Ein phänomenologischer Versuch über die Zusammengehörigkeit von Sprache und Zeit im Ausgang von Martin Heidegger.
Johannes Vorlaufer
Y – Z Atop Denk 2022, 2(9), 1.
Abstract: Wenn „therapeutisch“ im weiten Sinn des Wortes eine Befreiung des Menschen aus Verengungen meint, die es ihm verunmöglichen, die Weite und Tiefe seines Existierens zu erfahren, und wenn zu diesen unser Denken und unser Wesen bestimmenden Verengungen das Vorherrschen eines chronologischen Zeitverständnisses zählt, das mit der Zeit nur noch rechnend umgehen kann, dann ist eine Rückfrage nach der in einem gelingenden Gespräch möglichen ursprünglichen Zeiterfahrung nötig. Dies soll am Begriff der Gegenwart versucht werden.
Keywords: Hören, Zeit, Mitsein
Artikel als Download: Ganz Ohr sein
Heideggers phänomenologische Ontologie der Zeitlichkeit, welche die Daseinsanalyse rezipiert hat, erscheint mir von bleibender Denkwürdigkeit und ist keineswegs ausgeschöpft.
Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld (1995, S. 67)
Einleitung: Ganz-Ohr-sein als temporale Erfahrung im therapeutischen Gespräch
Manchmal tauschen wir Informationen aus. Und manchmal positionieren wir sprachlich Vorstellungen, die wir mit oder gegen Andere aufstellen. Manchmal reden wir einfach so, weil wir Angst vor der Stille und vor dem Schweigen haben: Ein Gespräch unter Menschen kann sehr vielfältig motiviert sein und in unterschiedlicher Weise geführt werden. Manch ein Gespräch aber gelingt unvermutet und lässt uns in eine Dimension menschlicher Existenz gelangen, wo mehr und anderes geschieht als ein Austausch von Informationen, ein Aufspreizen von Vorstellungen oder ein Zeit totschlagendes zerredendes Gerede.
Wenn ein Therapeut in einem professionellen Gespräch Gesprächsführungstechniken und ein fachwissenschaftlich-psychotherapeutisches Know-how beherrscht, so mag dies hilfreich sein, um das Nicht-Gelingen von Gesprächen zu unterbinden. Und dennoch kann das Gelingen eines Gesprächs auch in diesem Kontext nicht hergestellt werden, es kann weder beherrscht noch produziert oder in einem Terminkalender eingeplant werden. Sehr wohl aber können wir uns – gerade auch in professioneller Weise – durch Gespräche auf den Anderen einlassen. Dann kann es sein, dass wir in solch einem sich-einlassenden Gespräch „ganz Ohr“ sind.1
Was ist nun das Auszeichnende dieser seltenen und vielleicht „nur“ augenblicklichen Gesprächserfahrung von Sprechen, Hören und Gehörtwerden? Enthält dieses sich-einlassende Hören eine befreiende Dimension? Ist es in sich heilend in dem Sinne, dass es einen Zeit-Spiel-Raum öffnet, in dem wir ganz sein, d.h. selber je wir selbst sein können? Rückblickend auf den Gedanken, den ich entfalten möchte, könnten diese Fragen auch so gefragt und in eine gebündelt werden: Inwiefern gehören Spracherfahrung und Zeiterfahrung in das Selbe? Entgegen phänomenologischer Gepflogenheit möchte ich meine Frage als These formulieren, dass sich in einem gelingenden, und so auch in einem gelingenden therapeutischen Gespräch eine bestimmte ausgezeichnete Zeiterfahrung ereignen kann, die aus Verengungen in eine Weite und in ein Ganzsein befreit: die Erfahrung von Präsenz. Doch so schnell diese These in einen Aussagesatz umgeformt werden mag, wenn wir dem nachfragen, was mit der Erfahrung von Präsenz zutiefst gemeint ist, verwandelt sich diese These wieder zurück in ihr Fragwürdiges.
Wenn aber dies, ganz Ohr zu sein, die Grundweise eines gelingenden therapeutischen Gesprächs bestimmt, dann müssen wir dem nachgehen, was sich in diesem Hören zeigt. In seinem Vortrag Logos charakterisiert Heidegger dies so: „Ganz Ohr sind wir, wenn unsere Sammlung sich rein ins Horchsame verlegt und die Ohren und den bloßen Andrang der Laute völlig vergessen hat“. (Heidegger 2000, S. 220) So hörend haben wir keine Ohren und keinen Leib, sondern hören leibhaftig. Dies meint: Wir hören nicht mit den Ohren, sondern durch sie – denn wir selber hören und benutzen unsere Ohren nicht bloß instrumental als Mittel (vgl. Pöltner 1993, 2004 und 2018). Erst dann, wenn wir vergessen, dass wir Ohren haben, können wir ganz Ohr sein. Diesem vergessenden Nichthaben entspricht eine eigentümliche Zeiterfahrung, denn wir können nicht leibhaftig hörend beim Anderen sein und zugleich auf die Uhr sehen. Nur wenn wir die Zeit vergessen, sind wir ganz Ohr und in dieser Weise beim Anderen. Denn das Auf-die-Uhr-Sehen vergegenständlicht unser Sein in der Welt und Mitsein mit den Anderen. Ein gleich-zeitiges Blicken auf die Uhr hieße, nur noch technisch zu hören, das Gehörte gleichsam zu „scannen“. Dass unsere alltägliche Gesprächserfahrung auf weite Strecken hin ein solch technisches Hören ist, das nur noch Reizworte hört und damit auch den je Anderen über-hört, mag wohl auch im Vorherrschen eines bestimmten Zeitverständnisses wurzeln.
Sind wir ganz Ohr, so sind wir in einer gewissen Weise beim Anderen und seinem Gesagten, zugleich aber auch bei uns. Wir sind dann dem Gesagten näher als etwa dem Stuhl auf dem wir sitzen oder dem Telefon, das wir an das Ohr halten. Ganz Ohr zu sein heißt dann, sich einer Nähe zu öffnen. In einer temporalen Auslegung können wir statt von Nähe auch von Gegenwart sprechen. Doch was heißt hier „Gegenwart“? Reicht unser überkommenes Verständnis von Zeit aus, um diese eigentümliche Gegenwart zu begreifen? Welcher Verständnishorizont von Zeit lässt uns Gegenwart erfahren und nicht bloß eine Vorstellung von ihr konstruieren? Können wir einfachhin sagen, was die Zeit ist und wie sie sich zu erfahren gibt? Ist sie denn überhaupt, und wenn sie ist, wie gibt es Zeit? Und ist es der Zeit überhaupt angemessen, von ihr substantivisch zu sprechen so, als wäre sie ein Etwas? Müssen wir, wenn wir die Zeit beim Wort nehmen, nicht vielmehr ganz anders, nämlich zeit-wörtlich von der Zeit sprechen?
Wenn es nun zutreffen sollte, dass Zeit aus unserer alltäglichen Erfahrung her etwas Einfaches ist: Ist es nicht gerade das Einfache, das so schwierig zu verstehen ist? Konstruieren wir nicht gerade deshalb Theorien und stellen Vorstellungen zueinander in eine komplexe logische Beziehung, eine Beziehung von Über- und Unterordnung, um uns vor dem Übermaß des Einfachen zu schützen? Wer von uns vermag im Zeitalter von Wissenschaft und Technik überhaupt noch etwas so Einfaches wie eine Quelle als Quelle, blühende Blumen oder das Freie des Dunklen zu erfahren und erst recht zur Sprache zu bringen? Lässt uns nicht der alltägliche Umgang mit Leitungswasser der Erfahrung des Quellens der Quelle ähnlich fremd und fern sein wie der vom Floristen perfekt zusammengestellte Blumenstrauß bei all seiner Ästhetik die Erfahrung des Blühens überspringt? Und können wir in einer Zeit der Lichtverschmutzung überhaupt noch das Dunkle erfahren als das, was sichtbar werden lässt, oder ist das Dunkle in unserem Verstehen nicht von vornherein ein Mangel an Licht und die Nacht mit ihren Träumen das Noch-Nicht des Tages mit seiner Rationalität? Ein solch Einfaches ist auch die Zeit. Über sie sagen wir wissenschaftlich forschend als Atomphysiker:innen ebenso wie als Psychoanalytiker:innen, als Historiker:innen wie als Anthropologen:innen etc. Komplexes, doch sagen wir sie selbst? Denn die alle Wissenschaft konstituierenden Definitionen grenzen nicht nur ein, sondern grenzen auch ab und aus und geben uns dadurch die Sicherheit, über Phänomene sprechen zu können. Doch diese Sicherheit kann zerbrechen.
