Gedichte. Über Poesie. Gedanken zu einem Gedicht von Farhad Showghi

Ulrich Moser

Y – Z Atop Denk 2023, 3(4), 3.

Abstract: Farhad Showghis Text über die Stille ist ein Beispiel einer poetischen Mikrowelt (analog und doch verschieden vom Schlaftraum). Affektive (emotionale) und sprachliche Simulation von bildhaften Erlebnissen der Innenwelt und der Außenwelt werden vernetzt. Die Worte enthalten oft nicht direkt erschließbare Bedeutungen durch ihnen eigene features. Worte sind „Fühlworte“. Die Stille liegt in vielen Dingen. Sie vermag Erinnerungen zu bewahren und wird im aktuellen Erleben explizit. Was implizit mitgeht, ist die persische Welt in ihrer andersartigen Tiefe.1

Keywords: Traum, bildhafte und sprachliche Simulation, Stille, Vernetzungen

Veröffentlicht: 30.04.2023

Artikel als Download: pdfDurch die Worte fallen

 

1.

Die ersten Worte eines Gedichtes sind „dunkle Vorboten“, „Geheimwörter“, noch ohne eigene Identität und Bedeutung. Sie irritieren, versetzen uns in eine nicht definierbare Gestimmtheit Alice im Wunderland gleich, schlafwandelnd doch wach, fallen wir durch sie abrupt in eine uns nicht bekannte Welt. Sie eröffnet sich, erzeugt sensuell ein Netz von Beziehungen zu Dingen und Personen. Unversehens erleben wir Gefühle. Die dunklen Vorboten sind offensichtlich locker verknüpft mit dieser Mikrowelt, die uns sehr fremd, aber auch ähnlich einer eigenen, nicht aktiv erlebten oder gar unzugänglichen sein kann. Im Schlaftraum ist dieser „Fall“ bekannt.2

Hat sich einmal die Mikrowelt geöffnet, so geht es für den Leser darum, in dieser Welt einen Weg zu finden, als Zuschauer, als Wanderer, aber auch in Identifizierung mit dem Gestalter des Gedichtes. Er muss sich positionieren oder er wird durch die Welt, in die er gefallen ist, positioniert. Er stößt auf allerlei Dinge und es stößt ihm allerhand zu, eingehüllt von Stimmungen und den umhüllenden, impliziten oder ausgesprochenen Attributen des Ortes.

Die dunklen Vorboten sind so dunkel nicht, sie sind vielleicht „Fühlwörter“ Celans, genabelt an jene Gefühle, die sie evoziert haben oder an jene Gedanken, die man sich über oder gegen diese Gefühle bereits geformt hat. Jedenfalls führen sie in eine Mikrowelt, die sich gleichzeitig eröffnet wie auch verschlossen hält. Was ist das „innere Leben des Gedichtes“? Wohl nicht allein eine Sprachgestalt, die sich aktualisiert, die „inscape“ von Hopkins (1954), so wie er sie zu verstehen glaubte. Sie ist eine vom Autor gestaltete Innenwelt, die aus seiner eigenen entsprungen ist, diese jedoch gleichzeitig auch wiederum verbirgt. Denn das innere Leben muss verborgen sein (Zagajewski 2002). „Man darf es nicht öffentlich zeigen, erstens, weil es nicht photogen ist – es ist so durchsichtig wie Maienluft – und auch deshalb, weil es, wenn es die Öffentlichkeit auf sich ziehen sollte, sich in einen narzisstischen Clown verwandeln würde“ (Zagajewski 2002, S. 133). Gleichzeitiges Verbergen und Zeigen eröffnet dem Leser Pfade, die zum Verständnis oder in die Irre führen können. Das nicht eindeutig lokalisierbare Erleben des Gedichtes führt den Wanderer auf indirekten Wegen über die vielen inneren und äußeren „landscapes“ (Hopkins 1954) zu seinen eigenen, ihm nur teilweise bekannten Mikrowelten, die nicht oder nur annähernd jene des Autors sind. Mitunter werden im Gedicht auch Aspekte sichtbar, die sich dem Autor beim Schreiben des Gedichtes entzogen haben. Wer seine Innenwelt zu Bildern werden lässt, tut dies auch so, dass sie sein eigenes Geheimnis enthalten. Wie bei den Bildern des Wahns, wozu Michaux (1981) das Motto geliefert hat: „Se montrant ils se chachent / se cachant, ils se montrent.“

 

2.

„DIE STILLE WAR EINE HOSENTASCHE und keine Lüge und ist kurz da gewesen. Jetzt aber fahren Autos vorbei aus allen erdenkbaren Gründen, es legt sich ein Rauschen dazu, Kinder rufen und ich habe nur noch eine Hosentasche und eine Hand. Ich werfe einen Blick in den Himmel, ziehe einen Pullover an. Der Pullover hat die Wahl Pullover zu bleiben oder rechts Wolke mit Birken auf Brücke zu sein. Wäre ich jetzt selbst Pullover, würde ich die Entscheidung hinauszögern bis zum Horizont. Und ich frage mich, was aus der andern Hand geworden ist. Hätte ich doch schon Wolke mit Birken und Brücken an. Läge mir die Stille den Unterarm“ (Showghi 2008, S. 55).

 

3.

Showghi ist ein Meister der Vernetzung von Mikrowelten, in welchen sich Vergangenheit und Gegenwart durchdringen, einer Sprache, die nicht in sich selbst verwoben bleibt, voller Fühlwörter, die uns erlauben, uns in affektive Mikrowelten fallen zu lassen, deren Wechsel zu vollziehen und an den Wegen poetischen Denkens teilzunehmen. Das Gedicht ist vom Thema der Stille zusammengehalten. Dennoch lässt es sich aufgliedern. Das macht die Stationen der Wanderung deutlich. Wie Alice im Wunderland gerät man in immer wieder andere Bereiche allerdings verschlüsselter als jene Szenen. Ich gliedere das Gedieht in Situationen nach einer Methode, die wir bei Träumen und Wahngebilden verwenden (Moser u. von Zeppelin 1996; Moser 2008). Das erlaubt uns die Unterschiede und Ähnlichkeiten zu Träumen und zum Wahn im Einzelnen besser deutlich zu machen.

