Béatrice Lefèvre-Ludwig
Y – Z Atop Denk 2024, 4(10), 2.
Abstract: Der folgende Austausch von Texten und die mit ihm verbundene Übersetzungsarbeit gehört in den Zusammenhang einer nun zwanzigjährigen Zusammenarbeit von Béatrice Lefèvre-Ludwig und Michael Meyer zum Wischen, die in Köln begann. Dazu gehörten zum Beispiel die Übersetzung von Lacan-Texten und die Auseinandersetzung mit Raymond Devos. Die folgende Abfolge von französischen Passagen, Übersetzungen und Kommentaren begann mit „Sur le verlan“ von Béatrice Lefèvre-Ludwig, der von Michael Meyer zum Wischen übersetzt und kommentiert wurde, worauf ein neuer Kommentar folgte und erneut eine weitere Übersetzung. Diese Arbeitsweise von Übertragung, Umschrift, Verschlüsselung und Dechiffrierung erscheint wie in einem spielerischen Übergangsraum als ein ins Werk-Setzen der Realität des Unbewussten, von der Lacan spricht. Wir können hier einen genuinen analytischen Forschungszugang entdecken, der zugleich der poetischen Dimension der Psychoanalyse Rechnung trägt. Das Verlan ist ein Phänomen, an dem wir einiges zu den Transformationen des Unbewussten lernen können.
Übersetzung u. Kommentar: Michael Meyer zum Wischen
Keywords: Verlan, Lalangue, Übersetzung
Copyright: Béatrice Lefèvre-Ludwig u. Michael Meyer zum Wischen | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.10.2024
Artikel als Download: Y - Z Atop Denk 2024, 4(10), 2.
Die Gräfin schreitet mit ihrer Mutter über die rutschigen Felsen voran, die das Meer bei der Ebbe freigelegt hatte.
Es ist ein schöner Morgen in Yport. Langsam kommen sie in Sonne und Wind voran, wobei ihre Gummistiefel mit den gewellten Sohlen am grünen Tang hängen bleiben, der die Felsen bedeckt.
Es ist eine Reise zum Horizont, man muss sich nur dem Rand des milchigen Schaums nähern, da, wo das Meer dem steinigen Belag begegnet. Und da, wenn man sich aufrecht hält, mit den von den kleinen Wellen liebkosten Füßen, bewundert man zur Rechten, wie die steinige Spitze Fécamps im Meer hervorspringt und zur Linken die weiße Klippe Etretats und das Nadelloch.
Es ist auch eine riskante Reise in die Zeit, sinnt die Gräfin. Ich gehe auf das sechzigste Jahr zu und meine Mutter auf ihre Achtzig.
Sie sieht ihre Mutter wieder, wie sie sich als junge Frau über sie beugt, das Kind, auf der winzigen Welt bewegter Gumpen von Wasser, welches das Meer zwischen den Felsen übriggelassen hat. Zwischen den grünen, ockerfarbigen und purpurnen Algen bewegen sich winzige Crevetten und kleine Krabben. Sie fischen sie nicht, betrachten sie ruhig, endlos.
Wir sind wie über kleine Ozeane gebeugte Riesen, wo geheimnisvolle Wesen leben, sagte damals die Mutter.
Fasziniert träumte das Kind und stellte sich seltsame unter den Algen verborgene Kreaturen vor. Sie liebte solche Augenblicke, Glanz des Lebens voll schaumigem Duft, die ihre ganze Kindheit erstrahlen ließen.
Die Gräfin reißt sich von ihrer Träumerei los und betrachtet voll Unruhe die Mutter, die auf den Felsen strauchelt und schwankt und sich dabei eines Stockes bedient, um ihr Gleichgewicht zu halten.
Warte Mutter, nicht so schnell, damit ich Dir helfen kann!
Meine Tochter, Deine Hilfe brauche ich nicht, ich kenne fast jeden Fels, jede Wasserlache seit fünfzig Jahren. Ich weiß auf dem Verlan zu gehen.
Auf dem Watt willst Du sagen?
Das ist das Gleiche, meine Tochter. Das Watt, das Verlan, beide sind schlüpfrig.
Ja, aber…
Watt denn: Denkst Du, ich bin vertrottelt und verwechsele alles?
Verlan und Watt, das ist schlüpfrig.