1. Gegenwartserfahrung im Kontext einer alltäglichen, tradierten Zeitauslegung
Unser alltägliches Verstehen von Zeit und ihre Auslegung entspringen einer alltäglichen Praxis, d.h. einem Entwurf unserer Existenz, und dies meint: Wir denken und handeln immer in Strukturen, Rahmen, die uns in unserem Dasein in der Welt zu einer gewissen Ordnung und Orientierung verhelfen. Solche Rahmen sind uns einerseits vorgegeben, anderseits schaffen wir immer wieder neue Normierungsinstrumente. In unserem Alltag hat Zeit v.a. eine normierende Dimension, die vorgibt, wie wir uns „all-täglich“ zu verhalten haben. Diese Zeiterfahrung entspringt einerseits unserem Verhalten, setzt aber auch umgekehrt Normen wie Pünktlichkeit oder Sparsamkeit. So wie wir alltäglich Geld zählen, sparen, verwerten, horten, vergeuden etc., so rechnen wir auch mit der Zeit und bewerten sie unterschiedlich, z.B. nach ihrer Effizienz oder Nützlichkeit, etwa als Freizeit. In dem Maß als wir von den vorherrschenden Denk- und Wahrnehmungsmustern einer auf Geldverwertung hin orientierten Welt und ihren Mechanismen beherrscht sind, können wir die Kostbarkeit der Zeit meist nur in den (vor)herrschenden Wertkategorien auslegen und erfahren.
Zu dieser lebensweltlich vorherrschenden Zeiterfahrung gehört, dass wir Zeit haben. Wir verhalten uns immer in irgendeiner Weise zur Zeit, die wir haben: gebrauchend-verbrauchend, sparend oder vergeudend nehmen wir uns Zeit für etwas, verfügen über sie, stehlen sie, richten uns nach ihr etc. Immer, wenn wir auf die Uhr blicken, rechnen wir mit Zeit und auch mit den anderen Menschen, die mit uns in derselben Welt leben. In der Welt in der wir leben ist sie eine Ordnungs- und Maßform der Dauer, sie ist charakterisiert durch Bedeutsamkeit, Datierbarkeit oder Öffentlichkeit. Innerhalb dieser „Weltzeit“ (Heidegger 1977, S. 553), die wir haben, tun wir jetzt dies, dann jenes: Unser Leben verläuft gleichsam auf einer Zeitlinie, die aus unendlich vielen Jetzten besteht. Zwischen dem Jetzt-nicht-mehr der Vergangenheit und dem Jetzt-noch-nicht der Zukunft findet sich ein sehr kurzes Jetzt: die Gegenwart. Eingespannt zwischen dem Nicht der Zukunft und dem Nicht der Vergangenheit ist sie selber eher ein Nichts als ein Etwas, dessen augenblicklicher Bestand stets von Vernichtung bedroht ist.
Die alltäglich relevante Zeitdimension der quantitativen oder qualitativen Berechnung der Dauer, die im Nacheinander abläuft hat Aristoteles definitorisch zu umfassen gesucht und schreibt in seiner Physica über den Chronos: τοῦτο γάρ ἐστιν ὁ χρόνος, ἀριθμὸς κινήσεωσ κατὰ τὸ πρὸτερον και ὔστερον (Aristoteles 1973, A 11, 219b 1 sq.). „Das nämlich ist die Zeit, das Gezählte an der im Horizont des Früher und Später begegnenden Bewegung“. (Übersetzung von Heidegger 1977, S. 556) In seiner Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie betont Heidegger, dass diese Definition keine Sach-, sondern eine Zugangsdefinition (Heidegger 1975, S. 362) ist, denn Aristoteles spricht von κινήσεως und nicht von κίνησις: er definiert also den Weg zum Verständnis der Zeit und nicht Zeit selbst. Diese verbirgt sich im „Horizont“, wie Heidegger in seiner auslegenden Übersetzung bei Aristoteles sieht.
Der Satz des Aristoteles ist einer der Grund-Sätze (zumindest der) europäischen Geschichte, der unser Tun und Denken trägt. In diesem Satz wird nicht nur etwas über die Zeit gesagt, sondern zugleich über uns selbst und unser Verständnis unseres Existierens in der Welt. Genauer: Es wird nicht nur etwas über uns selbst gesagt, sondern von uns selbst etwas über uns selbst zur Sprache gebracht: Wir bekunden darin mehr als bloß eine temporale Vorstellung, sondern auch eine Weise, wie wir uns „innerzeitig“ in der Welt seiend auf unser Dasein in der Welt verstehen.
Angesichts der Notwendigkeit der Gestaltung unseres Alltags haben die linear vorgestellte und als Aufeinanderfolge von Jetztpunkten ausgelegte Zeit und ihr rechnender Umgang ihre Berechtigung. Doch was ist, wenn diese Zeitauslegung zur maßgebenden wird? Wenn sie als vorherrschende unsere Zeitspielräume und die Spannweite unseres Daseins beherrscht und uns in unserer zeitlichen und geschichtlichen Weise, unser Dasein zu vollziehen, bestimmt? Dann könnte es sein, dass unsere temporale Selbstbestimmung zu einer Fremdbestimmung wird. War in historischer Perspektive gesehen die Übertragung der Uhrwerke von den Kirchen- und Rathaustürmen auf die Handgelenke der Versuch einer Emanzipation von zeitdefinierenden Autoritäten, so könnte diese Freiheit gegenwärtig in Unfreiheit umschlagen oder schon umgeschlagen sein. So analysiert etwa Rosa Hartmut in seinem 2013 in erster Auflage erschienenen Buch Beschleunigung und Entfremdung die vielschichtige Dimension einer durch Technik und Ökonomie verengten Zeiterfahrung und weist darauf hin, dass unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen eine Analyse der Zeiterfahrung eine vergleichbare Dimension und Notwendigkeit hat wie die ökonomiekritischen Analysen, die Karl Marx im 19. Jahrhundert unternommen hat (vgl. Rosa 2016).
Einen Zusammenhang zwischen der vorherrschenden Zeitauslegung und unserem sozialen Leben haben seit langem schon zahlreiche Autorinnen und Autoren gesehen, ich erinnere etwa an Georg Simmel, der bereits 1903 in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben schreibt, dass im Gefüge der Großstädte „ein unscheinbares, aber seine Wirkungen doch wohl merkbar summierendes Moment [wirkt]: die Kürze und Seltenheit der Begegnungen, die jedem Einzelnen mit dem anderen [...] gegönnt sind“. (Simmel 1984, S. 202) Oder an den Sozialpsychologen Alexander Mitscherlich, der vor einem halben Jahrhundert in unserer alltäglichen Betriebsamkeit eine neurotische Struktur gesehen hat, wenn er sagt: „Alle Faszination geht vom Handeln, von unruhiger Geschäftigkeit aus; Bedenken, Zaudern ist derart verdächtig, daß schon aus dieser Reaktion allein geschlossen werden könnte, wie neurotisch-prekär die innere Situation der verschiedenen Gruppen von Stadtbewohnern ist“. (Mitscherlich 1980, S. 47 f.) Auch der Soziologe Norbert Elias scheint eine Neurose zu beobachten, wenn er in seinem Buch Über die Zeit von einem eigentümlichen Zwang schreibt, nämlich vom „Selbstzwang zu wissen, wie spät es ist“. (Elias 1992, S. XIII) Nicht zuletzt möchte ich auf Marianne Gronemeyers Buch Das Leben als letzte Gelegenheit hinweisen, wo sie sehr präzise formuliert: „Wer etwas auf sich hält, kann es sich nicht leisten, Zeit in Hülle und Fülle zu haben. Nur geschäftige Eile verleiht die Aura der Bedeutsamkeit“. (Gronemeyer 1993, S. 73) Solch kritische Befunde verweisen indirekt auf die skizzierte aristotelische Definition der Zeit als eine Abfolge von Jetztpunkten. Zeit erscheint in der Rezeptionsgeschichte dieser Definition als ein Ding unter Dingen, als etwas im weiten Sinn Vorhandenes, das aber einen eigentümlichen Rückschlag auf uns selbst entwickelt.
