botschaft zählt auch die Stimme des Andern, die liebevoll oder hasserfüllt, aufgeregt, empört sein kann, laut oder leise, und auch der freundlich-anerkennende oder harte, verächtliche Blick, die zärtliche Berührung wie auch die Schläge, die Hiebe, die Züchtigung, die das Geschrei oder Gebrüll des Erwachsenen begleitet. Traumatische Botschaften, welche die Kapazitäten des Kinds überfordern, ritzen sich als beta-Empfindungen, d.h. als Objekt a in die Enklave des realen Unbewussten ein. Im Fall, dass die Botschaft transformierbar ist, wird sie als alpha-Empfindungen, d.h. als alpha-Dinge im realen Unbewussten rezipiert. Faires bzw. unfaires Verhalten ist eine Aktualisierung realer Empfindungen, welche in der Regel die Antwort auf faire bzw. unfaire Botschaften sind. Ist die reale Empfindung eine Antwort auf Anerkennung, wird auch die aktualisierte Geste eher anerkennend, d.h. fair sein, und bei einer realen Empfindung, die auf eine nicht-anerkennende, verachtende oder destruktive Botschaft zurückgeht, wird deren Aktualisierung eher eine unfaire Geste sein. Die Anerkennungs-Geste in Klemperers Tagebuchnotiz ist eine solche Aktualisierung, ebenso wie die antisemitische Alltagsgewalt, über die Freud in der Traumdeutung berichtet. Natürlich kann bereits ein Kind diese Implantate aktualisieren. Das eine Kind rettet einen Regenwurm, das andere zertritt oder zerhackt denselben. Dennoch spielt die Nachträglichkeit eine wesentlich größere Rolle, wenn der Erwachsener seine Empfindungen als Anerkennender oder Nicht-Anerkennender, Verachtender im Verhalten aktualisiert: Gegenüber seinen Kindern, anderen Erwachsenen, auch den zukünftigen Generationen – oder Pflanzen, Tieren und Dingen. Sowohl die faire wie die unfaire Geste ist also eine (wie Lacan sagt) „passage à l’acte“, d.h. eine Aktualisierung der realen Empfindung. Im Fall der Aktualisierung einer beta-Empfindung (Objekt a) handelt es sich um reine, brutale passages à l’acte, wie z.B. heftige Gewaltausbrüche, Amokläufe oder Attentate. Andererseits ist das pränatale Gefühl des Geborgenseins die Erfahrung einer fairen, phänomenalen Botschaft. Somit sind also faire wie unfaire Gesten Aktualisierungen des Realen; in Laplanches Schema (Abbildung 1) haben sie ihren Ursprung im Teil B.

Viele, wenn auch nicht alle Spuren des realen Unbewussten werden in Gedanken übersetzt. Verwenden wir Lacans Terminologie, werden reale Empfindungen sowohl in bildhafte, d.h. imaginäre wie auch in sprachliche, d.h. symbolische Gedanken übersetzt – wobei, so Laplanche (2004), vielfache Übersetzungsfehler auftreten können. Schwierige Gedanken, die verboten sind, werden erneut verdrängt, ohne dass sie ihren imaginären oder symbolischen Status verlieren. Laplanche (2004) spricht hier vom „verdrängten Unbewussten“ (im Gegensatz zum „realen Unbewussten“). Auf jeden Fall gibt es zwei Territorien des Unbewussten: Das reale Territorium der alpha- und beta-Empfindungen, und das imaginär-symbolische Territorium der ver-drängten alpha-Gedanken. Entsprechend vermag sich ein „Subjekt des realen Unbewussten“ und ein „Subjekt des imaginär-symbolischen (verdrängten) Unbewussten“ zu aktualisieren.2

In Hinblick auf die Normativität des Überichs kommen wir nicht umhin, den Ödipus-Komplex miteinzubeziehen, der den gesamten Teil A in unserem Schema (Abbildung 1) organisiert. Ich beziehe mich v.a. auf Lacans Seminar V (Lacan 2019, S. 209 ff., siehe auch Recalcati 2000, S. 62 ff.), und referiere die drei Stadien oder Momente des Ödipus-Komplexes so, dass sie sowohl für das Mädchen wie für den Jungen gelten, und dass die Eltern sowohl ein hetero- wie auch ein homosexuelles Paar sein können:

