Evelina Jecker Lambreva

Y – Z Atop Denk 2022, 2(7), 1.

Abstract: In ihrer Briefnovelle ermöglicht Evelina Jecker Lambreva den Leser:innen im literarischen Vollzug sowie aus einer persönlichen Perspektive einen Zugang zu einigen der zentralen Themen der Psychoanalyse: Tod, Krankheit in der Familie, Traumdeutung und mehr. Im Folgenden handelt es sich um fünfzehn der insgesamt vierundvierzig Briefe, die monatlich im Y erscheinen.

Keywords: Briefnovelle, Tod, Trauer, Familie, Traumdeutung

Veröffentlicht: 31.07.2022

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16.

Liebe Oma,

bei uns ist alles wieder gut. Das neue Jahr hat prima begonnen. Und weisst du warum? Du errätst ganz sicher nicht, warum, Oma!

Stell dir vor, am zweiten Neujahrstag hörte ich draussen etwas wie ein Miauen. Ich war gerade aufgestanden und wollte mich waschen gehen. Zuerst dachte ich, dass es mir nur so vorgekommen ist. Dann aber lauschte ich und hörte es wieder miauen. Diesmal sogar lauter. Ich öffnete die Haustür, und wer stand da?! Lisa und Gala! Nass, dreckig, verschmiert und abgemagert. «Mama, Anton! Liza und Gala sind wieder zurück!», schrie ich. «Unsere Katzen sind wieder da!». Und bevor ich Mamas Antwort hörte, liess ich sie herein.

«Liza! Gala!», kam Anton herbeigelaufen. Er nahm sie eine nach der anderen in die Arme. Da zeigte sich auch Mama ganz verschlafen aus ihrem Zimmer. «Unglaublich!», schüttelte sie den Kopf. «Die Katzen haben den Weg zurück nach Hause gefunden! Davon hatte ich nur gehört, aber es nie geglaubt». «Wir jagen sie aber jetzt nicht wieder fort, Mama! Bitte nicht!», flehte ich. «Wir jagen sie nicht fort! Wir jagen sie nicht fort!», pflichtete mir Anton bei. «Sonst gehe ich mit ihnen weg», drohte er. «Nein, wir werden die Katzen nicht mehr aussetzen. Wenn sie einmal den Weg nach Hause gefunden haben, werden sie ihn immer wieder finden. Kommt, Kinder, geben wir ihnen zuerst etwas zu fressen, dann schauen wir weiter», sagte Mama und öffnete den Kühlschrank. Und während die Katzen hungrig vor sich hin frassen und Milch tranken, überlegten wir, wie wir sie verstecken könnten. Denn in den nächsten Tagen sollten die Leute aus der Agentur wieder auftauchen. Sie werden nachschauen, ob wir alle Anforderungen der Franzosen erfüllt haben. «Wir könnten doch Hektors Hundehütte hinters Haus bringen und als Katzenhaus einrichten. Dort wird sie niemand sehen», sagte ich. «Da müssten wir sie aber einzäunen, sonst kriechen sie heraus und kommen wieder hierher. Ich frage euren Onkel Milo, ob er einen kleinen Maschendrahtzaun ums Hundehäuschen aufziehen kann. Wir haben irgendwo in der Scheune noch eine alte Rolle Maschendraht». Gesagt, getan! Anton und ich fanden die Rolle Maschendraht in der Scheune, und Onkel Milo kam noch am gleichen Nachmittag. Wir haben das Hundehäuschen hinter dem Haus in den Nachbarhof platziert. Unsere hinteren Nachbarn arbeiten inzwischen im Ausland und sind über die Festtage nicht heimgekommen. Also können sie nicht sehen, was wir da angestellt haben. Das Häuschen haben wir von innen mit alten Kleidern ausgepolstert, damit die Katzen genug warm haben. Oma, jetzt wohnen Liza und Gala in Hektors Häuschen. Anton füttert sie und ist für sie verantwortlich. So schön!

Gute Nacht und Küsschen, Oma!

Deine Nadja

 

17.