In Hinblick auf die leitende aristotelische Zugangsdefinition zur Zeit könnte man also sagen: Die alle Wissenschaft konstituierenden Definitionen grenzen nicht nur ein, sondern grenzen zugleich auch aus und geben uns dadurch die Sicherheit, über Phänomene sprechen zu können. Doch zuweilen meldet sich das von den Definitionen Ausgegrenzte. Ereignet sich dies in Bezug auf die Zeit, dann kann sie uns unheimlich werden und uns aus dem Gewohnten herausfallen lassen. Doch nicht nur im Kontext ihrer Totalisierung, wo wir der Zeit offensichtlich ausgeliefert sind, auch in den kurzen Augenblicken des Alltags, sei es im Staunen oder im Erschrecken, in den Extremen von Stress und Langeweile (vgl. z.B. Heidegger 1983a, S. 117 ff.), an den Grenzen des Lebens, wo wir entdecken, dass die Lebenszeit zu kurz ist oder dass Unwiederbringliches geschehen ist, auch, ja gerade in der Normalität des Alltags selbst, dann, wenn wir geordnet und strukturiert den Tag so wie alle Tage verbringen und vermeinen, mit der Zeit rechnend die Zeit im Griff zu haben und das Zeitmanagement zu beherrschen, auch dann vermag uns der Fluss der Zeit zu belasten, zur Last werden. Denn Zeit vergeht – gemäß unserer Auslegung von Zeit.
Was in unserer geschichtlich überkommenen Zeitauslegung zugleich Bedingung und Ausgegrenztes ist, wird zweieinhalb Jahrtausende nach Aristoteles in Friedrich Nietzsches Zarathustra zur Sprache gebracht: „Diess, ja diess allein ist R a c h e selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚Es war’“. (Nietzsche 1980, S. 180) Rache aber lastet auf uns, sie belastet. Im alltäglichen ressentimenterfüllten Kampf gegen das Vergehen der Zeit sind wir unfrei. Dieser Kampf mag ein unscheinbarer und nicht als Kampf wahrgenommener sein, wenn wir etwa als Touristen vor lauter Fotografieren vergessen, selber zu sehen und stattdessen das Objektiv sehen lassen und das Erblickte nicht in der Erinnerung bewahren, sondern auf der Speicherkarte festhalten. Der Kampf mag ein freundlicher sein, wenn wir schöne Augenblicke festzuhalten suchen und so dem Vergessen zu entreißen trachten. Er mag ein strukturierter sein, wenn wir im Arbeitsprozess alles Tun dokumentieren. Denn überall lauert offenbar ein Nicht, das all unser Tun und Sein nichtig werden, in ein nihilistisches Nichts versinken lässt. Im Kontext der vorherrschenden Zeitdefinition kann aber die nihilistische Erfahrung von Zeit auch darin gründen, dass die Zeit gerade nicht vergeht. Günther Anders etwa hat in seinem Aufsatz zur Anthropologie der Arbeitslosen vermerkt, dass die leere Zeit der Arbeitslosen nicht nur keine freie Zeit, sondern dass sie leer im Sinne eines nihilistisch-pejorativen „Nichts“ ist.2
Der rechnende Umgang mit Zeit bringt nicht nur Stress ebenso wie Langeweile hervor, er lässt uns Zeit nicht nur totschlagen sowie verzweifelt ihr Dauern verlängern, er verdeckt v.a. zugleich andere, vielleicht tiefere Erfahrungsmöglichkeiten unseres zeitigenden Existierens. Und er lässt ob seines globalen und geschichtlichen Erfolges die Frage nach der Zeit selbst nicht nur im Dunkeln, sondern als überflüssig erscheinen so, dass das Nicht-Fragen nach ihr nicht einmal als Derivat, als ein Fehlendes vernommen wird. Pointiert hat Heidegger dies in dem Satz zusammengefasst: „ist einmal die Zeit als Uhrzeit definiert, so ist es hoffnungslos, je zu ihrem ursprünglichen Sinn zu gelangen“.3
2. Das Sein-Lassen der Zeit als ausgezeichnete temporale Erfahrung: Heideggers Frage nach der ursprünglichen Zeit und die Gesprächserfahrung
2.1. Zeit als das Frühere des Gezählten: die Kehre „gegen“ die chronologische Zeitauffassung als Einkehr
Dies unternimmt Heidegger: Seinen Versuch, nach der ursprünglichen Zeit als das, was die überkommene Zeitauslegung fundierend ermöglicht, zu fragen, könnte man als Kehre „gegen“ die chronologische Auslegung verstehen, genauer: als Einkehr in eine ursprüngliche Erfahrungsdimension und als Versuch, diese ausgezeichnete Zeiterfahrung entsprechend auszulegen.
Ein möglicher erster Schritt im Nachvollzug dieser Kehre wäre, zu begreifen, dass wir die Zeit also offenbar nicht so haben wie Dinge, sondern wir haben Zeit, aber zugleich hat die Zeit uns und bestimmt uns in dem, was unsere Existenz ausmacht: Wir selbst sind die, die wir sind, als von Zeit bestimmte, unsere Existenz selbst ist eine zeitliche, d.h. unser Existieren ist nicht einfach von der Zeit eingerahmt, sondern ist in seinem Wesen ein wesendes, d.h. sich zeitigend entwerfendes: Das Bestimmtsein durch die Zeit stimmt und trägt uns in vielfacher Weise, vergleichbar einer Melodie, und lässt uns unser Dasein in der Welt und mit Anderen austragen.
Wohnen wir „in“ der Welt, so muss man auch sagen: wir wohnen in der Zeit. Die formelhafte Auslegung des In-der-Zeit-seins könnte dahin missverstanden werden, als ob Zeit ein Etwas wäre, im weiten Sinne ein Vorhandenes, worin etwas geschieht, nämlich unser Leben. Damit aber würden wir übersehen, dass ja wir selbst es sind, die in der und durch die Zeit sie selbst sind. Noch genauer müsste man sagen, dass gerade dies, je wir selber zu sein – und damit letztlich auch unsere Personalität fundierend – uns nur als zeitliche Wesen ermöglicht wird. Das In-sein des In-der-Zeit-seins ist daher kein Vorhandensein-in, sondern ein im Horizont von Zeit Sich-zeitigen.
Wir können deshalb auch nur in der Zeit, uns immer schon zeitigend, Zeit, genauer: Zeitliches messen. Die gemessene Zeit, das Gezählte der Bewegung, ist nicht die Zeit selbst, sondern das Gezählte misst ein Dauern, also etwas Zeitbestimmtes, d.h. ein Zeitliches. Zeit ist somit weder ein bloßer Appendix unseres Lebens noch eine Eigenschaft der Uhr: Zeit selber ist nichts Zeitliches, in einer gewissen Weise ist sie „nichts“ und darin vergleichbar dem Raum, der ja auch nichts Räumliches ist.4 Und weil die Zeit selbst eher ein Nichts als ein Etwas ist können wir sie streng genommen auch nicht messen. Denn Messen heißt immer: an etwas ein Maß anlegen und Maßeinheiten zählen.