  • Im ersten Stadium findet eine imaginäre Identifikation mit dem Objekt des Begehrens statt, also dieses Objekt des Begehrens ist der jeweils Dritte. Es lässt hier von einer ‚imaginären Position der Allmacht‘ sprechen. Z.B. identifiziert sich der Junge mit dem väterlichen, von der Mutter jeweils begehrten Phallus. Oder das Mädchen identifiziert sich mit Merkmalen seiner Mutter, z.B. mit ihrer Weiblichkeit, die der Vater begehrt. Jedenfalls begehrt das Kind das Begehren des dyadisch Andern, des jeweils Zweiten, und versucht, dieses Begehren des Andern mit Hilfe einer Identifizierung mit bestimmten Merkmalen des Dritten zu entfachen, und dies mit der Aussicht auf ein Genießen. Der Junge identifiziert sich mit dem Vater, dem Dritten, um das Begehren der Mutter, der zweiten im Bunde, auf sich zu ziehen. Mit ‚Phallus‘ oder ‚phallisch‘ meine ich eine besondere Fähigkeit: So kann sich das Mädchen z.B. mit der Erotik, aber auch mit der Intelligenz oder irgendeiner besonderen Fähigkeit der Mutter identifizieren.
  • Auf diesen Schritt folgt das ‚Stadium der Untersagung‘. Das Kind, ob Mädchen oder Junge, stößt auf ein Veto, d.h. auf ein Verbot, auf das Gesetz, welches die Erfüllung seiner Wünsche verbietet und diese, zumindest in der kindlichen Vorstellung, mit einer Strafe, etwa mit der Strafe der Kastration verknüpft. Es entsteht ein neurotischer Konflikt zwischen Wunsch und Verbot, zwischen Begehren und Gesetz. Dieses Verbot geht natürlich vom Dritten aus, ob dies nun der Vater, die Mutter oder ein gleichgeschlechtlicher Partner oder eine gleichgeschlechtliche Partnerin ist. Das ist die ‚Position der symbolischen Untersagung‘. Freud (1924a, S. 395 f.) fügte hier noch einen weiteren, wichtigen Punkt hinzu: Das Kind wird mit der Realität konfrontiert, dass es unmöglich mit seinem in der Regel überlegenen Vorbild um die dyadische Liebe des Andern zu konkurrieren vermag. So zerschellt der Ödipuskomplex an dieser äußerst misslichen Realität. Begehrens-Überreste aus dem ersten Stadium werden nun, zur Besiegelung dieses Untergangs, ins Unbewusste verdrängt und durch das zu diesem Zweck im Ich errichteten, unbewussten Überich kontrolliert. Im Idealfall würde der gesamte Ödipuskomplex an der Wirklichkeit zerschellen, und es bräuchte gar keine zusätzliche Verdrängung: Das Kind würde die Realität einfach akzeptieren. Die Normalität zeigt aber, dass doch ein gewisser Anteil der alten Wünsche bestehen bleibt und deswegen verdrängt werden muss (Freud 1924a, S. 399). Gegen die Umsetzung dieser Wünsche wird dann das Überich aktiv.
  • Im abschließenden Stadium 3 hat der Dritte, im Falle des Jungen wäre dies der Vater, „die Funktion einer Norm wie einer Gabe“ (Recalcati 2000, S. 94). Er ist sowohl der Verbietende, also die Vetomacht des Symbolischen, wie auch das Objekt der Liebe, und insofern werden Begehren und Gesetz (in diesem Fall vertreten durch den Vater) miteinander versöhnt. Man könnte hier von einer ‚Position der symbolischen Versöhnung‘ sprechen. Das verinnerlichte Überich sichert diese neuen Verhältnisse, und darauf spielt Freud an, wenn er Kants kategorischen Imperativ als ein direktes Erbe des Ödipuskomplexes bezeichnet (Freud, 1924b, S. 380).

Freuds fundamentaler Gedanke lautet, dass das Überich durch die Introjektion von Elternfiguren entsteht und nun als Gewissen fungiert, um die imaginären Wünsche zu kontrollieren. Diese Normativität entsteht in einem Doppelschritt: Äußere Mächte ‚erzwingen‘ zunächst einen ersten Triebverzicht; sie werden dann als Gewissen introjiziert und schaffen damit eine Sittlichkeit, die sich eben „in diesem Gewissen“, wie Freud (1924b, S. 383) sagt, „ausdrückt und einen weiteren Triebverzicht fordert.“ – Ob jemand fair oder unfair handelt, hängt also zunächst von der (nachträglichen) Aktualisierung realer Empfindungen ab (im Teil B des Laplanche’schen Schemas). Es handelt sich um Aktualisierungen früher Erfahrungen, die auf fairen oder unfairen, anerkennenden oder nicht-anerkennenden Botschaften beruhen. Die moralische oder sittliche Normativität, also das Gesetz, das mit Verbot und Schuldgefühl operiert, entsteht durch das ödipale Überich. Meine These ist also, dass wir fair sind auf Grund früher positiver Erfahrungen; unfair sind wir, wenn diese Erfahrungen eher schlecht waren. Wir sind moralisch gut, wenn wir uns an das Überich-Gesetz halten. Wir sind moralisch böse, wenn das Überich unsere verdrängten, imaginär-symbolischen Wünsche entdeckt und als böse deklariert.