Liebe Oma,

was für ein Wunder! Jetzt ist auch Hektor heimgekehrt. Aber wie! Julias Vater und ihr jüngster Bruder Andry haben ihn irgendwo zwischen zwei Dörfern aufgegriffen. Sie sind ihm zufällig unterwegs mit ihrem Pickup begegnet. Hektor war zuvor von einem anderen Auto angefahren worden und am linken Bein schwer verletzt. Er hat sich gerade quer über die Landstrasse geschleppt, als Julias Vater ihm mit dem Wagen entgegenkam. Er hätte Hektor beinahe total überfahren, denn er fuhr schnell. Onkel Juri hatte hinter einer Kurve natürlich keinen Hund oder so etwas erwartet. Er ging aber sofort auf die Bremse. Der Pickup stoppte, und da hat Andry Hektor erkannt. Andry und Anton gehen jetzt in die gleiche Schulklasse. Andry kommt hin und wieder zu Anton. Deshalb kennt er Hektor. Andry und sein Vater brachten dann Hektor zu uns nach Hause. Wie der bloss aussah! Er hatte Blut im ganzen Fell und atmete schnell. Sein linkes Bein hing wie ein Stück Holz an seinem Körper. Und er war so schlapp! Oma, er war fast tot! Als ihn Julias Vater bei uns im Korridor auf den Boden legte, konnte Hektor nur halb die Augen öffnen. Sobald er uns aber erblickte, bewegte er ein paar Mal den Schwanz. Mama und Anton weinten los. «Was macht denn euer Hund auf der Strasse, so weit vom Dorf entfernt?», wollte Andry wissen. «Er ist uns abgehauen!», log Mama. «Jemand hat das Gartentor offen gelassen, und da ist er davongelaufen. Das passiert nicht zum ersten Mal», log auch ich. «Er stirbt, er stirbt!», heulte Anton. «Onkel Juri, können wir ihn nicht in ein Tierkrankenhaus in die Stadt bringen? Bitte, Onkel Juri!», rief ich. Zum Glück willigte Julias Vater ein, Hektor ins Tierkrankenhaus zu fahren. Andry, Anton und ich gingen mit. Mama blieb zu Hause. Sie gab aber dem Onkel Juri einen guten Batzen Geld für den Dienst, den er für uns getan hat. Unterwegs habe ich Hektor die ganze Zeit auf meinem Schoss gehalten. Ich habe ihm auch zugesprochen, aber er reagierte nicht gross darauf. So ruhig habe ich ihn noch nie gesehen. Im Tierkrankenhaus waren alle sehr nett. Der Arzt sagte, man kann Hektor retten, aber er muss operiert werden. Und für einige Tage im Spital bleiben. Ich rief Mama an. Sie war sofort damit einverstanden. Sie sagte, sie fragt Tante Elvira, ob sie Hektor nachher bei sich aufnehmen können, bis das Baby geboren ist. Es dauert ja nicht mehr lange bis zum Frühling. Heute haben Tante Elvira und Onkel Milo zugesagt. Sie nehmen Hektor zu sich, wenn er vom Tierkrankenhaus zurückkommt. Ich weiss noch nicht, ob Hektor inzwischen operiert wurde. Vom Krankenhaus haben wir noch nichts gehört.

Liebe Oma, habt ihr im Himmel auch so viel Schnee wie wir hier auf Erden? Bei uns schneit es wie wild seit heute Morgen. Und der Schnee hält! Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel Schnee gesehen. Alles ist wie in weisse Watte verpackt, Häuser, Bäume, Strassen. Für Anton ist das auch neu. Er weiss aber nichts Besseres, als den Schnee vom Boden aufzulesen und zu essen. Er hat wohl gedacht, Schnee schmecke wie Milcheis. Er checkt das Leben halt noch nicht. Deshalb muss er morgen mit mir vor dem Haus Schnee schaufeln. Man sieht den Pfad bis zum Gartenzaun gar nicht mehr. Alles ist zugeschneit.

Gute Nacht, Oma!

Küsschen aus unserem Winterschloss

Deine Nadja

 

18.