Die chronologische Auslegung der Zeit, die dem alltäglichen Gebrauch von Uhren korreliert und entspringt, ist fundiert in der Erfahrung eines offensichtlichen Vergehens der Zeit, und dies wird an der Bewegung des mechanischen Zeigers ebenso sichtbar wie bei digitalen Anzeigesystemen. Aber auch dann, wenn die Uhr still steht, vergeht die Zeit. Genau genommen können wir aber nicht einmal sagen, dass die Zeit vergeht, denn gerade indem sie vergeht, bleibt sie: Ihr Vergehen ist in gewisser Weise die Bedingung ihres Seins als einer Bleibenden. Deshalb schreibt Heidegger in Zeit und Sein: „die Zeit selber vergeht. Aber indem die Zeit ständig vergeht, bleibt sie als die Zeit. Bleiben heißt: nicht-schwinden, also anwesen.“ (Heidegger 2007, S. 7) Indem also die Zeit sich ständig vernichtet, aus ihrem Noch-nicht in ein Nicht-mehr übergeht, „ist“ sie Zeit. Überspitzt könnte man sagen: Sie „ist“, indem sie stets „nicht“ mehr ist. Daher muss gegen die an der Bewegung und ihrer Zählung orientierte aristotelische Rezeptionsgeschichte sogar gesagt werden: Mag die chronologische Auslegung der Zeit durchaus Richtiges sehen und das Vergehen als das spezifische Wesen der vulgären Zeit fassen, die „Zeit selbst im Ganzen ihres Wesens bewegt sich nicht, ruht still.“ (Heidegger 1985, S. 202)
In seiner Vorlesung Metaphysik des deutschen Idealismus aus 1941 fragt Heidegger: „Weshalb … kennt der Mensch die Zeit als Zeit?“ In der unmittelbar darauf folgenden Antwort wird Heideggers „Kehre“ sichtbar, wenn es heißt: „weil die Zeit eigens zum Sein des Menschen sich verhält. Die Zeit hängt ihm nicht nur als eine Eigenschaft an, sondern sie bestimmt das Da-sein, sofern dieses in sich den Charakter der Zeitigung hat.“ (Heidegger 1991, S. 49) Zeit kann also nicht zureichend als Kategorie, als eine kategorial bestimmbare Eigenschaft, also als ein Etwas an einem Etwas, bestimmt 4 Wie etwa Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft gesehen hat, v.a. in der transzendentalen Ästhetik. werden. Wir können sie etwa als Form der Anschauung nur mitbringen, weil sie uns immer schon „früher“ als uns Gegebene gegeben ist: Zeit ist früher als das Messen von Zeit, denn dies ist ein bestimmter Umgang mit ihr, den die Zeit selbst uns gewährt: „der Mensch kann nur deshalb mit der Zeit rechnen, weil das Menschsein durch die Zeitigung bestimmt ist, im ekstatisch Offenen der ekstatischen Zeit steht und deshalb zu ihr als Zeit sich verhält.“ (Heidegger 1991, S. 51)
Was meint aber nun das „Früher“? Bei aller chronologischen Konnotation muss dieses Früher jedenfalls Anderes meinen als ein Messbares, ein Gezähltes, es muss eine andere temporale Bedeutung haben i.S. einer „logischen“, d.h. einer, die sich uns zuspricht. Diesem Ursprünglichen soll nun nachgefragt werden.
Wir können also die Gegenwart nicht direkt erforschen. Sehr wohl aber können wir verdeckende Vorstellungen ihrer Erfahrung dekonstruieren. Umgekehrt können wir nun sagen, dass die Darstellung der Gegenwart als Jetzt-Punkt als Abwehr dieses Übermaßes zwar dem Phänomen nicht gerecht, aber als Schutzversuch verstehbar ist: Wir rücken die Gegenwart und ihre Nähe gewissermaßen in eine Ferne, damit sie uns nicht zu nahe ist. Deutlich wird so aber auch, dass die Auslegung von Gegenwart als Nichts eines Jetztpunktes ihr selbst unangemessen ist, denn sie ist eher als Fülle denn als Nichts zu bezeichnen – zumindest nicht als ein pejoratives Nichts, also als Mangel, sondern vielleicht, wie es manchem asiatischen Denken entsprechen würde, als Nichts der Fülle.
2.2. Das Wesen der Zeit als Versammlung in eine Gegenwart: das Lassen der Zeit als ursprüngliche Zeiterfahrung
Suchen wir unserem Sein „in“ der Zeit näher nachzugehen, dann dürfen wir uns nicht nur an der alltäglichen Erfahrung und ihrer innerzeitigen Auslegung orientieren, denn die ist durch den rechnenden Umgang eingeschränkt. Wenn Heidegger in der Vorlesung Metaphysik des deutschen Idealismus schreibt: Menschliches „Da-sein ist nicht ‚in der Zeit’, sondern ‚ist’ als Zeitigung der Zeit selbst“ (Heidegger 1991, S. 50 f.), so wird hier nicht die Innerzeitigkeit unserer Existenz geleugnet – innerzeitig sind wir aber nur in einer bestimmten Hinsicht –, sondern sein Satz muss so verstanden werden, dass wir den Begriff des Selbst betonen. In den beiden Satzhälften des Zitats wird das „Ist“ des menschlichen Selbstseins, d.h. seine Identität, unterschiedlich gesagt: Die erste Satzhälfte weist negativ-abwehrend darauf hin, dass der Mensch nicht ein vorhandenes Ding ist, das „in“ einem anderen Ding, der Zeit, existiert und mit ihr durch eine Copula verbunden ist. In der zweiten Satzhälfte weisen die Anführungszeichen des „Ist“ darauf hin, dass das „Ist“ überhaupt das Problem ist, das zu denken gibt. Denn die Formulierung „Zeitigung der Zeit“ lässt uns vertieft nach dem Wie der Zeit fragen. Heideggers Antwort in seiner Vorlesung: „Die Zeit ‚ist’ Zeit, indem sie sich ekstatisch zeitigt“ (Heidegger 1991, S. 50) entspricht ihrem fundamentalontologischen Pendant: Der Mensch existiert nicht nur, sondern er ek-sistiert. Heidegger verlässt nicht seinen Frageweg, denn die verbale, genauer zeit-wörtliche Antwort ist keine abschliessende Definition, sondern eher – analog zu Aristoteles – als Zugangsdefinition zu verstehen: Wie gibt sich Zeit selbst zu erfahren? Wie die Zeit als Zeit west bestimmt die Weise, wie das Menschsein vor-sich-geht:
„Es geht vor-sich, indem es in seinen Möglichkeiten sich vorweg geht und in diesen Möglichkeiten auf sich zu-kommt. So ist das Mensch-sein in sich zu-künftig und kommt dabei auf sein Gewesenes zurück und nimmt es in die Zu-kunft hinein und versammelt in all dem stets Zukunft und Gewesenheit in eine Gegenwart.“ (Heidegger 1991, S. 50)
Was ist damit gesagt? Die Zeit ist entgegen der vulgären Zeitauslegung nicht ein neutraler Rahmen, der um das Menschsein herumliegt, sondern der Mensch ist in das Kommende und Gewesene und Anwesende ent-rückt, d.h. er ek-sistiert. Diese Versammlung in eine Gegenwart kann als das Sein-lassen der Zeit bezeichnet werden: Zeit gibt uns in unser Anwesen frei. In diesem frei-gebenden Lassen als einem Entspringen-lassen beruht das, was ursprüngliche Zeiterfahrung genannt werden könnte. In seinem Vortrag Zeit und Sein sucht Heidegger dieses Lassen als ein Reichen von Gegenwart zu benennen: „Ankommen, als noch nicht Gegenwart, reicht und erbringt zugleich nicht mehr Gegenwart, das Gewesen, und umgekehrt reicht dieses, das Gewesen, sich Zukunft zu. Der Wechselbezug beider reicht und erbringt zugleich Gegenwart.“ (Heidegger 2007, S. 18)
In den Aufzeichnungen zur Temporalität aus den Jahren 1925 bis 1927 wird der Gedanke vom Lassen der Zeit aus Zeit und Sein präformiert, wenn es heißt:
„Es spricht sich aus die Gegenwart des Gegenwärtigens der Welt. Die Gegenwart ist ein Gegenwärtigen, d.h. z.B. ein Begegnenlassen eines Vorhandenen, nicht selbst (wie Vorhandenes) anwesend, sondern die Gegenwart ist gegenwärtig; gegenwärtig im Verhaltenssinne, nicht im Sinne von anwesend.“ (Heidegger 1998, S. 15)
Wenn Heidegger dieser Erfahrung von Zeit nachzugehen sucht, muss er im Denken und Sprechen über Zeit darauf achten, das Erfahrene nicht zu hypostasieren und wie einen Gegenstand zu beschreiben. Deshalb sagt er nicht einfach: „Es gibt Zeit“ im Sinne eines informierenden Aussagesatzes, sondern fragt: Wie haben wir die Zeit, die uns gegeben ist? Wie „haben“ wir die Zeit, die wir haben? Wie ist uns Zeit gegeben, wie gibt sie sich uns? „Es gibt Zeit“ ist ein einfacher Satz, der der Einfachheit der Frage nach der Zeit zu entsprechen sucht, ohne die ihm inhärenten Fragen aufzuheben: In dem Satz „Es gibt Zeit“ mit seinem tragenden Neutrum „Es“ sucht Heidegger Zeit wörtlich i.S. von zeit-wörtlich zu verstehen.