S1 DIE STILLE WAR EINE HOSENTASCHE,
sie war keine Lüge, sie war nur kurz da

S2 Jetzt fahren Autos vorbei
(aus allen erdenkbaren Gründen)

S3 ein Rauschen legt sich dazu

S4 Kinder rufen

S5 Ich habe nur eine Hosentausche und eine Hand

S6 Ich werfe einen Blick in den Himmel

S7 Ich ziehe einen Pullover an
(der Pullover hat die Wahl Pullover zu bleiben oder rechts Wolke mit Birken auf Brücke zu sein)

S8 Wäre ich jetzt selbst Pullover, würde ich die Entscheidung hinauszögern bis zum Horizont

S9 Ich frage mich, was aus der andern Hand geworden ist

S10 Hätte ich doch schon Wolke mit Birken und Brücken an

S11 Läge mir die Stille den Unterarm

 Die Texte in Klammern sind keine Situationen.
(aus allen erdenkbaren Gründen) ist ein kognitiver Kommentar.
(der Pullover hat die Wahl) ist ein inneres Attribut des Pullovers.
„Die Wahl haben“ impliziert noch keinerlei Aktivität oder Veränderung.
S8, S10, S11 sind Situationen im Konjunktiv. Zur Zeitfrage später.

 

4.

Das Wort Stille eröffnet eine Mikrowelt, die noch nicht von Lebewesen und Dingen bevölkert ist. Stille ist ein umhüllendes Attribut eines Ortes. Davon gibt es noch andere, die bereits sensorisch konkreter erlebt werden: z.B. Düfte. Laute, Nebel, visuelle, nicht figurale Phänomene. Man könnte auch sagen, der Ort sei die Aktualisierung der Stille, die auf diese Weise lokalisiert wird. In der poetischen Sprache könnte auch ein Ort für die Stille stehen (z.B. die Wüste). Dann wäre die Stille eine implizite Eigenschaft des Ortes (ein sog. „feature“). In diesem Gedicht weiß ich zunächst nicht, wo die Stille zuhause ist. Liegt sie in der Wüste, in den fernen kaspischen Bergen, die ich nicht kenne? Verlege ich damit die verloren gegangene Stille meiner alpinen Landschaft in das Gedicht? Oder ist es die Stille eines inneren Zustandes, die in mir anklingt und die ich dem Gedicht unterlege?

Im Gedicht selbst aktualisiert sich die Stille unterschiedlich. In S11 als: „Läge sie den Unterarm“. Als umhüllende Qualität kommt sie der gesamten Mikrowelt des Gedichtes zu, untergründig, als Ort selbst (der eine raumzeitliche Struktur hat), in welchem die Verwandlungen ablaufen, die in den Übergängen von Situation zu Situation zu beobachten sind. Nun hat die Stille drei Attribute: Alle drei sind in die Vergangenheit versetzt. Die Mikrowelt Stille war nur kurz da. Im Schlaftraum wäre sie präsentisch da oder nicht da. Dadurch, dass sie explizit im Gedicht genannt wird, ist sie für den Autor eine präsentisch gewordene Erinnerung. Über die sprachliche Festsetzung bleibt sie erhalten. Sinnliches und affektives Erleben wird in der Erinnerung nur geschwächt erhalten (Ausnahme: traumatische Situationen).

Die Stille (als Mikrowelt) vermag die Erinnerung zu bewahren. Denn Stille ist nicht einfach Stille, sondern evoziert in ihrer „Ruhe“ die Töne der Vergangenheit. Die Töne der Stille wiederum sind durch unsere Phantasie besiedelbar.

Die Stille ist „keine Lüge“. Lüge ist eine kognitive Bewertung des Wahrheitsgehaltes. Wahr ist auch wirklich. Was konkret anwesend war, ist keine Lüge. Und deshalb bleibt sie auch erhalten, wie alles was wahr ist. Die Stille „war eine Hosentasche“. Ein Ort wird durch einen anderen ersetzt. Der Wanderer durch das Gedicht sitzt nun in der Hosentasche, in einer neuen Mikrowelt. Gleichzeitig ist die Hosentasche ein erstes Objekt, das die Stille besiedelt. Stille wie Hosentasche sind Behälter. In der ersten hält sich der Autor auf, in der zweiten seine Hand. Der erste Behälter ist unbegrenzt, kann überall sein (auch überall bedroht), die Hosentasche ist ein figuraler Behälter mit konkret fühlbaren Grenzen. Ein Ort der Geborgenheit für die Hand, die Stille hingegen eine Welt der Geborgenheit insofern, als sie durch ihre Lautlosigkeit eine für das Subjekt geschlossene Einsamkeit ermöglicht, in der erinnerte und erfundene Welten gefühlt werden können. Zwei Mikrowelten sind ineinander verschachtelt und gleichgesetzt.

Stille enthält die große Ruhe, Hosentasche die Wärme und Geborgenheit. Beide sind mögliche Orte des Rückzuges.

 

5.

Liegt die Stille in der Entfernung, so liegt die neue Mikrowelt (S2) in der Gegenwart. Es tauchen „Autos auf, die vorbeifahren“. Das Subjekt ist Zuschauer. Bewegung ist den Objekten zugeschrieben. Sie ist alltäglich und zugleich anonym. Wie in einer Traumszene sind die Interaktionen delegiert, jedoch nicht verknüpfendes Element einer Beziehung zum Subjekt. Werden Gefühle aktualisiert, so bleiben sie doch fern, den Autos zugeschrieben und anonymisiert. In (S3) bleibt das Positionsfeld (eine andere Umschreibung von Ort) erhalten. Aus der Stille wird ein Rauschen (was möglicherweise auch von den Autos erzeugt werden könnte). Aus der Ruhe wird Bewegung, physikalisch von Dingen erzeugt. Die Anonymisierung bleibt, Stille ist nie absolut. Hat sie selbst ein Rauschen? Ein Inneres, das nicht an Objekten lokalisiert werden kann? Ist sie jener Grund, der uns die Bewegung von Dingen, ihr Knacken und Knarren, ihr Rauschen und Sausen erst erleben lässt, wie uns dies Manganelli (1987) so eindrücklich in seinem Text „Geräusche oder Stimmen“ hat erfahren lassen? Hier greift die Poesie auf die Fähigkeiten des Traumes zurück, Affekte zum Klingen zu bringen, sich zugleich mit mannigfachen Mitteln zu dämpfen, um sie für das Subjekt gerade jetzt und im Rahmen dieses Positionsfeldes (das Wo bleibt ja so unbestimmt wie die Stille) erträglich zu machen (vgl. Moser 2002, 2005 über die Rolle der Affekte in der Poesie).