Liebe Oma,

ich habe dir eine ganze Woche lang nicht mehr geschrieben. Aber heute Abend muss ich dir wieder schreiben. Denn heute war ein ganz schlimmer Tag für mich. Das Tierkrankenhaus hat bei uns angerufen und gesagt, dass Hektor gestorben ist. Sein Herz war zu alt und hat es nach der Operation nicht mehr geschafft. Oma, wir werden Hektor nie wiedersehen! Er wird zusammen mit anderen im Tierspital gestorbenen Tieren verbrannt. Schade! Ich bin so traurig, Omaaa! Sooo trauriiiig! Ich habe mich so gefreut, als ihn Onkel Juri und Andry lebend zu uns zurückgebracht haben. Und als die Ärzte gesagt haben, sie können ihn retten. Und jetzt ist er weg für immer. Verdammtes, verdammtes, verdammtes Franzosenbaby! Ab heute hasse ich es auch! Nur wegen ihm musste unser Hektor sterben. Hätte Mama ihn nicht aussetzen müssen, wäre Hektor jetzt am Leben. Er wäre neben mir am Schlummern. Mit seinem friedlichen Hektoratmen, das mich immer beruhigt und mir jede Angst genommen hat. Jetzt denke ich, es wäre besser gewesen, wenn er nie zurückgekehrt wäre. Als er zusammen mit den Katzen auf dem Feld ausgesetzt wurde, dachte ich überhaupt nicht daran, dass er sterben könnte. Nicht der Hektor! Mein tapferer Hund stirbt doch nicht einfach so! Er würde sich Fressen erkämpfen und irgendwo Unterschlupf finden, ich war mir sicher. Und jetzt gibt es ihn nicht mehr. Verbrannt wurde er. Wegen dem scheiss Franzosenbaby! In Mamas Bauch!

Anton und ich sollen uns nun etwas wünschen. Zum Trost, hat Mama gesagt. Wir werden also ein extra Neujahrsgeschenk bekommen. Und es dürfe auch etwas mehr kosten. Anton wünscht sich einen mega teuren Roboter-Hund, der singt, bellt, pinkelt, tanzt, schläft, schnarcht, furzt und was weiss ich noch alles sonst kann. Ich habe mich für ein Keyboard entschieden. Schon lange möchte ich Keyboard spielen lernen. Dann könnte ich dir, Papa und Hektor mal etwas vorspielen.

Oma, bitte gib mir irgendein Zeichen, sobald Hektor im Himmel auftaucht. Du wirst ihn sicher wiedererkennen an seinem halb abgerissenen rechten Ohr und an seinen grünen Augen. Und frag ihn bitte, ob es weh getan hat, als er verbrannt wurde. Im Himmel könnt ihr doch alle miteinander reden, da ihr ja die gleiche Sprache sprecht. Ich weiss, dass bei euch die

Himmelssprache für alle gilt, für Menschen und Tiere. Das weiss ich von Julia, die oft mit ihrer toten Mutter redet. Tante Nina hat ihr erzählt, dass sie sich viel mit all ihren verstorbenen Katzen und Geissen im Himmel unterhält.

Bitte, liebe Oma, sage Hektor, wenn du ihn siehst, dass wir ihn nicht einfach so weggejagt haben. Wir wollten das nicht. Die verdammten Franzosen haben das von uns verlangt. Hoffentlich kann uns Hektor verzeihen.

Gute Nacht, Oma

Deine heulende Nadja

 

19.