Wenn ursprüngliche Zeiterfahrung aus dem frei-gebenden Lassen eine ausgezeichnete genannt wurde, so meint diese Auszeichnung, dass sie uns Menschen zwar in der Weise des „immer schon“, d.h. als Apriori bestimmt und trägt, nicht aber, dass sie als solche in unserer Alltäglichkeit auch erfahren i.S. von: in einer (reflexiv sich vorstellenden) Bewusstheit als Vorgestelltes gegeben ist und in dieser Weise gegenständlich gewusst wird oder werden könnte. Das frei-gebende Lassen von Zeit ist uns vielmehr nur „augenblicklich“ zu erfahren möglich, es wird in der Erfahrung von Zeit ungegenständlich „mit“-erfahren. Genauer formuliert: Wir erfahren die ursprüngliche Zeit als uns gegeben, und implizit erfahren wir auch ein „Mit“, dies, dass die uns gegebene Zeit selbst gegeben ist und nicht nicht gegeben ist, d.h. also: In der Negation der Negation gibt sich uns das Geben eines Gebens zu erfahren und zu bedenken.
Heideggers Frage „Was spricht im Es gibt?“ (Heidegger 2007, S. 90) ist deshalb keine abstrakte Fragestellung, sondern verweist in eine ausgezeichnete Dimension unseres Daseins. Sie verweist nicht nur in die Alltäglichkeit unserer Existenzvollzüge, auf das, was hier und jetzt zu tun ist, auf die Zeit i.S. einer Folge von Bewegungen, sondern verweist in das Da des Daseins selbst: Ursprüngliche Zeit berührt uns in unserem Da. Waltet im „Es gibt“ der Zeit eine Sprache? Ein An-Spruch, der uns beansprucht, ohne etwas zu verlauten? Dann wäre das Sprechen der Zeit ein sehr stilles: Stille würde uns wortlos beanspruchen. Und die Zusammengehörigkeit von Gegenwartserfahrung und Sprache würde sich verdichten.
2.3. Von der Gegenwart des Gegenwärtigen im Gespräch
Suchen wir der Erfahrbarkeit dieser Zusammengehörigkeit weiter nachzudenken: Wir berühren hier jene Dimension eines gelungenen Gesprächs, wo wir sagen: Es hat uns gut getan, weil etwa ein geglücktes Wort die Vergangenheit verwandelnd eine neue Zukunft eröffnet. Ermöglicht wird dies dadurch, dass uns die drei Dimensionen der Zeit, wie es in den Zollikoner Seminaren heißt, gleichursprünglich sind,
„denn es gibt keine ohne die andere, alle drei sind für uns gleichursprünglich offen, aber sie sind nicht gleichmäßig offen. Bald ist die eine, bald die andere Dimension maßgebend, auf die wir uns einlassen, in der wir vielleicht sogar gefangen sind. Dadurch sind die andern beiden Dimensionen jeweilen aber nicht verschwunden, sondern nur modifiziert.“ (Heidegger 2006a, S. 61)
Mit diesen Alltagsbeispielen ist nicht bloß gemeint, dass wir uns Vergangenheit oder Zukunft vorstellen können, sondern Zeiterfahrung ist wesentlich radikaler, sie reicht in den Wurzelgrund unserer Existenz: Vergangenheit und Zukunft können verwandelt werden. Ermöglicht wird uns dies, weil uns nicht nur die Gegenwart gegenwärtig ist, sondern uns auch Vergangenheit oder Zukunft gegenwärtig sein können. Ursprüngliche Zeit ist deshalb im Gegensatz zu ihrer chronologischen Auslegung und ihrer Praxis nicht einfach vergänglich – was im Kontext eines allgegenwärtigen wertenden Denkens ja auch impliziert, dass die chronologische Auslegung Vergangenheit und Zukunft negativ wahrnimmt und nicht aus dem Möglichkeitsspielraum des Existierens heraus begreifen kann. TherapeutInnen denken hier vielleicht an Traumatisierungen, wo wir aufgrund von Verletzungen in der Vergangenheit gefangen sind. Wir könnten aber auch schlicht an unsere Geburt denken: Zwar ist sie historisch gesehen etwas Vergangenes, dennoch feiert jeder von uns jedes Jahr seinen Geburtstag, weil wir wissen, dass wir ein Leben lang gebürtig, d.h. Töchter und Söhne unserer Mütter und Väter sind: Geboren worden zu sein trägt uns ein ganzes Leben lang und ist mehr und anderes als ein vergangener Punkt auf einer Zeitlinie.
So sind wir durch ein uns eigentümliches Präsentsein ausgezeichnet, das uns jenseits einer chronologischen Auslegung von Zeit bestimmt. Präsentsein meint nun keinen Jetzt-Punkt, auch nicht ein Jetzt im Sinne eines Kontinuums und eines Ermöglichenden von Jetzten. Präsentsein als Gegenwart, wie sie etwa im gelingenden Gespräch erfahrbar ist, meint vielmehr, dass uns im Licht der Gegenwart nicht nur Gegenwärtiges präsent ist, sondern dass auch die Gegenwart des Gegenwärtigen selbst mit-gegenwärtig ist. Mit dem Begriff des Lichts kann dies veranschaulicht werden: Wir erfahren die Dinge nicht nur gelichtet im Licht, sondern das Licht selbst ist uns immer mit-gegenwärtig, wenn wir etwas im Licht sehen. Die Gegenwart des Gegenwärtigen ist uns nicht wie ein Gegenstand gegeben, sondern sie ist in dieser Gegenwart mitgegenwärtig, vergleichbar dem Licht, das uns in der Erfahrung gelichteter Dinge mitgegeben wird.