 

3. Die freie Wahl

Wir haben also realen Empfindungen, die sich vor allem im Erwachsenenleben in den Gesten der Fairness oder Unfairness, als passage à l’acte aktualisieren. In diesen Gesten aktualisiert sich das ‚Subjekt des realen Unbewussten‘: Wir gehen dann miteinander achtend oder verachtend um, liebevoll oder lieblos, zärtlich oder brutal: Mit den Mitmenschen, mit Kindern, mit Minoritäten, mit den Angehörigen eines andern Geschlechts, einer anderen Ethnie oder Nation, mit Migrantinnen oder Migranten, überhaupt mit den Geschöpfen dieser Erde, mit den Tieren, die in industriellen Großanlagen leiden, mit dem Urwald, der gerodet wird, mit der Erde oder der Luft, mit dem, wie Martin Weimer (2021) sagte, „Haut-Ich der Erde“, das wir vergiften und zu unserem eigenen Verderben überhitzen. Diese Gesten der Fairness oder Unfairness sind performativ, ungeschrieben, sie sind ein Ereignis, ein Akt, im Alltag ebenso wie in der Menschheitsgeschichte. Andererseits gibt es die Aktualisierung dessen, was das ‚Subjekt des verdrängten Unbewussten‘ ist. Die Aktualisierung des ‚Subjekts des verdrängten Unbewussten‘ ist eine doppelte, in diesem Sinne konflikthafte: Sie zeigt sich sowohl in der Herrschaft des Überichs, welches das (inzestuöse) Begehren kontrolliert, wie auch in der Wiederkehr des Verdrängten: Als Fehlhandlung, Versprecher, Traumbild oder Körpersymbol.

Nun könnte man behaupten, dass wir unserem Unbewussten weitestgehend ausliefert sind. Wir sind nicht Herr im eigenen Haus. Hegel (2017, S. 84, § 17 Z 2) sagt: „In allen Trieben fange ich von einem Andern an, von einem solchen, das für mich ein Äußerliches ist. Hier sprechen wir dann von Abhängigkeit“. Der Untergang des Ödipus-Komplex führt zwar zu einem Ich, welches eine gewisse Einsicht besitzt, aber keineswegs Herr im eigenen Haus ist (Freud 1917, S. 11). Lacan spricht deswegen von einem „gebarrten“ bzw. „gespaltenen“ Subjekt (sujet barré). Wir sind in unserer Gespaltenheit determiniert, weil der Andere unser Unbewusstes bestimmt. Die Frage ist nur, ob es nicht doch einen Ort gibt, an welchem wir frei sind. Eine Antwort lautet: Dieser Ort, diese Lücke ist da, wo der Andere sich abgewendet hat, etwa weil die Mutter sich auch für die Person des Vaters interessiert. Genau durch diese Abwendung entsteht der Ort des Mangels (vgl. Zupančič 2001, S. 47). Er ist die Negativität in den Interpellationen des Andern, er ist die Lücke, die Null in der Botschaft, die es dem Subjekt erlaubt, eigene Gedanken zu entwickeln und eine freie Wahl zu treffen. Man sollte hier allerdings eine Reihe klinischer Probleme berücksichtigen, die einen Ort des eigenständigen Denken und der Wahl verhindern können:

  • So gibt es eine Art ‚Todestrieblöcher‘ im Andern, die dessen Abwesenheit, d.h. den Mangel traumatisch werden lassen; es handelt sich um eine Desobjektalisierung, d.h. um den Abzug der libidinösen Besetzung des Kindes (Green 2001). Es ist ein Mangel, der z.B. durch eine (psychisch) „tote“, d.h. depressive Mutter verursacht wird (Green 1993). Diese Form der Abwesenheit bewirkt im Subjekt eine tote, weiße Leere: einen toten Ort. Solche Orte des Mangels können zu keiner Stätte der Freiheit werden.
  • Die Leere (am Ort des Mangels) kann eine große Angst auslösen. Lacan (2010, S. 294) beschreibt z.B. die Angst des Kindes, dass die Mutter „hinter“ der stillenden Brust nicht mehr existieren könnte (Lacan, 2010, S. 294). Diese Angst macht die Stätte des Mangels ebenso unerträglich wie das Tote der Green’schen Desobjektalisierung.
  • Möglich ist aber auch, dass aus dem unerträglichen Mangel sofort Phantasmen, etwa das Bild des abwesenden Andern erwachsen und die Lücke sofort phantasmatisch besiedelt wird, etwa von imaginären Vorstellungen über den abwesenden Anderen. Der Mangel wird sofort imaginär kompensiert.
  • Ein Kind, das mit elterliche Bedürfnissen, Besitzansprüchen und einem starken Begehren in Beschlag genommen wird, wird zwar eine Mangelerfahrung machen (nämlich nicht wahrgenommen zu werden). Es kann diesen inhärentem Mangel jedoch nicht als Ort der Freiheit verwenden, weil dieser Ort von den Bedürfnissen, Ansprüchen und dem Begehren des Andern wie vollgestellt ist.