Liebe Oma,

es ist etwas ganz Spezielles passiert, das ich dir erzählen will! Julia hat sich mir heute anvertraut. Und ich mich ihr auch. Deshalb sind wir wieder gute Freundinnen. Wie früher! Stell dir vor, Oma, Onkel Juri hat eine neue Frau. Julia kennt sie noch nicht, ist aber gar nicht neugierig, sie kennenzulernen. Denn die Frau ist Ausländerin, und Julia hasst alle Ausländer. Die Frau ist zwar keine Engländerin, wie die Engländer, die Tante Nina in ihrer Fabrik vergiftet haben, aber Ausländer bleiben Ausländer, sagt Julia. Die meinen es mit uns nicht gut und wollen uns nur ausnehmen. Allesamt! Ich höre auf Julia, wenn sie so etwas erzählt, denn die war schon immer sehr gescheit. Inzwischen denke ich nicht mehr, dass sie uns beneidet, weil wir jetzt reich sind. Julia hat einfach Mitleid mit uns. Denn, Oma, Julia hat die Ausländer durchschaut! Und sie sagt, viele Freunde von ihr aus dem Gymnasium in der Stadt sehen es auch so: Ausländer kommen hierher, um von uns zu profitieren, überall, wo sie nur können. In der Stadt wimmle es inzwischen vor lauter Ausländergeschäften und -unternehmen. Dann habe ich ihr von dem Franzosenbaby und vom Besuch der Kindseltern bei uns erzählt. «Siehst du, was habe ich dir gesagt», rief Julia wütend. «Die denken, die können sich alles leisten und alles kaufen mit ihrem Scheissgeld! Wir sind für sie einfach extrem billig. Deshalb verachte ich jeden, der sich an Ausländer verkauft. Das gilt auch für meinen Vater! Wenn seine Deutsche bei uns einzieht, gehe ich ins Schülerinternat meiner Schule wohnen. Ich habe keine Lust auf Ausländer bei mir daheim.» Julia ist wirklich ausgerastet, Oma! «Aber wir können sie doch auch ausnützen. Wie du mir, so ich dir», sagte ich. «Wir können uns mit ihrem Geld ein tolles Leben machen und immer mehr davon verlangen. Bis es ihnen reicht und sie abhauen. Dann haben wir wieder unsere Ruhe, haben aber das Geld behalten, und unser schönes Leben auch.» Julia war damit nicht einverstanden. Sie meinte, wir müssen die Ausländer von hier vertreiben, aber anders. Denn es seien nicht nur die reichen Ausländer, die weg müssten, sondern alle. «Wie anders vertreiben?», fragte ich. Das wisse sie noch nicht, sagte Julia, aber sie kenne jemanden, der es wisse. Dann vertraute sie mir an, dass sie nun ihren ersten Freund hat, auch einen Gymnasiasten. Er kenne sich in diesen Sachen sehr gut aus. Mehr wollte sie mir nicht verraten.

Oma, ich kann aber Mama nicht verachten, so wie Julia das mit ihrem Vater tut. Mama weiss immer, was sie tut. Ich glaube Mama mehr als der Julia. Obwohl wir jetzt wieder Freundinnen sind. Es war sicher ein Zufall, dass Mama nicht von einem hiesigen Kind, sondern von einem Franzosenbaby Leihmutter geworden ist. Und das mit den Ausländern? Ich weiss es nicht, was ich darüber denken soll. Oma, wie ist es im Himmel? Habt ihr dort auch Ausländer?

Küsschen

Deine Nadja

 

20.

Liebe Oma,

oh weia, was schon wieder bei uns passiert ist! Es vergeht kaum ein Tag, an dem nichts geschieht. Und jetzt auch das noch …

Am Mittag haben wir noch nichts geahnt. Wir sassen nach dem Tee am Tisch. Mama hat nichts gegessen, da sie die ganze Nacht Bauchweh hatte und immer wieder aufs Klo musste. Deshalb kam sie auch erst gegen zwölf Uhr aus dem Bett und hockte im Nachthemd herum. Auf einmal floss Wasser aus Mama heraus. Sie stand vom Stuhl auf, um wieder aufs Klo zu gehen, und dann pinkelte sie ein. Sie pinkelte so stark, dass sie sofort eine grosse Pfütze am Boden machte. «Mama, warum machst du Pipi in den Kleidern?», empörte sich Anton. «Das darf man doch nicht!». Ich erschrak. Mama pinkelt doch nicht einfach so ohne Grund in der Stube. «Mama, was ist?», fragte ich. «Gib mir das Telefon», sagte sie. «Ich muss ins Krankenhaus. Aber ich bin nicht krank. Ich glaube, das Baby ist unterwegs». Dann rief sie die Ambulanz an. Ich machte ihr die Sachen fürs Krankenhaus parat. Eine halbe Stunde später lag sie schon auf der Bahre in der Ambulanz.

«Weisst du was?», sagte ich zu Anton, als der Krankenwagen wegfuhr. «Du und ich sind jetzt schuld, dass das Baby zu früh raus will. Es hat gespürt, dass wir es nicht bei uns wollen! Das ist schlimm! Hoffentlich stirbt es nicht.»