Davon ausgehend kann Gerd Häffner daher in seinem Buch In der Gegenwart leben schreiben: „Gegenwart kann so unerträglich sein, daß wir uns dadurch vor einer Verletzung schützen, daß wir ihr zu starkes Licht zu brechen versuchen, z.B. durch eine Vermittlung durch die beiden anderen Zeitmodi.“ (Haeffner 1996, S. 147) Die Gegenwart ist gewissermaßen zu viel für uns, so dass wir gleichsam wegsehen müssen. Das Beispiel fotografierender Touristen scheint mir hier sehr zugänglich zu sein, insofern sie einerseits die Erfahrung des Schönen festhalten, anderseits sich nicht direkt mit ihr auseinandersetzen können, sondern technisch vermittelt besitzen und in kleinen Dosen konsumieren wollen. Das Foto schützt gewissermaßen vor der Unmittelbarkeit und dem Übermaß des Schönen. In der Metapher des Lichts verdeutlicht Haeffner unsere Fragestellung: Wir kennen die Erfahrung, einem so starken Licht ausgesetzt zu sein, dass wir, weil zu viel Licht ist, nichts sehen. Zwar sehen wir alles im Licht, weshalb man dies auch als ein Gelichtetes bezeichnen könnte, doch Licht selbst, das uns in allem Sehen von Gelichtetem mitgegenwärtig ist, kann durchaus die Kraft haben, selbst nicht mehr gesehen zu werden. Die Gegenwart als jenes, was alles Gegenwärtige gegenwärtig sein lässt, ist zwar immer mit-gegenwärtig, doch die Gegenwart der Gegenwart selbst zu vernehmen ist vergleichbar einem starken Licht.
In den Beiträgen spricht Heidegger deshalb davon, dass Gegenwart „aufblitzt“:
„Wenngleich das Gegenwärtige niemals das Nichtige ist und an der Gründung der Erinnerung und Bereitung seinen Anteil hat, so dies alles doch nur, wenn das Gegenwärtigen des je Anwesenden schon getragen und durchstimmt ist von Erinnerung und Bereitung, aus deren Innigkeit immer nur die Gegenwart aufblitzt. Ursprünglich erfahren kann sie nicht nach ihrer Flüchtigkeit berechnet werden, sondern nach ihrer Einzigkeit.“ (Heidegger 1989, S. 257)
Im Aufblitzen von Gegenwart wird etwas offenbar in dem, „was“ und „dass“ es ist. Dieses Aufblitzen könnte daher als der Ursprung menschlicher Erfahrung verstanden werden, in der sich etwas lichtet und darin uns berührt, betrifft. Nicht das Allgemeine in seiner Allgemeinheit – in diesem Sinne der tradierte Seinsbegriff – wird in der Gegenwart des Gegenwärtigen vorgestellt bzw. begriffen, sondern das Anwesen des Anwesenden in seiner Einzigkeit.
In Hinblick auf die Anwesenheit eines anderen Menschen würde dies bedeuten: Der Andere als er selbst blitzt augenblicklich auf, und in der darin erfahrenen „Einzigkeit“ ist er nicht nur ein Vertreter eines Lebewesens. Heidegger spricht vom Aufblitzen der Gegenwart. In Sein und Zeit bzw. auch im sogenannten Ereignisdenken spricht er immer wieder von der Bedeutung des Augenblicks.
3. Augen-Blick und Er-äugnis. Fragmente zu einem denkwürdigen Moment ursprünglicher Zeiterfahrung bei Heidegger
3.1. Zur Augen-Blicklichkeit von Zeit in Sein und Zeit
Wie Katharina von Falkenheyn in ihrer Studie Augenblick und Kairos. Zeitlichkeit im Frühwerk Martin Heideggers (2003) ausführlich darlegt, muß Heideggers Analyse von Zeit und Augenblick im Kontext seiner Studien zu Aristoteles, Kierkegaard und Urchristentum gelesen werden. Im Folgenden soll der Begriff des Augenblicks in Sein und Zeit hingegen nur skizzenhaft und verkürzt entworfen werden, um das Thema ursprünglicher Gesprächserfahrung zu vertiefen: Der Augenblick kann nicht gemessen werden, das Jetzt und die gerechneten Jetztpunkte können ihn nicht fassen. Denn auch ihnen gegenüber wäre zumindest die Frage Heideggers aus seinen Aufzeichnungen zur Temporalität zu fragen: „Was besagt aber: es gibt das ‚Jetzt’?“ (Heidegger 1998, S. 11)
Zwar meint Augenblick in chronologischer Zeitauslegungsperspektive zu Recht eine kurze Dauer, so entspringt er doch nicht der gezählten Zeit, sondern der existenzialen Zeitlichkeit und existenziellen Eigentlichkeit. So wie der § 65 in Sein und Zeit „nicht isoliert“ (Heidegger 1983a, S. 227) zu verstehen und Zeit nicht als etwas zu begreifen ist, was neben, mit oder gegen den Menschen abläuft, so entzieht sich auch Augenblicklichkeit dem auf das Jetzt hinstarrenden Blick. Wie Heidegger in seinen Analysen zur Langeweile, sich explizit auf Kierkegaard berufend, Sein und Zeit komprimierend und weiterführend darlegt, meint Augenblick – genauer: Augenblicklichkeit als existenziale Seinsweise – die „Grundmöglichkeit der eigentlichen Existenz des Daseins“ (Heidegger 1983a, S. 224), bezeichnet einen „Blick eigener Art“ (Heidegger 1983a, S. 226), der den Bann der chronologischen Zeit zu durchbrechen und Entschlossenheit als spezifische Möglichkeit des Daseins zu eröffnen vermag. Der Augenblick, den Heidegger an der zentralen Stelle in Sein und Zeit kursiv als „Augenblick“ (Heidegger 1977, S. 434) schreibt, durchbricht aber auch den Bann der Körperlichkeit und lässt uns unsere Leiblichkeit erfahren: Im Augenblick geht es um uns selbst, und diese Selbstheit verbindet Leiblichkeit und Zeitlichkeit. Was ist das für ein Blick, der dem Augenblick eignet? Wie kann seine eigene Art gefasst werden? Erschöpft er sich in unseren Erfahrungen des Alltags, wo der feststellende Blick die Möglichkeiten des Daseins fixiert und im Ausrinnen von Welt die freie Zeitigungsmöglichkeit zerfließt?5
Heidegger spricht von einer ganz anderen Weise des Blickens, wenn er im inhaltlichen Anschluss an den Gedanken des Aufblitzens und Blitzens – „Das jähe Sichlichten ist das Blitzen“ (Heidegger 2005, S. 74) – in der Vortragsreihe Einblick in das was ist aus dem Jahr 1949, den Bremer Vorträgen, schreibt:
„‚Blitzen’ ist dem Wort und der Sache nach: blicken. Im Blick und als Blick tritt das Wesen in sein eigenes Leuchten. Durch das Element seines Leuchtens hindurch birgt der Blick sein Erblicktes in das Blicken zurück; das Blicken aber wahrt im Leuchten zugleich das verborgene Dunkel seiner Herkunft als das Ungelichtete.“ (Heidegger 2005, S. 74)
Dem zufolge gibt es einen lassenden Blick, der das Wesen birgt, das Gelichtete in seinem bergend-verborgenen Dunkel wahrt und in diesem Sinne dessen Wahrheitswesen hütet. Der Blick, der sein Erblicktes in das Blicken zurückbirgt ist ein Blick, der gewissermaßen gegen sich selber blickt, kein eindimensionaler bzw. intentionaler, sondern einer, der sein Blicken aus der Angeblicktheit erfährt. So wie das Denken gegen sich selbst denken muss (Heidegger 1983b, S. 80), will es die Sache des Denkens vernehmen, so lässt sich auch dieser Blick von seinem Anderen – in sprachlicher Terminologie könnte man sagen: in Anspruch nehmen.
3.2. In der Gegenwart des Anderen
Ganz Ohr sein als ein sich in An-Spruch nehmen lassen ist aber eine Weise, wie wir Gegenwart im Angesicht des Anderen erfahren können. Kann diese Erfahrung von Gegenwart des Anderen im hörenden Gespräch und Augenblicklichkeit sich in Heideggers Denken fundiert verstehen bzw. kann sich diese Erfahrung als durchdachte in Heideggers Denken spiegeln?