Die Stätte des Mangels müsste sowohl unverstellt, offen, aber auch libidinös besetzt sein. Ich denke, dass sich ein solcher ‚lebendiger Mangel‘ mit Hegels Anerkennungsphilosophie beschreiben ließe. Hier vermittelt die Anerkennung dem anerkannten Subjekt (etwa dem Kind) eine Freiheits-Erfahrung: Anerkennen heißt, dem anderen „durch Selbstbeschränkung der eigenen Selbstinteressen ausdrücklich die Freiheit einzuräumen, sich in seinen Bedürfnissen und Wünschen ungezwungen bestimmen zu können“ (Honneth 2018, S. 171). ‚Anerkanntsein‘ ist die Erfahrung, sich „in denjenigen Elementen der eigenen Subjektivität in gesicherter, ‚gewusster‘ Weise ‚frei‘ bestimmen zu können, die durch die Selbstbeschränkung des Gegenübers nachgerade öffentliche Wertschätzung erhalten haben“ (Honneth 2018, S. 171). Diese Form der Anerkennung vermittelt nicht nur dem Kind (d.h. dem Anerkannten), sondern auch den Eltern (d.h. den Anerkennenden) eine Freiheit, indem diejenigen, die anerkennen, im Anerkannten bei sich selbst sein können: Freiheit, so Hegel (2017, S. 84, § 17 Z 2), ist „in seinem Andern bei sich selbst zu sein“: die Eltern bestätigen in der Selbstbeschränkung, die sie sich auferlegen, ihre eigene Freiheit. Dieser lebendige, subtile Mangel entsteht nicht durch die schmerzliche Abwesenheit des Andern, sondern durch dessen Selbstbeschränkung, indem Eltern ihr Kind weder besitzen wollen noch ständig seine Liebe einfordern. Von hier aus kann das Subjekt seine eigene Gedanken entwickeln und seine Gedankenwelt, die ihm als Ganze zur Verfügung steht, selbst gestalten. Unter solchen Bedingungen kann der Ort des Mangels als ein freier Platz bezeichnet werden, und von hier aus, aus dieser archimedischen Position vermag das Subjekt zu entscheiden, ob es anstehende Aktualisierungen des Unbewussten tatsächlich in eine Handlung umsetzen oder davon Abstand nehmen will.3

Nachdem ich dargestellt habe, wie ein lebendiger Ort des Mangels entsteht, werde ich mich nun den speziellen Vorgängen zuwenden, die an dieser Stätte ablaufen. Hier stehen nämlich die Aktualisierungen des Unbewussten auf dem Prüfstand der Vernunft. Das Subjekt entscheidet darüber, ob es die Pelzmütze vom Kopf des jüdischen Mannes schlägt, oder ob es seine Hand ausstreckt, ob es sich irgendeinem mehr oder weniger absurden Überich-Diktat unterwirft oder ob es sein Begehren gegen das Überich verteidigt. Freud (1927, S. 371 und 377) spricht von einem „Primat der Intelligenz“ bzw. der „Vernunft“. Es ist die Vernunft, anhand derer wir am Ort des Mangels abwägen und entschließen, wie wir uns verhalten. Ich meine mit Vernunft nichts anderes als den Gebrauch von bewussten, sprachlich-verfassten, d.h. symbolischen Gedanken, die sich auf einen Gegenstand, nämlich auf den Impuls zu einer Handlungstat beziehen.4 Auf Grund diese Handlungsbezugs kann man von einer ‚praktischen Vernunft‘ sprechen, und das Subjekt ist ein ‚Subjekt der praktischen Vernunft‘. Es entscheidet, ob der Impuls zu einer Handlungstat umgesetzt oder abgelehnt wird. Es geht also nicht – wie bei Kant (2003, S. 23) darum, ein „vernünftiges Handeln“ zu entwickeln, das vernunftsbegründeten Maximen wie z.B. dem kategorischen Imperativ folgt.5 Es geht auch nicht darum, dass die Wirkkraft des Geistes uns „normative Regeln bzw. ‚Maximen‘ diktiert, an die wir uns halten müssen, wenn wir uns gegenüber unseren Mitmenschen moralisch richtig verhalten wollen“ (Honneth 2018, S. 140). Vielmehr soll mit der praktischen Vernunft nur ein Aktualisierungsvorschlag beurteilt werden. Die Lücke des Mangels ist der Ort, von welchen aus das Subjekt die praktische Vernunft anwenden kann, d.h. Gedanken frei verwenden kann. Das Subjekt der praktischen Vernunft entscheidet, ob es eine passage à l’acte, d.h. die Umsetzung realer Empfindungen, bzw. ein acting out, d.h. die Umsetzung verdrängter Gedanken (einschließlich der Herrschaft des Überichs) befürwortet oder ablehnt. Insofern verstehe ich die praktische Vernunft als ein rationales Werkzeug.