«Ich will nicht, dass es stirbt!», sagte Anton. «Aber Anton, du hast es ja auch so gehasst wie ich. Das war nicht gut». Anton packte mich bei der Hand: «Komm, gehen wir beten, damit es nicht stirbt».

Ich war sofort damit einverstanden. Also schlüpften wir schnell in unsere Mäntel und Stiefel und gingen zur Dorfkirche. Die war aber zu. «Wir können ja auch zu Hause für das Kind beten. Zu den Ikonen in Mamas Zimmer!», sagte ich. «Aber die haben uns doch sicher gehört, als wir gesagt haben, dass wir das Baby hassen. Die Tür zu Mamas Zimmer war ja immer offen.», meinte Anton. «Die werden uns nicht helfen, weil wir böse waren. Beten wir lieber zu Oma im Himmel. Die wird uns sicher helfen.» Hast du unsere Gebete gehört, Oma? Anton und ich haben den ganzen Nachmittag zu dir gebetet, dass du dem Kind hilfst, lebendig auf die Welt zu kommen.

Hast du tatsächlich geholfen, Oma? Denn das Baby ist jetzt da. Das Baby ist heute Abend gekommen, und es lebt! Zwei Monate zu früh, aber gesund!

Mama hat mich soeben aus dem Krankenhaus angerufen. Es geht ihr gut. Und auch die Geburt sei tipptopp gelaufen.

Oma, du kannst es dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, dass das Kind schon da ist. Jetzt werden Anton und ich wie früher Mama nur für uns alleine haben. Wir werden gemeinsam in die Stadt einkaufen gehen, wir werden lange spazieren, in einem feinen Restaurant essen. Jetzt haben wir das Geld dafür. Mama wird uns wieder ihre aufwändigen mega-leckeren Kuchen backen und unsere Lieblingsspeisen kochen. Alles ist wieder möglich, da Mama nicht mehr kotzen und ihren dicken Bauch nicht ständig schützen muss. Und es kommen mir keine Franzosen mehr ins Haus! Nie wieder! Ich werde diese dämlichen Eltern nicht mehr sehen müssen. Es war mir jedes Mal zum Kotzen, als ich daran dachte, dass ich sie wieder treffen muss. Sie haben nämlich damals gesagt, dass sie kurz vor der Geburt nochmals bei uns vorbeikommen werden. Jetzt werden die das aber nicht tun. Und auch die Kasper-Leute von der Agentur werden nicht mehr hier aufkreuzen. Wir haben endlich wieder unsere Ruhe. Juhuuuui!

Gute Nacht, Oma!

Deine glückliche Nadja

 

21.

Liebe Oma,

Mist! So ein Mist! Mama geht es nicht gut und ich weiss nicht, wie ich ihr helfen kann. Die Franzosen haben ihr Baby abgeholt. Alles hat geklappt, es gab keine Probleme, Mama kam nach der Geburt sofort nach Hause. Anton und ich haben uns so gefreut auf unser neues Leben mit ihr! Aber jetzt kommt sie wieder kaum aus dem Bett heraus. Sie kotzt zwar nicht mehr wie früher, als sie schwanger war, aber sie ist müde und mag kaum sprechen.