Ist Augenblicklichkeit von der Versammlung von Gewesenheit und Zukünftigkeit getragen, so gehört gemäß dem Grundgedanken von Sein und Zeit zu dieser Versammlung unser Mitsein: Als Gewesene sind wir gebürtig entfremdet sich mir zur Gegenwart, bei der der Andere gegenwärtig wird; ich bin in die universale Gegenwart geworfen, insoweit der Andere zur Anwesenheit bei mir wird. Aber die universale Gegenwart, die physikalische Zeit läuft in Richtung auf eine reine und freie Zeitigung davon, die ich nicht bin; was sich am Horizont dieser Gleichzeitigkeit, die ich erlebe, abzeichnet, ist eine absolute Zeitigung, von der ein Nichts mich scheidet“. (Sartre 1989, S. 355) und darin leibhaftig in einem Mitsein gegründet. Heidegger kann in den Zollikoner Seminaren daher sogar schreiben, dass die Zeit „uns im Mit- und Füreinandersein geschenkt ist“. (Heidegger 2006a, S. 65) Mitsein ist in Sein und Zeit somit nicht nur aus der alltäglichen Verfallenheit zu begreifen, sondern inkludiert verschiedene Weisen des Miteinanderseins. Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld hat diesen Geschenkcharakter von Zeit im Gedanken Heideggers aufgegriffen und gezeigt, wie ein personales Denken sich mit der Fundamentalontologie verschränkt verstehen kann. So heißt es etwa in seinem Aufsatz Zum Verständnis der Zeitlichkeit in Psychoanalyse und Daseinsanalytik:
„Diese Zeit ist uns gewährt, um für-einander zu sein; sie steht jetzt unter dem Zeichen des zukünftigen Seindürfens füreinander. Wenn Menschen einander zum Schicksal werden, nehmen sie sich nicht nur Zeit füreinander, die sie miteinander verbringen. Vielmehr wird die Zukunft des einen zur Zukunft des Anderen. Und weil sie einander Zukunft zu schenken vermögen, wird längst Vergangenes für sie wichtig und miteinander geteilt. Das Ganze ihres Daseins in der Erstreckung des Gewesenen kommt dadurch in Bewegung. Hineinversetzt und entrückt in das gegenseitige Entgegenkommen erscheinen sie nun wie verwandelt.“ (Wucherer-Huldenfeld 1995, S. 76)
Kann die Gegenwart des Anderen vielleicht sogar eine Stätte des Augenblicks sein? Die Beiträge, in denen der Blick mehrfach als Augenblicksstätte gefasst wird, legen dies nahe. So heißt es dort etwa: „Der Zeit-Raum ist in seinem Wesen als Augenblicksstätte des Ereignisses zu entfalten“. (Heidegger 1989, S. 323) Ganz Ohr sein, als Zeit-Raum und Zeitspielraum verstanden, wäre dann eine Stätte des Geschehens von Wahrheit, des jähen Aufblitzens eines abgründigen Seins, das uns in seinem uns-Berühren uns selbst und einander in der uns eigenen Eigentlichkeit gegenwärtig sein lässt.
Sucht man terminologisch an Sein und Zeit anzuschließen, könnte man zusammenfassend sagen: Ganz Ohr sein ist eine Weise der sich zeitigenden Entschlossenheit im Kontext eines ursprünglichen Miteinanderseins, genauer: eines Da-seins als eines für-sorgenden Mitseins.
3.3. Augen-Blick und Er-äugnis. Zu einem unentfalteten Gedanken in Heideggers Ereignisdenken
Wir haben versucht, uns dem Zeitverständnis Heideggers zu nähern. In den Beiträgen sucht Heidegger den Zeitbegriff von Sein und Zeit rückblickend in das Ereignisdenken einzubinden: „‚Zeit’ ist in ‚Sein und Zeit’ die Anweisung und der Anklang in jenes, was als Wahrheit der Wesung des Seyns geschieht in der Einzigkeit der Er-eignung“. (Heidegger 1989, S. 74) Der Heideggersche Terminus Ereignis berührt das, was in einer gelungenen Gesprächserfahrung das Gespräch als ein „gutes“ sich erweisen lässt. Und ist es „Zufall“, dass Heidegger gerade hier wieder den Begriff der Einzigkeit verwendet? Oder erfüllt sich hier sein Gedachtes im Kontext von Zeit/Augenblicklichkeit und Mitsein? Heidegger hat Hölderlins Vers „doch gut ist ein Gespräch“ aus dessen Hymnus Andenken tiefgehend erörtert (vgl. Vorlaufer 2017). Dort dichtet Hölderlin – und dies sei als Vorklang eines therapeutischen Geschehens (vgl. Vorlaufer 2016) gelesen:
„Doch gut
ist ein Gespräch und zu sagen
Des Herzens Meinung, zu hören viel
Von Tagen der Lieb’, Und Thaten, welche geschehen.“ (Zitiert bei Heidegger 1981, S. 123)
Das Ereignisdenken ist nun nicht ohne weiteres ein Eräugnisdenken. Dennoch deutet ein „definierender“ Satz Heideggers aus Identität und Differenz, einem seiner zentralen Texte, in diese Richtung: „Wort Ereignis ist der gewachsenen Sprache entnommen. Er-eignen heißt ursprünglich: er-äugen, d.h. erblicken, im Blicken zu sich rufen, aneignen“. (Heidegger 2006b, S. 45)
Ist dies Gedachte, aber nicht als „Werk“ Entfaltete, im Denken Heideggers dennoch als ein Denkwürdiges in seinem (Spät)Werk präsent? Gehören Augen-Blick als Grunderfahrung von Sein und Zeit und Er-äugnis als Grunderfahrung im Ereignisdenken ins Selbe? Können wir uns, vom Seyn gerufen, in seine Nähe gerufen erfahren? Ist Gegenwart als offener Zeitspielraum (vgl. Heidegger 1985, S. 202) einer, der unser Dasein trägt? Und ist er, wie „augenblicklich“ auch immer, im therapeutischen Gespräch, in der eigentümlichen Gegenwart des Hörens jenes Freie, das uns lichtend verborgen sein lässt? Öffnet sich in der Gegenwart des Gegenwärtigen ein Abgrund, der als Nicht des Seienden uns unser menschliches Selbst-sein schenkt?
Eräugnis als Anrufgeschehen? Wohin ruft dann der sein-lassende Blick? D.h.: Wohin ruft die lautlose Stimme, die Stille? Sein und Zeit, von hier rückblickend gelesen, gibt die Antwort mit dem Gewissensruf: Dieser ruft das Dasein als still zu werdendes in die Stille seiner selbst.6 Das Ereignisdenken ist so fundiert in der Fundamentalontologie: Heidegger spricht vom Selben wie in Sein und Zeit: der Möglichkeit, selber zu sein durch einen Ruf bzw. ein Geheiß. Ist dieser Ruf einer, der die „Einzigkeit“ wahrt, so wäre hier ein Ort, Heidegger neu zu verstehen: Dieser Ruf müsste uns beim Namen nennen. Geschieht dies? Ist hier ein unentfalteter Gedanke im Denken Heideggers geborgen?