Die Vernunft als ein solches rationales Werkzeug spielt in der Rational Choice Theory eine zentrale Rolle. In dieser Lehre des rationalen Handelns setzt das Individuum bei anstehenden Entscheidungen Überlegungen ein, wie es bei der Verwirklichung seiner Ziele am besten vorgehen könnte. Esser (1999, S. 297) formuliert eine Reihe von Voraussetzungen für ein solches rationales Vorgehen: 1.) dass es Handlungsalternativen gibt, d.h. dass jeder Akteur „eine klar definierte Menge von Alternativen“ vor sich hat, aus denen eine ausgewählt wird; 2.) dass das Individuum im Sinne einer „Präferenzordnung“6 weiß, was es haben oder tun will; und 3.) dass das Individuum über die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens bestimmter Ereignisse Bescheid weiß. Unter diesen Voraussetzungen wählt das Individuum eine bestimmte Alternative aus (Esser 1999, S. 297). Allerdings haben die Akteure kaum einen Überblick über alle Aspekte, die für ihre jeweilige Entscheidung wichtig sein könnten (Esser, 1999, S. 297). Insofern ist diese Form von Rationalität immer begrenzt (Roth, 2020, S. 182). – In unserem Fall, in welchem das Subjekt über eine Aktualisierung entscheiden soll, ist der Komplexitätsgrad relativ einfach: Es gibt es nur zwei Möglichkeiten – die Aktualisierung befürworten oder ablehnen. Es mag dem Akteur im Sinne einer Präferenzordnung als sinnvoll oder als nicht sinnvoll erscheinen, dass der Andere (z.B. ein Asylsuchender) als Mitglied der Menschheit anerkannt wird, oder ob die Umwelt geschützt werden soll. Es gilt dann abzuschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Folgen des einmal gewählten Handelns eintreten.

Ein Individuum, das über seine Entscheide nicht nachdenkt, d.h. das sich der (zweckrationalen) Vernunft nicht bedient, bezeichnet Harry Frankfurt (2001, S. 72 ff.) als „Wanton“. Ein Wanton trifft Willensentscheide lediglich auf der Ebene der Handlungstat („Willensentscheid erster Ordnung“). Im Gegensatz dazu unterzieht eine „Person“, so Frankfurt, den Wanton-Willensentscheid einer zusätzlichen, vernünftigen Beurteilung („Willensentscheid zweiter Ordnung“). Wir können also zwischen einem Wanton-Subjekt und einem personhaften Subjekt unterscheiden. Letzteres möchte ich das ‚Subjekt der praktischen Vernunft‘ nennen, also jenes Subjekt, das am Ort des Mangels zwar weiß, dass sein Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, aber mit Hilfe seines Intellekts Willensentscheide der ersten Ordnung von einer höheren Warte aus beurteilt. Natürlich muss damit gerechnet werden, dass diese zweckrationale Vernunft ebenso von Gesetzen und Impulsen beeinflusst wird, die dem zwar personhaften, aber dennoch gespaltenem Subjekt nicht bewusst sind. Auch in dieser Hinsicht ist der Ort des Mangels als Stätte der Freiheit stets ein relativer und gefährdeter. Seine Lücke ist kein gesichertes Territorium, sondern eher wie das Aufreißen von Wolken, wie eine für Momente leere Lichtung, die sich zur Bildung freier und vernünftiger, symbolischer Gedanken verwenden lässt.

 