Gestern kam Tante Elvira auf Besuch. Da stand Mama auf. Wenn du sie siehst, da kannst du nicht sagen, dass sie krank ist. Denn sie bewegt sich richtig und ist gar nicht blass. Aber sie ist sehr langsam in allem. Tante Elvira brachte uns einen Kuchen mit, den sie selbst gebacken hat. Wir setzten uns an den Tisch, Mama ass und trank mit. Zwar nicht sehr viel, aber ein Stück Kuchen schaffte sie schon. Da fragte die Tante Mama, wie es ihr so geht. «Beschissen!», antwortete Mama. Und dann erzählte sie Tante Elvira, dass ihr die Franzosen viel weniger Geld bezahlt haben als abgemacht war. Weil das Baby zu früh auf die Welt gekommen ist. Jetzt reicht ihr das Geld nicht, um sich ihren Lebenstraum zu erfüllen: einen zweiten Stock auf unser Haus zu bauen. Du weisst, mit Seesicht von den Terrassen und so … Und mit Zimmern, die sie im Sommer an Badetouristen vermieten wollte. Und da das Baby zwei Monate zu früh kam, haben wir in den nächsten zwei Monaten kein neues Geld. Das heisst, ich bekomme kein Keybord und Anton kriegt keinen Roboterhund. Das tut Mama sehr weh, denn sie hatte uns diese Sachen versprochen. Zum Trost dafür, dass wir Hektor nicht mehr haben. Ich sagte: «Mama, mach dir bitte keine Sorgen. Anton und ich müssen diese Sachen nicht jetzt sofort haben.» «Was heisst, nicht jetzt sofort? Ihr müsst das Zeug gar nicht haben. Ihr müsst lernen zu verzichten, sonst wird nichts aus euch! Ihr seid inzwischen zwei sehr Verwöhnte geworden», tadelte mich Tante Elvira. Dann fragte sie Mama, ob sie nicht wieder in die Chemiefabrik arbeiten gehen wolle. «Kommt nicht in Frage», rief ich aus. «Mama geht mir nicht in die Fabrik arbeiten, wo Leute verätzt werden und am Schluss mit einem Loch im Bauch sterben wie Julias Mutter!». «Ach Quatsch! Man darf doch nicht alles glauben, was die Leute erzählen. Deine Mama muss wieder arbeiten gehen, wie wir das alle tun.», sagte Tante Elvira verärgert. «Nein, nein! In die Fabrik kehre ich ganz sicher nicht zurück, keine Angst, Nadja!», beruhigte mich Mama. «An der Tankstelle wird bald die Wilma pensioniert. Willst du nicht mit ihr reden, Schwesterchen? Vielleicht kannst du ihre Stelle bekommen?», fragte die Tante. «Ich überlege mir verschiedene Dinge, und wenn ich selbst weiss, was ich weiter tun will, werde ich es euch sagen», meinte Mama. «Wir werden für die nächste Zeit genug Geld zum Leben haben. Ich muss nicht eilen mit einer Arbeit. Ich kann mich einfach nicht damit abfinden, dass aus meinem Lebenstraum nichts geworden ist. Deshalb geht es mir so beschissen», seufzte Mama.

Oma, siehst du jetzt, was Anton und ich mit unserem Hass auf das Franzosenbaby alles angerichtet haben? Weil wir es hassten, ist es zu früh gekommen. Weil es zu früh gekommen ist, kriegte Mama nicht das ganze versprochene Geld. Weil sie das ganze versprochene Geld nicht bekommen hat, kann sie ihren Lebenstraum nicht verwirklichen. So haben Anton und ich Mamas Lebenstraum zerstört, Oma! Mit unserem Franzosenbabyhass! Das ist doch ganz schlimm!

Oma, ich verspreche dir, ich werde nie wieder in meinem Leben jemanden hassen!

Deine Nadja

 

22.

Liebe Oma,

wie schön, dass du mich gestern Nacht wieder einmal in meinem Traum besucht hast! Ich hatte sooo Freude, dich wieder zu sehen! So, wie du gesessen bist vor unserem alten Ofen mit Hektor zu deinen Füssen! Ihr wart so zufrieden! Hast du Hektor auch im Himmel schon wiedergefunden, Oma?