Schluss: Zur therapeutischen Dimension augenblicklich-personaler Zeiterfahrung
Psychotherapie im weiten Sinn des Wortes kann verstanden werden als eine Befreiung des Menschen aus Verengungen, die es ihm verunmöglichen, die Weite und Tiefe seines Existierens zu erfahren. Und zu diesen unser Denken und unser Wesen konstituierenden Verengungen zählt wesentlich das Vorherrschen eines chronologischen Zeitverständnisses, das mit der Zeit nur noch rechnend umgehen kann. Eine auf der Grundlage des gegenwärtigen rechnenden Handlungsverständnisses und ihres Wirklichkeitsbegriffs orientierte „zeitgemäße“ Psychotherapie wäre technologisch orientiert: Sie würde nicht Personen begegnen, sondern den jeweiligen Fall eines Allgemeinen bearbeiten; sie würde nicht auf das Ungesprochene der Gespräche achten, sondern das Gesprochene auf Informationen hin durchscannen; sie würde nicht Nähe gewähren, d.h. also der Präsenz des Anderen einen Zeit-Spiel-Raum einräumen, sondern den Anderen so behandeln, dass man ihn „fertig“ macht.7
Eine therapeutische Praxis hingegen, die sich aus einem Handeln versteht, wie es Heidegger im Humanismusbrief als Vollbringen eines Bezugs bezeichnet, müsste den vorherrschenden Wirklichkeitsbegriff als Grundlage ihres Behandelns (vgl. Wucherer 2000) überdenken und den Begriff der Möglichkeit als existenzialen Begriff rezipieren. Sie könnte dann auf Sein und Zeit rekurrieren, wo es heißt, dass das Existenzial der Möglichkeit die „ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins“ (Heidegger 1977, S. 191) ist. Dieses Grundverständnis von Möglichkeit manifestiert sich etwa am Verständnis des Traums bzw. seiner Auslegung als einem Markstein therapeutischen Geschehens und markiert auch eine Bruchlinie zwischen unterschiedlichen therapeutischen Konzeptionen.8 Die Reflexion auf das Möglichkeitsverständnis mag zwar abstrakt anmuten, doch es steht in einem inneren Bezug zu Sprache und Zeit, wie es die voranstehenden Gedanken zu entfalten versucht haben. Deshalb informiert das therapeutische Gespräch nicht bloß, gibt keine Auskunft: Nicht das Verlauten ist das, was dieses Gespräch fundiert, sondern das Hören auf das Ungesagte und Unsagbare. Durch alles verlautende Sprechen hindurch und geborgen im Verlauteten hören wir dann nicht nur etwas, sondern jemand. Gerade wo das ausgesprochene Wort gebricht, kann im eigentümlichen „Nichts“ solcher Bruchstellen die Stille unserer selbst durchscheinen.
Bestimmt sich eine psychotherapeutische Praxis des Hörens aus der Möglichkeit, ganz Ohr zu sein, so öffnet sie einen temporalen Raum, einen Zeitspielraum der Gegenwart, d.h. des leibhaftigen Anwesens. Das Nichts dieser hörenden Stille ist nicht ein Nichts in einem pejorativen Sinne. Zwar gibt es eine Stille, die einem Mangel entspringt, eine hörende Stille aber reicht Präsenz und mit ihr Ganzheit. Sie heilt, indem sie Anwesen ankommen lässt. Und ihr Lassen lässt uns unser Gegebensein erfahren als ein Gewährtsein – und lässt vielleicht sogar ein Danken zu. Dieses Geschehen ist kein Gemächte des Therapeuten und kein Tun des Patienten, dennoch aber ein Geschehen, das beide beansprucht, ein höchstes Tun. Denn ganz Ohr zu sein ist eine Handlung, aber nicht ein Tun im Sinne einer willentlichen Aktivität, eher ein Tun eines Nicht-Tuns. Es bedarf einer langen Übung des Loslassens als Sich-loslassen ebenso wie als Sich-einlassen.
Ein solch therapeutisches Behandeln ist eine Form einer personalen Begegnung, insofern sie die Einzigkeit des Menschen schont und dem Patienten nicht rechnend begegnet. Schonend zerrt sie ihn nicht in das Grelle des Lichts, um ihn zu analysieren, sondern lässt ihn unverborgen sein, indem sie zuvor seine Verborgenheit hütet. In einem kleinen Nebensatz weist Heidegger darauf hin, dass die Würde des Menschen gerade darin beruht, „die Unverborgenheit und mit ihr je zuvor (sic!) die Verborgenheit alles Wesens auf dieser Erde zu hüten“.9
Meine Überlegungen wollten darauf hinweisen, dass die uns alltäglich bekannte Zeit in ihrer Einfachheit uns zu denken geben kann und dass unser epochal und geschichtlich geprägtes Vorverständnis auch unser Verständnis und unsere Erfahrung von Zeit bestimmt. Und dass es sehr schwer ist, dies Einfache einfach zu denken, weil dies impliziert, dekonstruierend das freizulegen, was unsere begrifflichen Konstruktionen überlagern. Zugleich hoffe ich aber, in aller Kürze gezeigt zu haben, dass dies die Praxis der Psychotherapie berührt. Denn nicht der Blick auf die Uhr ist der Grundvollzug der Psychotherapie, sondern die Übung der Sammlung als eine Übung des Sichöffnens für die Gegenwart des Anderen.
1 Vgl. dazu Vorüberlegungen zu dieser Thematik: Vorlaufer 2021.
2 Anders 1994, S. 2: „Die leere Zeit, ehemals bekannt nur als philosophische Abstraktion der immer schon erfüllten, wird hier in der Existenz des chomeur Wirklichkeit. Denn während sonst das Leben voll und ganz damit beschäftigt ist, sich mit etwas zu beschäftigen, und die Zeit nur die Ordnungsform seiner Beschäftigungen darstellt, ist Leben nun plötzlich sich selbst ausgeliefert und der Leere seiner – nicht vorwärtsgehenden, sondern stehenden Zeit. Denn je unbeschäftigter das Leben, desto langsamer seine Zeit. Aber sich mit sich selbst zu beschäftigen, die Reflexion im breitesten Sinne, ist diesem Leben eigentums- und beschäftigungslos nicht gegeben, denn Reflexion hat stets andere Motive [...] Hier aber ist das Leben lediglich durch etwas anderes ‚Äußeres’ auf sich zurückgeworfen und ohne daß es sich selbst dazu entschlossen hatte“.
3 Heidegger 2004, S. 122. Von diesem Ansatz könnte man auch mit Husserl ins Gespräch kommen: „Durch phänomenologische Analyse kann man nicht das Mindeste von objektiver Zeit vorfinden“. (Husserl 1928, S. 4)
4 Wie etwa Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft gesehen hat, v.a. in der transzendentalen Ästhetik.
5 Hier wäre ein möglicher Ort, um den Dialog etwa mit Sartre oder mit dem ethischen Denken von Lévinas – trotz aller Missverständnisse Heidegger gegenüber – weiterzuführen. Der Blick des Anderen wird bei Sartre nicht nur als verräumlichend erfasst – er ist auch zeitigend: In der Negation des Raumes als einem Moment der Negation des In-der-Welt-seins liegt ein Moment der Negation der Zeit: „Soweit ich den Blick des Anderen erfasse, verleiht er meiner Zeit eine neue Dimension. Als Gegenwart, die vom Anderen als meine Gegenwart erfaßt wird, hat meine Anwesenheit eine Außenseite; diese Anwesenheit, die sich für mich vergegenwärtigt, entfremdet sich mir zur Gegenwart, bei der der Andere gegenwärtig wird; ich bin in die universale Gegenwart geworfen, insoweit der Andere zur Anwesenheit bei mir wird. Aber die universale Gegenwart, die physikalische Zeit läuft in Richtung auf eine reine und freie Zeitigung davon, die ich nicht bin; was sich am Horizont dieser Gleichzeitigkeit, die ich erlebe, abzeichnet, ist eine absolute Zeitigung, von der ein Nichts mich scheidet“. (Sartre 1989, S. 355)
6 Heidegger 1977, S. 393: „Das Gewissen ruft nur schweigend, das heißt der Ruf kommt aus der Lautlosigkeit der Unheimlichkeit und ruft das aufgerufene Dasein als still zu werdendes in die Stille seiner selbst zurück.“
7 Adorno hat auf diesen alltagssprachlichen Ausdruck des „Fertigmachens“ als Ausdruck einer Verdinglichungspraxis mehrfach hingewiesen (z.B. Adorno 1977, S. 684).
8 Zum impliziten Möglichkeitsbegriff am Beispiel des daseinsanalytischen Traumverständnisses vgl. Vorlaufer, 2022b.
9 Heidegger 2000, S. 33. Zum Versuch, dieses Würdeverständnis zu entfalten, vgl. Vorlaufer (2022a).
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Autor:in: Prof. (FH) Mag. Dr. Johannes Vorlaufer studierte Philosophie, Psychologie, Politikwissenschaft und Theologie in Wien und München, er promovierte 1986. Derzeit ist er Lehrender an der FH Campus Wien, zuvor am Institut für Philosophie der Universität Wien und in Einrichtungen der Erwachsenenbildung.