Autos sind physikalische Objekte, enthalten aber zumeist auch Fahrer, Personenobjekte, die nicht direkt erfahrbar sind und deren Motive wir nicht erkennen. An dieser Stelle des Gedichtes tritt ein typisches Traumphänomen auf, eine kognitive Reflexion: „aus allen erdenkbaren Gründen“. Eine Erklärung gleichsam, die den Gehalt an Anonymisierung noch verstärkt. Für kurze Zeit wird die sinnlich resonante innere Beteiligung am Geschehen unterbrochen. (S2), (S3), (S4) liegen im selben präsentisch bleibenden Positionsfeld. Der Ort ist implizit da, wird aber nie genannt. Das Subjekt bleibt, sieht zunächst nur, dann sieht und hört es zugleich. Dann werden die Autos durch Kinder ersetzt (S4). Verwandlungen gründen neue Situationen mit neuen Potentialen des Geschehens. Das Rauschen wird zum Rufen, ein physikalisches Geräusch zu einer interaktiven menschlichen Stimme. Personen sind eingeführt worden. Doch die Anonymisierung bleibt in der Menge der Kinder erhalten. Das Rufen könnte an das Subjekt gerichtet sein, ist es aber nicht. „Kinder“ ist ein Wort, das mögliche Partner einer Beziehung bezeichnet. Diese Objekte (nicht einfach das Wort) eröffnen neue Mikrowelten, die zu erwarten sind. Sind sie präsentisch oder führen sie in die Vergangenheit zurück, zur kurz da gewesenen Stille?

 

6.

Behutsam wurden in (S2), (S3) und (S4) sinnliche Erfahrungen und Gefühle eingeführt. Der Poet tritt plötzlich auf (S4): „Ich habe nur noch eine Hosentasche und eine Hand“. Er wird zum gestaltenden Mittelpunkt, zum Zentrum des Geschehens. Im Traum würde man annehmen, dass das Objekt „Kinder“ sich in das Subjekt „Ich“ verwandelt hat. Das entspräche auch einer Emotionalisierung der neuen Szene. Zwei Beziehungen werden eingeführt: eine Beziehung zu einem Teil seiner selbst, zur Hand, und eine zu einem Bestandteil seiner Kleidung. Die Hosentasche ist, wie bereits erwähnt, ein Teilobjekt. Es ist daran zu erinnern, dass auch die Stille ein möglicher Ort der Hand ist. Die zu den Beziehungen gehörenden Gefühle werden nicht genannt, doch sind sie implizit da, in den anwesenden Entitäten und deren potentiellen Verknüpfungen. Sie sind immer noch die Geräusche der Stille. Hand und Hosentasche sind nicht eigenständige Objekte. Sie haben als grundlegende Eigenheit die Qualität der Zugehörigkeit und die Bedeutung einer unabdingbaren Funktion für das Ich. Doch einiges ist seltsam. „Nur“ weist auf eine fehlende Hand und eine fehlende Hosentasche hin. Das sind gemäß der Traumtheorie „missing objects“. Sie gehören zwar zur aktualisierten Mikrowelt, sind aber aus den interaktiven Beziehungen ausgeschlossen. Nahe am Erleben, aber nicht mehr da („nur noch“). Welche Hand fehlt? Die rechte oder die linke? Und die Hosentasche, passt sie zur noch vorhandenen oder zur fehlenden Hand? Es wird offengelassen, ob die Beziehung Hand-Hosentasche auch nur einseitig realisierbar wäre. Eine Beunruhigung liegt in der Luft. Die Hand wohnt in der Stille nicht. Schreck über das Fehlende wird nicht geschildert. Er liegt im Bild selbst, er ist nicht genannter Bestandteil der Mikrowelt in (S1). In einer solchen Situation, so lehrt wiederum die Traumtheorie, ist eine Unterbrechung notwendig.

Die affektive Spannung ist zu groß geworden, die Mikrowelt muss aufgehoben werden. Ein bisher verborgenes Problem wäre zu direkt in das Gedicht eingeflossen. Er wird auf eine Art und Weise vollzogen, wie man es auch im Traumgeschehen findet. In der folgenden Situation (S6) wirft das Subjekt „einen Blick in den Himmel“. Der Blick gleitet von den Objekten Hand und Hosentasche ab zum Himmel. Die visuelle Umleitung führt in eine neue Landschaft. Diese kann nicht interaktiv genutzt werden, außer man würde ein mystisches Geschehen im Himmel einführen. Zunächst bleibt der Himmel, dieser neue Ort, ganz leer. Er ersetzt die Stille und die Hosentasche, lässt aber auch offen, wie die Geschichte weitergeht. Das Subjekt verlässt in seinem Blick die vermissten Objekte. Sie tauchen in der nächsten Situation (S7) und auch später nicht mehr auf. „Meditierend“ werden Phantasien gelöscht. Der Himmel kann leer bleiben oder Zeit für das Entstehen neuer gewinnen lassen.

 

7.

Das erste Stück Theorie:

Kognitive Elemente können auf zwei Wegen aus einer Mikrowelt herausfallen:

1) durch eine Charakterisierung als „fehlend“;

2) durch Fallenlassen, solche Elemente werden in der Traumtheorie "drop out" genannt.