Bitte, entschuldige, dass ich dir lange nicht mehr geschrieben habe. Ich weiss nicht, ob du es von oben immer sehen kannst, aber bei uns ist jetzt alles tipp-topp. Anton und ich gehen nach den Osterferien wieder zur Schule. Wir haben gute Noten und Mama ist mit uns zufrieden. Mama hat sich inzwischen erholt. Was war ich froh, als sie sagte, dass sie ihren Lebenstraum nicht aufgibt! Früher oder später werde sie den zweiten Stock des Hauses bauen, hat sie gesagt, als wir bei Tante Elvira zu Besuch waren. Tante Elvira hatte uns zum Geburtstag von Cousin Leo eingeladen. Er hatte so etwas wie ein Jubiläum, da er Fünfzehn wurde. Sie konnten sich für Leo natürlich kein Jubiläumsfest leisten. Deshalb waren nur wir eingeladen, und es gab keine anderen Gäste. Wir haben Leo eine Gitarre geschenkt. Tante Elvira und Onkel Milo hätten Leo gerne selbst eine Gitarre geschenkt, denn er wollte so gern in der Schulband spielen. Aber sie haben kein Geld dafür, hat Mama uns gesagt. Als Lastwagenfahrer und Kindergärtnerin verdiene man ganz wenig. Du kannst es dir nicht vorstellen, wie sich Leo gefreut hat, als er von uns die Gitarre bekam! Oma, das hatte er aber gar nicht erwartet! Tante Elvira weinte grad los, Onkel Milo war nur sprachlos und machte grosse Augen. Dann assen wir zuerst Fischsuppe und danach gebackenen Kabeljau mit Gemüse und Kartoffelsalat zu Mittag. Onkel Milo hat selbst den Kabeljau gefangen. Er ist am Tag zuvor mit seinem Fischerboot ins Meer hinausgefahren. Es ist ja schon warm genug. Zum Dessert gab es deine Buttercremetorte, die wir alle so lieben, Oma. Ich hatte sie schon lange nicht mehr gegessen und bat Mama, sie wieder einmal zu machen. Mama versprach es. Danach haben Leo und Anton auf der Gitarre geklimpert. Anton sagte, er möchte auch so eine Gitarre haben, wenn er gross ist. «Dann werde ich dir eine schenken!», sagte Onkel Milo. Er erzählte, dass er den Führerschein für einen grossen internationalen Lastwagen gemacht hat und dass er als internationaler Chauffeur arbeiten werde. Bei einer ausländischen Firma. Da bekomme er deutlich mehr Geld als jetzt. «Dann werden wir dich aber nur noch alle drei Monate für ein paar Wochen sehen, Papi», lächelte Leo traurig. «Und dann wirst du von den Ausländern ausgenützt», sagte ich. «Wie kommst du denn auf Ausnützen, Nadja, was soll das?», runzelte Mama die Stirn. «Wie wohl», sagte Tante Elvira. «Das kommt von ihrer Freundin Julia, das weiss man doch.» «Ja, Julia kennt sich da aus!», nickte ich. «Nein, tut sie nicht, Nadja. Sie ist in der Stadt in schlechte Gesellschaft geraten. In eine komische und nicht ungefährliche Clique. Du solltest nicht mit ihr verkehren», mahnte mich Tante Elvira. Als Mama das hörte, verbat sie mir, mich von jetzt an mit Julia zu treffen. Ich bin damit aber nicht einverstanden.

Meinst du das auch Oma, dass ich Julia nicht mehr sehen sollte? Ich finde es schlimm. Vielleicht kommst du wieder bald in meinem Traum vorbei und sagst mir, was ich tun soll. Was ist da richtig?

Gute Nacht, Oma!

Deine Nadja

 

23.

Liebe Oma,

habt ihr auch so einen schönen Frühling im Himmel wie wir hier? Unsere Hyazinthen im Garten duften von allen Seiten. Dieses Jahr blühen wirklich alle, die wir haben. Der ganze Garten leuchtet in Lila, Rosa, Weiss, Blau, Orange, Creme, Rot und Gelb. Auch die Tulpen sind wieder da. Die meisten sind die knallroten. Hier und da blüht auch eine gelbe. Die bunten gekrausten sind dieses Jahr nicht gekommen. Das macht mir jedoch nicht viel aus, denn Tulpen sind zwar schön, sie duften aber nicht.

In unserem Wäldchen und im Eichenwald ist alles wieder so grün und zart! Wie auch auf den Ackerfeldern rund herum. Es gibt wieder die wilden Veilchen zum Pflücken. Jede Menge! Und bald werden wir Pilze sammeln gehen. Wald und Feld sind nun erwacht. Mit Vogelstimmen, Tiergeräuschen, Bienensummen, Käferbrummen, einfach schön! Und unsere Katzen haben Kleine bekommen. Fünf winzige, ganz süsse Kätzchen! Anton und ich haben ihnen allen Namen gegeben. Sie heissen Rotkopf, Schwarzpfötchen, Weissbart, Luna und Neptun.

Das schönste aber am Frühling ist, dass Mama wieder die Alte geworden ist. Sie spielt wieder Akkordeon, wir singen alle zusammen, wir lachen, wir gehen in den Wäldern spazieren. Mama hilft uns wie früher bei den Hausaufgaben, sie macht wieder deine tollen Torten. Sie kocht auch neue Sachen. Holt sich Rezepte aus dem Internet.