Nein, aber trotzdem…
Das Verlan und das Watt sind schlüpfrig!
Und so schlängt sie mit großem Schwung ihres Stockes einen Stein, als wollte sie ihre Worte in ihn einschreiben, sie dort eingravieren, diese Worte mit Gesetzeskraft.
Béatrice Lefèvre-Ludwig, Donnerstag, 9. Mai 2024
Übersetzung: Michael Meyer zum Wischen
Sur le verlan
La comtesse avance avec sa mère sur les rochers glissants que la mer a découverts à marée basse. C'est une belle matinée de juin à Yport. Elles avancent lentement dans le soleil et le vent, leurs bottes de caoutchouc à semelles crantées adhèrent au varech vert qui recouvre les rochers.
C'est un voyage vers l'horizon, il faut avancer jusqu'à la frange d'écume laiteuse, là où la mer rencontre la plaque rocheuse. Et là, si on se tient debout, les pieds caressés par les petites vagues, on contemple sur sa droite l'avancée de la pointe rocheuse de Fécamp dans la mer et sur sa gauche la falaise blanche d’Etretat et le Trou de L'aiguille.
C'est aussi un voyage hasardeux dans le temps, songe la comtesse. Je vais vers la soixantaine et ma mère vers ses quatre vingts ans.
Elle revoit sa mère, jeune femme penchée avec elle, l’enfant, sur le monde minuscule qui s'agite dans les vasques d'eau laissées par la mer entre les rochers. Entre les algues vertes, ocres et pourpres se meuvent des minuscules crevettes et des petits crabes. Elles ne les pêchaient pas, les contemplaient sans fin.
Nous sommes comme des géantes penchées sur de petits océans où vivent des êtres mystérieux, disait la mère.
L'enfant rêvait, fascinée, imaginant des créatures étranges cachées sous les algues. Elle aimait ces moments, éclats de vie aux odeurs d'embrun, qui illuminaient toute l'enfance.
La comtesse s'arrache à sa songerie et regarde, inquiète, sa mère qui trébuche et vacille sur les rochers, s'aidant d'une canne pour rétablir son équilibre.
Attends-moi, Maman, ne va pas si vite, que je puisse t’aider!
Je n'ai pas besoin de ton aide, ma fille, je connais presque chaque rocher, chaque flaque d'eau depuis cinquante ans! Je sais marcher sur le verlan!
Tu veux dire sur l’estran?
C'est pareil, ma fille! L'estran, le verlan, c'est gluant!
Oui, mais...
Mais quoi? Tu penses que je suis gâteuse et confonds tout!
Non, mais quand même...
Le verlan et l’estran, c'est gluant!
Et elle frappe d'un grand coup de canne un rocher, comme pour y inscrire, y graver ses paroles qui font loi.
Béatrice Lefèvre-Ludwig, le jeudi 9 mai 2024
Einige Gedanken zum Text von Béatrice Lefèvre-Ludwig „Über das Verlan“
Michael Meyer zum Wischen
Wir haben hier eine Miniatur vor uns, vielleicht ein Prosagedicht, eine Reflexion zugleich über die Sprache.
Eine Gräfin taucht auch, überraschend in unserer Zeit. Wenn wir an die Comtesse d’Orgueil von Thomas Corneille denken, die Comtesse de Charny von Alexandre Dumas, die Comtesse de Rudolstadt von Georges Sand und viele andere Comtessen in der französischen Literatur, dann ahnen wir, dass diese Gräfin im Diskurs mit ihrer Mutter, der Advokatin des Verlan, der Volkssprache, die Hochsprache vertritt, den Adel der französischen Sprache.
Verlan und literarische Sprache begegnen sich wie Ebbe und Flut, marrée basse und marée haute. Mit Lacan könnte man sich fragen, ob das lautmalerische Verlan mit seinen geheimnisvollen Klängen und seiner eigentümlichen Logik (des Rückwärtsschreibens) nicht Bezüge zur Lalangue hat, der vielfach tönenden Muttersprache, für die die Mutter der Comtesse im Text so eintritt. Sie kann verachtet werden, weil sie so klitschig ist, man auf ihr ausrutschen kann, wie es die Comtesse hinsichtlich ihrer sprachwandlerischen Mutter befürchtet. Für sie gleicht das Watt (das Waaas?!) dem Verlan. Das Watt ist eine mysteriöse, unheimliche, aber auch bedrohliche Welt, wie Béatrice Lefèvre-Ludwig es auch schildert: voller kleiner Lebewesen, Felsen und Algen, in denen man sich verfangen kann. Wattwanderer können auch ein Lied davon singen.