In beiden Fällen sind sie nicht mehr Träger von Beziehungen, weder Subjekte noch Objekte einer Interaktivität. „Drop outs“ insbesondere sind Objekte, die assoziativ weg vom Text des Gedichtes führen, sie werden nicht mehr in den Text aufgenommen und durch Beziehungen affektiv im Erleben angereichert. Elemente dieser Art gehören einer Phantasie an, die tiefer liegt als die gerade thematisierte. Hand und Hosentasche sind Teil einer solchen Mikrowelt, die vom Verlust und seinen Folgen handelt, Ängste und unangenehme Affekte enthält. Sie sind für kurze Zeit aufgetaucht und in eine aktualisierte Mikrowelt geraten. Dann fallen sie zurück in eine weniger bewusste, nicht erträgliche Phantasiewelt. Die verschwundenen Elemente hinterlassen Leerstellen, die sich in späteren Mikrowelten verstecken, sei es in Orten (im Himmel, im Pullover usw.) als situative Stimmung oder verwandelt in Substituten. Die Hand erscheint erneut (S9). „Und ich frage mich, was aus der andern Hand geworden ist“. Sie bleibt ein vermisster Teil des Selbst und bleibt beziehungslos in der Form einer Frage, eines rein kognitiven Vorganges reflexiver Art. Es lassen sich offenbar drei Stufen in diesem Gedicht unterscheiden, die mit unterschiedlichen Intensitäten und Qualitäten von Gefühlen zu tun haben:

1) Eine nicht ausgestaltete affektiv schwer ertragbare Phantasie, die Erinnerungen enthält.

2) Eine aktualisierte Thematik, die sich mit der Verarbeitung dieser untergründigen Mikrowelt auf einer dem Autor zugänglichen Ebene der Folgeerscheinungen beschäftigt.

3) Stete Versuche, Bruchstücke der primären Phantasie wieder in die aktualisierte Thematik einzuführen, affektiv schwieriges in tragbare Geschehnisse neuer Mikrowelten umzuwandeln.

Ein Auf und Ab von Welten entsteht, bis der Prozess des Gedichtes zu einem Ende kommt. Der Poet weiß selbst nicht, warum das Gedicht gerade so und nicht anders aufhört. Natürlich wird er sein ästhetisches Gefühl als Grund nennen: ein Empfinden der Schönheit und der Richtigkeit, ein Genügen der sprachlichen Formulierung. Ich würde meinen, dass dies lediglich Reflexionen über affektiv gesteuerte Prozesse sind. Diese bleiben, wie gesagt, dem Autor nicht zugänglich. Auch hier ist die Ähnlichkeit mit Traumprozessen frappierend. Eine Produktion eines Gedichtes enthält jedoch mehr spielerische Möglichkeiten. Sie verläuft auf einer kognitiv reflektiven Ebene, die Möglichkeiten der Sprachorganisation benützt. Träumen hingegen bleibt vorwiegend im bildhaft konkreten Denken. Reflexionen tauchen gelegentlich auf, sind aber nicht sprachlich, sondern mehr dem Geschehen implizite Fokussierungen der Wahrnehmung, die einer Regulierung des Geschehens dienen.3 Die poetische Arbeit „in der Sprache gewordenen Wirklichkeit“ (Felix Phillipp Ingold in Enzensperger 2005)4 kann sich in unterschiedlichem Maße aus der Abhängigkeit der untergründigen affektiven Mikrowelten befreien. Koppelt sie sich gänzlich ab, so entwickelt sie aus der Sprache wohl Bilder, verliert aber den persönlichen affektiven Gehalt und die Tiefe der eigenen affektiven Erfahrung. Worte sind nicht mehr „Fühlwörter“.

 

8.

Um den Faden wieder aufzunehmen: Der Blick in den Himmel hat Zeit für die Einführung einer neuen Mikrowelt geboten: „Ziehe einen Pullover an“ (S7). Ein neues Element ist aufgetaucht und ersetzt die Hosentasche. Die Beziehung zum Subjekt bleibt in beiden dieselbe. Die Hand findet Hülle und Wärme in der Hosentasche, das Subjekt im Pullover. Die Verwandlung verläuft über und unter Beibehaltung eines Attributes mit hohem affektiven Gehalt. Beides, Pullover und Hosentasche, sind Behälter (container), als Kleidungsstücke Hilfen für das eigene Selbst. In der neuen Situation erscheint der Pullover benützbar. Bei der Hosentasche ließ der Text es offen. Ein dermaßen alltäglicher Vorgang hat natürlich (im Traum wie in der Poesie) einen verborgenen Hintergrund. Würde das Gedicht hier enden, so bliebe seine Aussage beschnitten, das Ende für den Leser enttäuschend und das „Reentry“ beim Poeten banal. Die emotionale Komponente würde ihm entzogen. Eine Leere entstünde, welche nicht Stille – Hosentasche ist.

An dieser Stelle tritt eine Wende ein, die im poetischen Denken, nicht aber im Traum oder im Wahn möglich ist: Im Konjunktiv wird das Geschehen zu einer gedanklichen (rein kognitiven) Überlegung: (S8) „Der Pullover hat die Wahl, Pullover zu bleiben oder rechts Wolke mit Birken auf Brücke zu sein“. Aus dem Objekt ist das Subjekt einer neuen Welt geworden, das eine Wahl der Identität hat. Der Pullover wird personifiziert. Diese Zuschreibung einer Wahl fehlt in der Praxis des Traumdenkens. Die Wahl ist ja auch nicht bildhaft, obwohl die beiden Identitäten in Bildern dargestellt werden. Wir sind nun in einer Pulloverwelt, nicht mehr in jener des ursprünglichen Subjektes. In Wirklichkeit eröffnet der Pullover seine Welt nicht, sie wird lediglich als Potentiale thematisiert, die sich durch die Art der Identitäten ergeben. Die erste ist (links) so zu bleiben, wie man ist, die zweite wird als eine „sekundäre Mikrowelt“ geschildert: „Wolke mit Birken auf Brücke.“ In dieser Verwandlung bleibt der Pullover in einer Landschaft, er steckt in den Birken, der Brücke, den Wolken, wobei, was wiederum von Bedeutung ist, die Brücke die Birken trägt. Ohne selbst anwesend zu sein, ist er diese Welt. Erinnern wir uns, der Pullover ist die Hosentasche, die Hosentasche ist die Stille. Es taucht eine Landschaft auf, ohne dass hier belebte Beziehungen beschrieben werden. Gefühle können nur über die Stimmung anklingen, die dieses Bild auslöst. Das ist typisch für Erinnerungen, die sich aus der Ferne melden, behutsam, am Rande der jetzigen Mikrowelt, fern auch in der Weise, dass sie sich nicht wieder konkretisieren lassen. „... und ist kurz dagewesen“ (S1). Sekundäre Mikroweiten sind solche, die als Hoffnung bleiben, samt dem Schmerz, den sie in sich tragen können.