4. Eine Politik der Psychoanalyse

Im Titel meiner Auslassungen steht: „Versuche über eine Politik der Psychoanalyse“. Wieso entschloss ich mich, über eine ‚Politik der Psychoanalyse‘ zu sprechen – und stellte mich nicht in die Traditionslinie einer „Ethik der Psychoanalyse“? – Zunächst halte ich den Begriff ‚Politik‘ für geeigneter, weil sich meine Überlegungen auf die Polis, d.h. auf das Soziale beziehen. Allerdings sagt Alain Badiou, Politik sei ein recht mehrdeutiger Begriff. Politik ist einerseits dasjenige, „... was die Ausübung von Autorität betrifft, sei es die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten, die unterschiedlichen Ebenen dieser Verwaltung (Nation, Region, Stadt...) oder auch die Existenz von politischen Parteien und die geregelte Ausübung einer Opposition, die ebenfalls nach der Macht strebt.“ (Badiou, 2019, S. 39). – Dieser Staatsapparat ist aber nur ein „Stellvertreter von privaten Mächten“, so Badiou, die nicht „durch wie auch immer geartete Wahlen bestellt werden, nicht einmal durch irgendeine militärische Großtat, sondern einzig und allein auf Grund des Umfangs ihres Vermögens“ (Badiou, 2019, S. 40). Die zweite Sichtweise auf das Wesen der Politik, die Badiou selbst vertritt, der übrigens wie John Rittmeister ein überzeugter Kommunist ist – diese zweite Sichtweise entstand vor dem Hintergrund der französischen Revolution und der sozialistischen bzw. anarchistischen Strömungen im 19. Jahrhundert. Badiou (2019, S. 41) fragt also zunächst: Ist Politik wirklich nur die „möglichst wenig schlechte Verwaltung der bestehenden Ordnung?“ – oder ist Politik, und das wäre die zweite Sichtweise, nicht vielmehr „die Transformation dieser Ordnung im Hinblick auf eine höhere Gerechtigkeit?“ – Natürlich verstehe ich die „Politik der Psychoanalyse“ im zweiten Sinne, nämlich, dass die Ordnung des Überichs, d.h. des überichhaften Staates in eine vernünftige und egalitäre Gesellschaft transformiert wird. Mit ‚Politik der Psychoanalyse‘ meine ich, dass die anthropologischen Konditionen der Gesellschaft und ihres Transformationsvermögen erst vernünftig reflektiert werden, bevor wir als blindwütige Wanton-Subjekte handeln. Die „Ethik der Psychoanalyse“, so Lacan, ist: sein eigenes Begehren nicht aufzugeben. Eine ‚Politik der Psychoanalyse‘ wäre: dieses nicht-aufzugebende Begehren durch eine Wahl zu gestalten.

Man wird sich wohl einig sein, dass bestimmte Gesetze vonnöten sind. Die Nomokratie des Überichs scheint nun mal eine anthropologische Konstante zu sein. Aber ich denke, dass erst die Fairness, welche in den positiven Empfindungen begründet ist, eine Gesellschaft ‚schön‘ und ästhetisch macht, und dass die Mannigfaltigkeit fairer Situationen eine kollektive, vielleicht zunächst vor allem phänomenale Atmosphäre herstellt (Schmitz 2020, S. 50 ff.). Ich meine damit, dass die Fairness, die aus der Subtilität des Realen kommt, kein eingeschriebenes Gesetz sein darf, sondern eher im Zuge der Aktualisierung realer Empfindungen auftreten kann.

John Rittmeister war der einzige deutsche Psychoanalytiker, der wegen seines Widerstands im Dritten Reich hingerichtet wurde. Er wurde in Hamburg geboren, absolvierte eine neurologische Ausbildung in München, studierte in Zürich Psychologie und in London marxistische Philosophie. Bis 1937 arbeitete er in der Schweiz und vertrat dort die Idee eines „freiheitlichen Sozialismus“ (Bräutigam 1992, S. 153). Diese Vortragstätigkeit kostete ihm die Aufenthaltserlaubnis, und er kehrte ins Deutsche Reich zurück. Rittmeister wollte eine Politik im Sinne Badious: Eine Transformation der Gesellschaft in eine „soziale und humane Lebensordnung“ (Bräutigam 1992, S. 160). Er verfasste vor allem Flugblätter, für direktere Aktionen war er offensichtlich nicht so geeignet, vielleicht zu unpraktisch. Trotzdem dauerte diese Tätigkeit nicht lange. Rittmeister wurde am 26. September 1942 gemeinsam mit seiner Frau Eva festgenommen, am 12. Februar 1943 zum Tode verurteilt und am 13. Mai desselben Jahres in Plötzensee hingerichtet. Vor allem die letzten drei Monate, nachdem sein Todesurteil bekannt war, verbrachte er im Bewusstsein dieses bevorstehenden Endes. Er kritzelte vieles, was ihm einfiel, auf Papierfetzen oder auf Tüten, es gibt weit über hundert Zettel. Ich meine, diese Zettel bilden das Fundament einer Politik der Psychoanalyse, die auf den Ideen der Begehrens, der Wahl und der Fairness beruhen könnte.

In einer seiner Notizen (vom 12. 1. 1943) unterscheidet Rittmeister zwischen dem „heteronomen Moralgesetz“ bzw. dem „autoritären Gesetz“ (d.h. dem Gesetz des Großen Andern, z.B. des Volksgerichtshofs) und einer „autonomen Moral“, die er als „Glauben des Herzens“ bezeichnet. Mich erinnert dieser „Glaube des Herzens“ an das Erspüren einer Empfindung, die sich auf eine vormals erfahrene Geste der Fairness bezieht. Hier die Notiz:

„Ich stehe mitten drin offenbar in einem Conflict zwischen einem heteronomen Moralgesetz, das man mir oktroyieren will und dem Problem der autonomen Moral. Der religiöse Gegensätze zwischen autoritären ‚Gesetz‘ und ‚Glaube des Herzens‘.“ (Rittmeister 1992, S. 78).