Wenn wir als AnalytikerInnen zuhören, müssen wir auf das Zusammenspiel von Sprache „des Vaterlands“ (patrie) und Muttersprache (langue maternelle) hören. Sie gehören zusammen und geben sich literarisch Kraft, wie sie auch in der Analyse eine lebendige Verbindung eingehen.
Interessant ist, dass zum Ende des Textes ein Schlag der Mutter(sprache) den gesprochenen Worten (paroles) Gesetzeskraft gibt, sie einschreibt und eingraviert.
Hören wir hier nicht einen Bezug zum loi de la mère, dessen Gesetzeskraft Geneviève Morel aus der lalangue ableitet, die die Mutter das Kind einschreibt? Dieses Gesetz ist außerhalb des symbolisch-väterlichen Gesetzes situiert und wurzelt im sprachlichen Genießen.
Letztlich beruht unsere Songerie/rêverie darauf, die im Watt (estran) eingeschriebene Geheimsprache eines Verlans entziffern zu können, durch die Sprache der Comtesse hindurch. Dazu gehört eine Generationenfolge.
Das Wilde kann so im Gezähmten Platz finden und das Gezähmte wieder aufgeschäumt werden. Beide Sprechweisen erscheinen als Versionen des großen Anderen, die sich aneinander wenden und ausrichten. So brechen sie sich wie das Wellenspiel einander, um der Gefahr einer erstarrten Sprache zu entgehen, in der sich die Subjekte nur narzisstisch spiegeln könnten.
Überlegungen zum Verlan
Béatrice Lefèvre-Ludwig
Man könnte sagen, dass das Wort ‚Verlan‘ symbolträchtig ist.
Es trägt die es begründende Regel bereits in sich, die Verkehrung der Silben.
Es ist der Ausdruck ‚verkehrt herum‘ (à l’envers) der durch seine Verkehrung das Wort ‚Verlan‘ rägte.
Das Verlan wird schon seit langem in anderen Sprechweisen verwandt, wie im traditionellen Argot, womit es den Geheimsprachen der Outlaws Kraft verlieh, um so den Polizeikontrollen zu entkommen.
Damit wird das Verlan selbst zu etwas außerhalb des Gesetzes, außerhalb der Kontrolle der klassischen, normativen Sprache.
In den Vorstädten und Stadtvierteln Frankreichs, findet die wirtschaftliche und soziale Verwerfung, die die Bewohner erleben, ihr kulturelles und linguistisches Echo.
So wird sich eine Sprache des Widerstands herausbilden, die von der linguistisch hohen Form des dominierenden Französisch ausgeht, eine Sprache, deren Wurzeln in das alte französische Argot eintauchen, in Worte arabischen Ursprungs, aus dem „tzigane“, aus dem Afrikanischen, aber auch Worte aus dem Slang, alle ins Verlan übersetzt. Diese Sprache taucht wie eine Welle auf, die eine dunkle, gewaltsame Welt mit sich zieht, die dem Leben der Vorstädte entspricht, das mit seiner lyrischen Schöpfungskraft und seinem schwarzen Humor überrascht.
Die Übertragung der Wörter ins Verlan bringt manche Linguisten zu der Idee, dass die Sprechweisen in den Stadtvierteln (cités/ceti) spiegelbildlich funktionieren.
Zu wem spricht das Bild des umgekehrten Wortes? An den (kleinen, spiegelbildlichen) anderen? Also an die eingeweihten anderen, die die gleiche kulturelle Identität teilen, dieselbe Geheimsprache?
Aber adressiert sie sich nicht Art in ironischer Weise an den anderen als Träger der normativen Sprache, die die Cités ausschließt und wiederum selbst vom Verlan ausgeschlossen wird?
Ein erstaunlicher Satz kommt mir in den Sinn, der Titel des Buches von Boris Seguin und Frédéric Teillard Les Céfrans parlent aux Francais Auf feine Art kann man hier den Aufruf des Radios in London an die Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Besetzung entziffern „Les Francais parlent aux Francais“.