„Links“ und „rechts“ wird den Wahlmöglichkeiten beigefügt. Deren Bedeutung ist schwer zu erfassen, außer dass sich die beiden Seiten bei Händen und Hosentaschen auf den Körperraum beziehen. Taucht hier ein lokalisatorisches Attribut aus (S6) wieder auf?

In dieser fernen Welt, die mentales „inscape“ in „landscape“ verwandelt, die Welt der Emotionen verdichtet zum fernen Staub der Stille, hat sich der Himmel zur Wolke verwandelt. Birken werden von einer Brücke getragen. Birken sind zäh, hell und zerbrechlich. Es ist das Bild der „portance“ (im Französischen) des Getragenseins. Sie hat jene Relation abgelöst, die mit der Hosentasche und dem Pullover verbunden war: Das Enthalten, das Umhüllen, das „containment“ (im Englischen). Die spezifische Relation früherer Situationen ist umgewandelt worden. Die „portance“ löst das „containing“ ab. Mag sein, dass die Brücke auch einen Sturz in etwas Beängstigendes verhindert, das in der Mikrowelt nicht zu erkennen ist.

 

9.

(S8) „Wäre ich jetzt selbst der Pullover, würde ich die Entscheidung hinauszögern bis zum Horizont.“ Im wahnhaften Denken war es durchaus möglich, in seinem Erleben Pullover zu sein und so zu fühlen. Gelegentlich, aber sehr selten, wird eine solche Verwandlung auch in einem Schlaftraum berichtet. Solche Verwandlungen sind sehr schreckhaft und zutiefst erschreckend und können nur kurze Zeit dauern. Die Kernidentität geht verloren. Deanimierungen bedingen auch, Objekten völlig ausgeliefert zu sein, als Hilfsobjekte instrumentell benützt zu werden.

Das poetische Denken eröffnet einen neuen Weg aus dem präsentischen Geschehen der Verwandlung heraus. Die Mikrowelt wird konjunktiv. Die Phantasie wird explizit reflexiv: „Wäre ich...“. Explizit ist diese Phantasie zu nennen, weil sie sich auf eine bereits phantasierte Mikrowelt bezieht. Der Schreck der Verwandlung wird entschärft, entaffektualisiert.

Im Konjunktiv kann auch die Zeitachse geändert sein. Die präsentische Zeit der Mikrowelt, die das Subjekt in Form des Pullovers gesetzt hätte, entschwindet. Dann kann auch die Entscheidung hinausgezögert werden. „bis zum Horizont“.

 

10.

Ein zweites Stück Theorie:

Der Horizont begrenzt die Mikrowelt auf das, was endlich lokalisierbar und dem Erleben zugänglich ist: Es sind die präsentisch sichtbar gemachten erlebbaren Wechselwirkungen, Distanzen oder Interaktionen, zeitlich erlebbare Trajektorien, zentralisiert durch ein Subjekt, das die emotionalen Regulierungen einführt und die positionierten Elemente zu einem Beziehungsnetz verknüpft.5 Im Bereich der Mikrowelt liegt (relative) Sicherheit, die wiederum auf einem impliziten Grad der Fähigkeit der affektiven Regulierung gründet. Das endlich Zugängliche lässt aber, wie schon Leopardi (1998) im Zibaldone formulierte, die Sehnsucht nach dem Fehlenden jenseits des Horizontes bestehen. Es gibt eine Lust nach dem Unendlichen, weil es nur dort unbegrenzte Lust geben könnte (ich folge Leopardi). Es bleibt der Wunsch, den Horizont hinauszusetzen, in jenen Bereich des Unbestimmten, der jenseits jeden Horizontes liegt. Was nicht erreichbar ist, muss nicht die Qualität des Formulierbaren haben, wenn es auch die Gestalt einer erweiterten Mikrowelt annehmen könnte. Doch in diesen Zustand jenseits des Horizontes zu geraten, würde zur Desorientierung führen, zeitlich wie räumlich in einer nicht mehr bestimmbaren Welt. In dieser Desorientierung neutralisieren sich die gegenläufigen Ausrichtungen von Wunsch und Angst. Das wird in der Theorie der Poesie (vgl. Frey 2003 über die Desorientierung im Raum bei Leopardi) ausgiebig entwickelt. Es bleibt eine Ahnung von etwas, was vorläufig unerreichbar ist.

Was über diesen Bereich sprachlich gesagt werden kann, muss als Verstecktes im Bereich des Endlichen enthalten sein. Das poetische Denken reflektiert über diese Schwierigkeit, die Entgrenzung ins Unbestimmte einzufangen.6 Die durch das Gedicht eingeführten Elemente enthalten Potentiale weiterer Entwicklungen, weiterer Beziehungen, die höchstens in den Attributen und den „features“ der Objekte zum Ausdruck kommen.7 Nur selten wird ein Wunsch im Traum explizit dargelegt. Er zeigt sich in der präsentierten Mikrowelt immer nur in einer Form, die erlebt werden kann oder darf. Das Ende eines Traumes, einer Wahnphantasie, eines Gedichtes zeigt, wie weit der Horizont zurzeit hinausgeschoben werden und wie weit er bereits als Potentiale in der gegenwärtigen Mikrowelt eingebaut werden konnte. (Nebenbei: Jeder Wunsch ist in seinem Kern auch eine Erinnerung, die Potentiale sind in vergangene Erlebnisse rückgekoppelt).