Noch im Gefängnis entwirft Rittmeister eine „Stufenentwicklung des Geistes“ (Rittmeister 1992, S. 77). Dreh- und Angelpunkt ist hier die zweite Stufe. Er nennt sie die „Entlarvung der Selbsttäuschung“, welche erst die Autonomie, ich sage: die Wahlfreiheit des Subjekts der Vernunft ermöglicht. Erst dann, im Zuge dieser „Entlarvung“, kann der Andere bewusst anerkannt und eine Wesensgleichheit, die Egalität der Menschen entdeckt werden, die unabhängig von Geschlecht, Ethnie oder sozialem Status ist. In den letzten Wochen wendet sich Rittmeister voller Abschiedsschmerz dem Reich der Toten, der Metaphysik, wohl auch der Identifikation mit Christus und der Wiederauferstehung zu:

„Ich bin heute trauriger als vorherige Tage; man hört nur von Todesurteilen. Ich denke dabei nicht an mich, denn ich habe mich abgefunden, ich habe einen meta-physischen Halt gefunden und glaube an den fleischgewordenen leidenden Gottmenschen Christus. (...) Aber Mackie! Wenn ich mir all die begonnen Möglichkeiten vorstelle, weine, weine ich. Eben war Mackie noch ein Kind – jetzt ist sie eine gebeugte, geprüfte Frau.“ – „Immer wieder reibe ich mir die Augen und frage: Ist denn das Wirklichkeit, Zelle Tod vor Augen, Mackies Leid, die Wohnung leer, das Leben blockiert?“ (Rittmeister 1992, S. 84). Der letzte Eintrag vom 3.5. 43 lautet: „Mie hat einen roten Löwen. – Auch sonst schöne Träume. Manchmal herrliche Musik im Halbschlaf.“ (Rittmeister 1992, S. 88).

Ich möchte mit dieser Notiz den Artikel beschließen.

 


1Das Manuskript beruht auf einem Vortrag im Rahmen der jährlichen John-Rittmeister-Gedächtnis-Vorlesung, die am 3. September 2021 am John-Rittmeister-Institut in Kiel stattfand.

2 Man kann sich fragen, wo in diesem Modell die Gefühle, und damit auch die Körpergefühle vorkommen. Die einfachsten Formen von Gefühlen sind ja Hunger, Durst, Schläfrigkeit, Erschöpfung, Übelkeit, Schmerz, auch der Harndrang usw. – und die komplexeren Gefühle sind dann natürlich Neid, Schuld, Scham, Eifersucht, Ekel. Solms (2021, S. 96 und 114). Gefühle, so sagt man heute, sind immer bewusst (Solms, 2021, S. 87), und ihre evolutionäre Funktion ist die Bewertung einer inneren oder äußeren Erfahrung, also ob diese gut, d.h. lustvoll oder schlecht, d.h. unlustvoll, in diesem Sinne leidvoll ist. Man könnte solche einfachen, eher körperlichen, oder komplexen, emotionalen Gefühle als bildlose und nicht-sprachliche Gedanken auffassen, die zunächst auf einer rein phänomenalen Ebene bestehen (Demmerling 2021). Sie sind zwar als Phänomen präsent, aber, wie gesagt, weder bildhaft noch sprachlich bestimmt. Herrmann Schmitz (2014, S. 30) beschreibt Gefühle als „räumlich ergossene Atmosphären“. Insofern möchte ich zwischen atmosphärisch-gefühlten, imaginär-bildhaften und symbolisch-sprachlichen alpha-Gedanken unterscheiden. Sobald ein Gefühl – bildlich, z.B. als Traumbild oder sprachlich, als Aussage näher bestimmt wird, verliert es seine reine, lediglich präsente Phänomenalität (Panksepp 2010).