In diesem Buch schaffen die Autoren, beide französische Professoren, mit jungen Leuten aus der Banlieue ein Wörterbuch des Verlan, welches denen ein Verständnis des Verlan ermöglicht, die nur die normative Sprache sprechen. Das Wörterbuch soll ein Aufruf für einen symbolischen Brückenschlag sein, durch den beide Sprachen in Dialog treten können.
Würde sich die Botschaft nicht an den großen Anderen richten, die Sprache, die Kultur?
Übersetzung: Michael Meyer zum Wischen
Réflexions sur le verlan
On pourrait dire que le mot verlan est un mot emblématique.
Il porte en lui la règle fondatrice, l'inversion des syllabes.
C'est l'expression «à l'envers» qui par son inversion a forgé le mot «verlan».
Le verlan est utilisé depuis longtemps dans d'autres types de parler comme l'argot traditionnel, renforçant ainsi les langues secrètes des milieux hors - la- loi pour échapper aux contrôles de la police.
Le verlan devient ainsi lui-même hors-la-loi, hors du contrôle de la langue classique, normative.
En France, dans les banlieues, dans les cités, à la fracture économique, sociale que vivent les habitants fait écho la fracture culturelle et linguistique.
Une langue de résistance va se construire à partir de la forme linguistique élevée, le français dominant, une langue plongeant ses racines dans le vieil argot français, dans des mots d'origine arabe, tsigane, africaine, mots du slang, tous verlanisés (Goudaillier 2001).
Cette langue émerge, comme une vague qui draine avec elle un monde obscur, violent comme la vie des banlieues, surprenante de créativité lyrique et d'humour noir.
La verlanisation des mots amène plusieurs linguistes à penser que les parlers des cités (téci) ont un mode de fonctionnement «en miroir».
A qui parle l'image du mot inversé? À l’autre? À tous les autres initiés qui partagent ainsi la même identité culturelle, la même langue secrète?
Mais ne s'adresse- t-elle pas aussi sur le mode ironique à l'autre, le porteur de la langue normative excluant les cités et exclu à son tour de la langue du verlan?
Il me vient à l'esprit cette phrase étonnante, titre du livre de Boris Seguin et Frédéric Teillard Les Céfrancs parlent aux Français (Seguin u. Teillard 1996). On peut y décrypter en filigrane l'appel de la radio de Londres aux résistants contre l'occupation nazie «Les Français parlent aux Français».
Dans ce livre les auteurs, deux professeurs de français, créent avec des jeunes de la banlieue un dictionnaire de verlan permettant la compréhension du verlan à ceux qui ne parlent que la langue normative. Le dictionnaire serait un appel à construire un pont symbolique où les deux langues pourraient entrer en dialogue.
Le message ne s'adresserait-il pas ainsi au grand Autre, la langue, la culture?
Béatrice Lefèvre-Ludwig
Literaturverzeichnis
Goudaillier, Jean-Pierre (2001): Comment tu tchatches ! Dictionnaire du français contemporain des cités. Paris: Maisonneuve et Larose.
Seguin, Boris u. Teillard, Frédéric Teillard (1996): Les Céfrancs parlent aux Français. Chronique de la langue des cités. Paris: Calman-Levy.
Autor:in: Béatrice Lefèvre-Ludwig, geboren in Nemours in Frankreich und in Köln wohnhaft, hat sowohl als Soziologin wie auch als Ethnologin an einer Forschungsarbeit der Universität Paris-Diderot mitgewirkt, in der es um Aufnahme und Sozialisierung noch junger Kinder in Köln und in Lille ging. Seit etlichen Jahren zentriert sie im Rahmen von Tagungen und Seminaren in Köln und Paris ihre psychoanalytische und literarische Arbeit auf die Verbindungen von Sprache und Unbewusstem: zum Beispiel die Kunst der Homophonie in den Sketchen von Raymond Devos und in den Texten von Lacan (Les noms du père/les non-dupes errent). Sie hat mehrere Seminare über den Rap und das Reichtum der Erzählweisen ins Leben gerufen, die in den französischen Banlieues kursieren.
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Übersetzer:in: Michael Meyer zum Wischen, Dr. med., ist seit 1998 in psychoanalytischen Praxen, derzeit in Hamburg tätig.
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