Horizonte begrenzen Mikrowelten. Innerhalb liegt das Zugängliche, das Erlebbare, aber auch (teilweise) in Potentialen das für möglich gehaltene, jenseits des Horizontes liegende. Die Potentiale sind nicht offen formuliert. Sie stecken in den Attributen und features der Objekte. „Inscapes“ und „landscapes“ sind innere und äußere Landschaften, die bildhaft Mikrowelten repräsentieren. Sie sind das Resultat eines „grasp of the mind's eye“ (Hopkins 1954)8, die in einem bestimmten Zeitpunkt unsere vernetzten Beziehungen enthalten.

Was innerhalb einer aktualisierten Mikrowelt ist, hat die Qualität des Figuralisierten. Jenseits ihres Horizontes liegen andere Welten, die nur erahnt werden, jedoch ungewusst bereits angelegt sind. Was nicht heißt, dass sie sich auch aktualisieren lassen. Nun gibt es Zwischenlösungen, die eine potentielle Mikrowelt formulieren, sie aber gleichzeitig dem affektiven Erleben entziehen. Sie können somit leicht wieder verlassen werden. Im Traum gibt es die Lösung eines sekundären Interaktionsfeldes. Der Träumer bleibt Zuschauer, er sieht eine Mikrowelt, ohne in sie agierend oder fühlend involviert zu sein. Sie ist zwar präsentisch, aber nicht in die Selbstregulierung eingeschlossen, doch wahrnehmend partizipierbar, wenn auch unzugänglich und letztlich nicht verstehbar. Sie kann Erinnerung wie Zukunft zugleich sein, enthält aber in sich einen „zweiten Horizont“ (vgl. Frey 2003).

Das poetische Denken hat die Möglichkeit, sekundäre Mikrowelten über eine konjunktive Aktualisierung in das Gedicht einzuführen. Sie erzeugt die Illusion, sie jederzeit begehen zu können oder andererseits sie als nicht real in einem Schwebezustand zu lassen. „Wolke mit Birken auf Brücke“ erfüllt diese Bedingungen. Auch hier wie im Traum ist das „Reentry“ zum Autor anders. Es bleibt bei der Wahrnehmung des angetroffenen Bildes, die evozierten Gefühle bleiben am gesamten Bild in Form einer Gestimmtheit haften. Die ausgelöste Resonanz mit der „landscape“ führt nicht zu inneren Veränderungen der affektiven Regulierung. Die Wirkung auf weitere Situationen der Mikrowelt Gedicht bleibt vorerst suspendiert.

 

11.

Zurück zum Gedicht. Der Pullover bliebe in dieser Wahl nicht ein Zuschauer, der diese Mikrowelt sieht, sondern er wäre die mögliche Mikrowelt selbst. Doch der Entscheid ist nicht gefallen, die Rolle des Zuschauers fällt dem Poeten zu, der Wahn wird vermieden. Der Hinweis auf den Entscheid vermeidet auch das Betreten dieser Landschaft. Sie ist ein Produkt der Erinnerung und auch einer Hoffnung, einer Heimat vielleicht, die außerhalb des faktisch Erreichbaren ist. Und dennoch, gerade weil sie bereits Bestandteil des präsentischen Erlebens des Autors im externalisierten Gedicht ist, erzeugt diese „landscape“ Resonanz: im Leser mannigfache Vorstellungen, im Autor ein „Reentry“ dessen Wirkung wir in der Fortsetzung in (S9) erkennen. „Und ich frage mich, was aus der anderen Hand geworden ist.“ Ein fehlendes Objekt taucht wieder auf, ein „Drop out“ kehrt zurück. Wird hier in Frageform ein Wunsch, eine Sehnsucht aufgegriffen? Ist die andere Hand verloren gegangen? Oder in der eben erwähnten sekundären Mikrowelt enthalten und nur nicht auffindbar? Die Leerstelle bleibt. Hand und Hosentasche, Stille, Pullover sind anonym in diese Mikrowelt eingegangen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Horizont. Hände ertasten unsere Welten, brauchen dennoch ihren eigenen Ort der Wärme. Was die eine, die vorhandene Hand erfühlt, wird im Gedicht erfasst. Da die vermisste Hand in der Landschaft steckt, ist der konjunktive Wunsch: „Hätte ich doch schon Wolken mit Birken und Brücke an“, verständlich. Da sie auch identisch mit dem Pullover ist, kann man sie auch tragen.

„Läge mir die Stille den Unterarm“ (S11). Wiederum wird der Wunsch verwandelt. Aus der Landschaft wird die Stille. Sie ist Ort und Platz (über ein Attribut ausgedrückt) des ganzen Gedichtes. Trägerin einer Sehnsucht, eines Heimwehs. Erfüllt ist er nicht, bleibt jenseits des Horizontes, jedoch als gewünschte Möglichkeit präsent in der Mikrowelt des gesamten Gedichts. Nun irritiert eine Formulierung. Man würde dem alltäglichen Sprachgebrauch folgend „... auf dem Unterarm“ erwarten. Dann wäre die Stille wie der Pullover angezogen. Sie ist kein Kleidungsstück, auch nicht eine Tätowierung. Heißt „läge den Unterarm“ Stille sei auch identisch, gleichsam verschmolzen mit dem Unterarm? Die Verknüpfung ist intensiver. Die Stille ist nicht lösbar wie ein Kleidungsstück, das aus- und angezogen werden kann. Taucht in diesem „den“ die Einheit von Subjekt (Unterarm) und der Stille wieder auf? Wird hier zum Abschied aus dem Gedicht an das irritierbar Unbestimmte, Unzugängliche erinnert? Der Unterarm ist Träger der Hand, ein Ort der „portance“, des Getragenseins, wie die Brücke die Trägerin der Birken. Oder, noch inniger, die Hosentasche, jene der vermissten Hand. Die Kinder sind in (S4) aus dem Gedicht gefallen. Verbundenheit „…ist kurz dagewesen“ (S1). Bleiben sie im Bild der „Wolke mit Birken auf Brücke“ in der großen Entfernung erhalten?

 

12.