3 John Rawls' (u.a. 2006) Ermittlung einer gerechten Gesellschaft auf der Grundlage der Fairness ist gleichfalls auf der Ebene des Subjekts der praktischen Vernunft bzw. auf der Ebene einer Gruppe von Subjekten der praktischen Vernunft zu verorten: Eine Gruppe von Menschen muß auf rationaler Basis darüber entscheiden, was “gerecht” bzw. “ungerecht ist”. Rawls nimmt zunächst eine hypothetische Situation an, in welcher Menschen mit gleicher Freiheit wählen können; diese Wahl bestimmt die Grundprinzipien der Gerechtigkeit: Ausgangspunkt für diese Gerechtigkeit ist der Gedanke von Gleichheit, und zwar unabhängig vom sozialen Status, der Klasse, der politischen Auffassungen oder von psychologischen Dispositiven. Rawls bezeichnet diese Ausgangsposition als „fair“. Er betrachtet die politische Gesellschaft als ein „faires System der langfristigen, von einer Generation zur nächsten fortwirkenden Kooperation, wobei die Kooperierenden als freie und gleiche Bürger sowie als normale, ein ganzes Leben miteinander zusammenarbeitende Angehörige der Gesellschaft angesehen werden“ (Rawls 2006, S. 23), Zur Idee der Kooperation gehört die „Idee der fairen Modalitäten der Zusammenarbeit“. Es handelt sich um Modalitäten, die jeder Beteiligte „vernünftigerweise akzeptieren kann“ (Rawls, 2006, S. 26). Die politische Konzeption der fairen Modalitäten beruht auf einer Kooperation zwischen Bürgern, die „frei“, „gleichberechtigt“, „vernünftig“, „rational“ und „normal“ sind (Rawls 2006, S. 28). Allerdings müssen hier bestimmte „psychischer Spezialeinstellungen“ berücksichtigt werden: Rawls (2006, S. 141 f.) zählt zu diesen „Spezialeinstellungen“ Neid und Gehässigkeit, eine Abneigung gegenüber Risiko und Ungewissheit und die Tendenz, andere Menschen dominieren und beherrschen zu wollen. Genau hier kommt die Sichtweise des verdrängten bzw. realen Unbewussten ins Spiel. Rawls unterscheidet zwar zwischen dem einzelnen Individuum, das den erwähnten Spezialeinstellungen ausgesetzt sind, und den Parteien der Gesellschaft, die als „künstliche Personen“ diesen Einstellungen nicht ausgesetzt sind. Er übersieht dabei aber wohl die Effekte der Gruppendynamik auf der Ebene des verdrängten und realen Unbewussten. Insofern scheint auch Rawls’ rationale Konzeption einer fairen und gerechten Gesellschaft nur von einem Ort des Mangels und der Einsicht in die Gespaltenheit des Subjekts aus möglich zu sein.

4 Kant versteht unter „Vernunft“ ein „oberes Denk- und Erkenntnisvermögen“, unter „Verstand“ dagegen ein „unteres Denk- und Erkenntnisvermögen“ (Wildfeuer 2011, S. 238). Die Leistung des Verstandes besteht darin, Erscheinungen mit den reinen Verstandesbegriffen zu verknüpfen. Die Leistung der Vernunft ist es dagegen, unter diesen Verstandeserkenntnissen eine Einheit zu stiften. Kant unterscheidet einen theoretischen von einem praktischen Vernunftgebrauch: Während sich die theoretische oder reine Vernunft mit Existierendem, d.h. mit dem, was „da ist“, befasst, beschäftigt sich die praktische Vernunft mit etwas noch nicht Existierendem, das jedoch in Zukunft existieren soll, d.h. mit dem, was „dasein soll“ (Kant 1998, S. 701, B 661).

5 Der „kategorische Imperativ“ ist eine Art Handlungsanweisung, die sich an Wesen richtet, die über eine gewisse Vernunft verfügen, aber nicht jederzeit vernünftig sind bzw. vernünftig handeln. Diese Anweisung gilt in Form eines praktischen Gesetzes „unbedingt, ausnahmslos und allgemein“ (Schönecker, 2015, S. 152). In der Grundlegung der metaphysischen Sitten (1785) lautet die Formulierung dieses kategorischen Imperativs folgendermaßen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant 2016, S. 45). Unsere Maximen, nach welchen wir handeln, sollten also immer ein vernunftsbegründete Gesetz sein können, das für alle gültig ist. Die praktische Vernunft, wie ich den Begriff hier verwende, begründet hingegen keine Handlungsanweisungen, sondern wird seitens des Subjekts verwendet, um einen Entschluss für oder wider die Befolgung eines Aktualisierungsvorschlages zu fassen. Die praktische Vernunft kann z.B. für den Entscheid verwendet werden, ob ein moralisches Gesetz (bzw. eine Maxime) befolgt wird oder nicht.

6 Unter einer Präferenzordnung wird „eine Ordnung von Vorlieben verstanden, die ein Akteur für bestimmte Objekte oder Zustände hat. Sie sind die Grundlage für die Bewertung der Alternativen.“ Hier sind zwei formale Eigenschaften der Präferenzen entscheidend: deren Vergleichbarkeit und Transitivität. Das Axiom der Vergleich-barkeit lautet: „Für jedes Individuum, das zwei Objekte A und B miteinander vergleicht, muß eines der folgen-den drei Ergebnisse zutreffen: A wird B vorgezogen; B wird A vorgezogen; das Individuum ist gegenüber A und B indifferent.“ Daraus folgt das Axiom der Transitivität: „Für die Wahlen eines jeden Individuums in Bezug auf drei Objekte A, B und C gilt: Wenn A dem Objekt B vorgezogen wird, und wenn B dem Objekt C vorgezogen wird, dann wird auch A dem Objekt C vorgezogen.“ (Esser, 1999, S. 298)

 

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Autor:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa / IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.