Ein letztes Stück Theorie:

Niemand spricht vom Verlassen eines Gedichtes. Wie endet die Mikrowelt? Verschwindet das Gedicht in der Stille? Haben die ausgelösten Gefühle eine Verfallszeit? Ein Gedicht kann als Text wortwörtlich gespeichert werden. Eine andere Form der Erinnerung führt zu einem „Reentry“, das affektive Reaktionen auslöst und sich in inneren Abläufen verliert, die unzugänglich sind. Innere Mikrowelten werden verglichen, umgeändert. Ein neues Gedicht kann zu einem späteren Zeitpunkt entstehen. Analoge Prozesse finden sich auch beim Leser. Was geschieht, hängt von den affektiven Reaktionen ab, die das Gedicht auslöst. Unsere Alltagswelt kann auch so dominant sein, dass eine Wirkung des Gedichtes abgehalten wird. Wir entwickeln täglich viele affektiv-kognitive Mikrowelten, die parallel bestehen bleiben können, die wir aber auch wieder verlassen. Es ist zu vermuten, dass sie alle miteinander vernetzt sind, sofern keine unangenehmen Affekte sich dazwischenschieben und Fäden des Netzes zerreißen oder unterbinden. Das gilt auch für Träume.

Mikrowelten können auch untereinander verwoben werden und eine einzige verdichtete Mikrowelt bilden. Auch dazu ist das poetische Denken fähig. Aber nie wird ein Traum zweimal geträumt (obwohl das immer wieder als Behauptung auftaucht). Das gilt auch für die Poesie. Das Verlassen eines Gedichtes betrifft nur seine uns zugängliche Aktualisierung. Ist es gar so, wie taoistisches Denken uns nahelegt, dass Poesie dazu dient, durch sie hindurchzugehen, in einen andern Zustand zu geraten? Der taoistische Dichter Yang Wanli (1127-1206) meint dazu: Wie macht man Poesie? Man lege Wert auf die Worte, nehme sie als das Wesentliche, verwerfe sie und lege Wert auf die Gedanken. Man verwerfe auch diese. In diesem doppelten Verwerfen hat die Poesie ihren Bestand.9

Weisheit spricht und denkt nicht, lässt aber beides gelten. Um zur Weisheit zu kommen, braucht es die Poesie, sie muss aber auch wieder verlassen werden. Verwerfen ist nicht ein Negieren, sondern ein Durchlaufen einer einmalig entworfenen Welt, die zu bildhaft affektiven untergründigen Welten führt. In unserem westlichen Denken deuten wir die Phänomene anders. Gedichte bleiben manchmal wie Inseln in der Erinnerung wieder aufspürbar, manchmal werden sie vom Alltag weggespült wie Tang. Manchmal gehen sie ein in unser implizites Beziehungswissen. Wie weit sie es verändern, erfahren wir höchstens nachträglich.

Die drei Stücke „Theorie“ sind explizite Reflexionen über die Sprache des Gedichtes, respektive über deren Verhältnis zum bildhaften Geschehen, das sprachlich eingefangen wurde. Der Wanderer durch das Gedicht hat dieses verlassen, bleibt noch in den Bildern eingetaucht unabhängig davon, ob er den genauen Wortlaut behält. Er macht sich nun Gedanken über sein eigenes Erleben des Erlebens des Autors, das ihm ja nur über dessen sprachliche Fassung zugänglich ist. Es wäre durchaus möglich, das nicht zu tun und wie Alice im Wunderland, auf der Bank liegend, die Spielkarten der Unterwelt in fallende Blätter zurück zu verwandeln und ihrer Schwester im Wachzustand ihre Geschichte zu erzählen. Eine reflexive Theorie über all das, was sie erfahren hat. ließ sie bleiben.

Die Sprachorganisation des mentalen Geschehens hat eine Eigenregulierung, die nicht in jener der bildhaft affektiven Prozesse enthalten ist. Beim Entstehen eines Gedichtes wird die letztere in jene der Sprache umgewandelt. Zum Beispiel ermöglicht die Sprache eine Selektion evozierter Teile der Bildgeschichte. Sprache abstrahiert das bildhafte Geschehen. Die Kunst der Poesie besteht darin, die Regulierung des bildhaften Geschehens möglichst gut in jene der sprachlichen abzubilden. Dabei kommt ihr zugute, dass die „poetischen Worte“ (Lombardi) einen Hof ausgesparter möglicher Geschehnisse und Bedeutungen mit sich tragen. In einem gewissen Sinne kann von einer Simulation durch die Sprache gesprochen werden (Moser 2008). Diese Abstraktion behält den affektiven Faden zu den Bildern, kann aber im Grenzfall auch abgekoppelt affektlos werden. Beim Lesen des Textes werden rückwärts wiederum emotional bildhafte Welten entworfen (beim Leser wie beim Autor). Das Abgleiten in Bildern ist dann fast zwingend. Die Worte entgrenzen in Bildern. Es werden Bilder entworfen, die bis ins Unbestimmte gehen können. Sie müssen nicht identisch mit der inneren Mikrowelt sein, aus der Text geworfen ist. Mit anderen Worten: Der Text simuliert Entwürfe von bildhaft mentalen Prozessen, die er dargestellt haben könnte. Beide Wege sind Simulationen: die erste in einer sprachlichen Fassung, die zweite rückwärts in eine bildhaft affektive Welt der Vorstellungen (Feldman 2006).

Sprache kann sich besser auf sich selbst rückbeziehen.10 Eine weitere Eigenschaft der Sprachregulierung führt dazu, dass die Sprachgebung sich gleichzeitig mit der Möglichkeit und dem Prozess der Sprachfindung beschäftigt. Dazu Frey (2008): „Es führt nicht einfach auf das hin, was es sagt, um selber als Sprachgebilde verschwinden zu können, sondern es bleibt als Sprechendes bei sich selbst, indem es immer wieder auf sich selbst zurückverweist. Das Sprechen des Gedichtes ist ein bei sich Verharrendes“ (Frey 2008, S. 236-237). Die Schönheit des Gedichtes wird gerade mit diesem Prozess der Eigenvervollkommnung verknüpft (vgl. dazu die Diskussion der Poesie Dantes und Jener von Hopkins in Frey 2008). Ein Gedicht ist in dieser Blickweise „schön“, dauerhaft und kommunizierbar, wenn es sprachlich (und rhetorisch) stimmig ist, unabhängig von dem, was es inhaltlich wiedergibt. Es bleibt jeweils die Frage, was von einer bildhaften Mikrowelt noch in ein Gedicht hineingebracht wird oder ob eine Abkoppelung stattgefunden hat. Im letzteren Fall sind andere Gefühle in der Regulierung wichtig, die Lust am Spiel der Worte, die Befriedigung an den eigenen sprachlichen Fähigkeiten, bis zu Stolz und Selbstverliebtheit, wenn sich die Rhetorik dazugesellt (die Sünde Luzifers), „in einer sich selbst feiernden Pracht“ (Frey 2008, S. 240).

Von der inneren Welt abgekoppelte Sprachspiele sind weit weg von der Stille hinter den vielen Welten Showghis, die ich begangen habe, vielleicht auf einer allzu subjektiven Spur, doch in der Ahnung, dass hinter ihnen fernere Welten, die nicht die meinen sind, verborgen bleiben.

 


1 Der hier zweitveröffentlichte Text erschien erstmals als Ulrich Moser (2009): Durch die Worte fallen... GedichteÜber Poesie. Gedanken zu einem Gedicht von Farhad Showghi. Zürich: Edition Howeg.

2 Es ist deshalb nahe liegend, das Konzept „Mikrowelt“, das dort eingeführt wurde (Moser u. von Zeppelin 1996) in die folgenden Gedanken zu Poesie zu übernehmen (s. a. Moser 2008). Das ganze Gedicht ist eine kognitiv-affektive Mikrowelt. Da es wie ein Traum eine Sequenz von situativen Räumen enthalten kann, werden für diese zumeist „Situation“, gelegentlich aber auch „Mikrowelt“ oder „Positionsfeld“ verwendet.

3 Auf die Verbalisierung im Traum möchte ich nicht eingehen. Siehe dazu Moser u. von Zeppelin (1996).

4 Anlass und Gegenstand des Gedichts ist also nicht die außersprachliche Wirklichkeit, sondern die Sprache selbst als Wirklichkeitsform (Felix Phillipp Ingold in Enzensperger 2005, S. 201-209, hier S. 202).

5 Siehe ausführliche Beschreibung von Mikrowelten in Moser (2008).

6 Insofern ist ihre Kunst euch eine Illusion. Sprache ermöglicht Vortäuschungen.

7 Attribute sind sichtbare (besonders erwähnte Eigenheiten), features, intrinsische Bestandteile der Morphologie und/oder assoziative Vernetzungen, die aktiviert werden können.

8 Hopkins (1954) verwendet allerdings „inscapes“ in einem anderen Sinn. Nämlich als Bezeichnung für eine sprachliche Gestalt, die den Dingen innewohnt. Da ist ein theoretisches Konstrukt, das meiner Ansicht nach eine Abstraktion einer inneren und äußeren Leidenschaft darstellt.

9 Vom Autor frei interpretiert nach einer Textstelle von Wanli, zitiert in Möller (2001).

10 Eine implizite Form der Reflexivität gibt es bereits in restriktiver Form im bildhaften Denken (Moser 2008, Moser u. von Zeppelin 2009).

 

Literaturverzeichnis

Enzensperger, Manfred (Hg.) (2005): Die Hölderlin Ameisen. Vom Finden und Erfinden der Poesie. Köln: Dumont.

Feldman, Jerome A. (2006): From molecule to metaphor. A new theory of language. Cambridge/London: MIT Press.

Frey, Hans-Jost (2003): Lesen und Schreiben. Basel: Urs Engeler.

Frey, Hans-Jost (2001): Dante. Fünfundzwanzig Lesespäne. Basel: Urs Engeler.

Hopkins, Gerard Manley (1954): Gedichte. Schriften. Briefe. München: Kösel Verlag.

Leopardi, Giacomo (1998): Gesänge, Dialoge und andere Lehrstücke. Zibaldone. Zürich/Düsseldorf: Artemis & Winkler.

Manganelli, Giorgio (1989): Geräusche oder Stimmen (1987). Berlin: Wagenbach.

Michaux, Henri (1981): Chemins cherchés. Chemins perdus. Transgressions. Paris: Gallimard.

Moser, Ulrich (2002): Traum, Poesie und kognitive Grammatik. In: Psyche 56, S. 20-75.

Moser, Ulrich (2005): „‚Wunderangstmacht‘ und ‚Abschiedsgrat‘. Lyrische Mikrowelten“. In: Marianne Leuzinger-Bohleber u. Ilka von Zeppelin (Hg.): Ulrich Moser. Psychische Mikrowelten – neuere Aufsätze. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 340-367.

Moser, Ulrich (2008): Traum, Wahn und Mikrowelten. Affektregulierung in Neurose und Psychose und die Generierung von Bildern. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel.

Moser, Ulrich, von Zeppelin, Ilka (1996): Der geträumte Traum. Stuttgart: Kohlhammer.

Moser, Ulrich, von Zeppelin, Ilka (2009): Implizite und explizite Formen der Reflexivität (am Beispiel von Traum, Wahn und psychoanalytischer Situation). Unveröffentlicht.

Showghi, Farhad (2008): Die große Entfernung. Basel: Urs Engeler.

Yang, Wanli (1127-1206): „Cheng zhai ji”. In: Sibu congkan I (1919-1936). Shanghai, Kap. 83, S. 690a-b. Zit. nach Möller, Hans-Georg. (2001): In der Mitte des Kreises. Daoistisches Denken. Frankfurt/M.: Insel Verlag.

Zagajewski, Adam (2002): Verteidigung der Leidenschaft. Edition Akzente. München: Hanser Verlag.

 

Autor:in: Ulrich Moser, Prof. emerit. Universität Zürich, ist Ausbildungsanalytiker der schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse (SGPsa/IPA). Aus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit sind diverse Veröffentlichungen in den Gebieten Traum, Wahn, Phantasie, Neurosen, frühe Störungen, Computersimulation, psychoanalytische Situation u.a. hervorgegangen. Zudem setzte er sich mit Poesie auseinander und veröffentlichte einen Gedichtband.