Vergangenes Wochenende sind wir zum Picknick ans Meer gegangen. Es war sehr schönes Wetter, ohne Wind und Wolken. Das Meer plätscherte ganz ruhig vor sich hin, man konnte nur winzige Wellen sehen. Der Strand war total leer. Wir haben unser Klapptischchen und die Klappstühle aufgestellt. Mama schenkte uns Tee aus der Thermosflasche ein, wir assen Käseschnitten und Gebäck, das sie am Tag vorher selbst gemacht hatte. Danach haben wir gesungen. Am Schluss sind wir bis zur Fischerhütte spaziert. Von dort nahmen wir den Bus zurück ins Dorf. Es gibt jetzt sehr häufig städtische Busse, die von der Stadt zu unserem und weiteren Dörfer hin und zurück fahren, und die auch an der Fischerhütte halten. Das ist ganz neu.

Liebe Oma, bald haben Mama und ich wieder Geburtstag. Es wird dieses Jahr natürlich kein grosses Fest wie letztes Jahr geben, aber feiern werden wir trotzdem. Mama wird zu ihrem Geburtstag Tante Elvira und die Nachbarn von links und rechts einladen. Wir backen ein ganzes Lamm im Tonofen des Dorfes. Mama wird es im Metzgerladen bestellen. Das kann man jetzt neu machen beim Metzger. Denn der Metzger arbeitet seit Kurzem auch mit einer Grillbude aus der Stadt zusammen. Man kann nun alle Sorten fertig gegrilltes Fleisch, Frikadellen und auch Gemüse bestellen. Wir wollen aber unser Lamm selbst backen. An meinem Geburtstag darf ich alle meine Freundinnen zu uns nach Hause einladen. Mama wird Häppchen und kleine Sandwichs machen, und auch einen Geburtstagskuchen. Nur Julia darf nicht kommen. Mama hat es mir verboten, sie einzuladen. Schade! Julia wird mir sicher böse sein, wenn sie erfährt, dass nur sie nicht eingeladen ist. Es ist mir so peinlich! Ich gehe am besten Julia ganz aus dem Weg und schaue, dass ich ihr nicht begegne.

Gute Nacht, liebe Oma!

Küsschen

Deine Nadja

 

24.

Liebe Oma,

stell dir vor, Julia ist mir gar nicht böse, dass ich sie zu meinem Geburtstagsfest nicht eingeladen habe! Julia ist eine treue Freundin, Oma! Ist das nicht schön?

Vorgestern war ich Fisch holen. Ich machte ein paar Schritte aus dem Fischladen heraus, da klopfte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um, und wen sehe ich vor mir stehen? Julia! «Hallo, Nadja!», lächelte sie mich an, als wäre nichts geschehen. Mir verschlug es die Sprache! Es war mir so peinlich, ich wusste nicht, was sagen. «Ich gratuliere dir nachträglich zum Geburtstag. Hast du einen schönen Geburtstag gehabt?», fragte Julia. Ich nickte und schwieg. «Was ist denn mit dir los?», wollte sie wissen. Dann konnte ich nicht anders und habe ihr alles erzählt. Und auch, warum ich sie zu meinem Geburtstag nicht einladen durfte. Und dass Tante Elvira Mama gesagt hat, Julia verkehre in der Stadt in einer merkwürdigen Clique. Oma, ich kann nicht lügen, ich muss immer die Wahrheit sagen, wenn man mich fragt. Also legte ich los. Am Schluss dachte ich, jetzt wo sie alles gehört hat, dreht sich Julia um und haut ab. Und will mich nie wiedersehen. Aber sie lief nicht davon. «Komische Clique? Die Leute in unserem Dorf haben keine Ahnung! Die sind alle den Ausländern derart verfallen, dass sie eine Gruppe schon für eine komische Clique halten, weil diese ,Es lebe die Heimat!’ heisst! Unglaublich! Ich bin Sozialistin, und ich liebe meine Heimat. Deshalb sind mein Freund und ich in dieser Gruppe. Was ist denn daran so schlecht?» Julia hob stolz den Kopf. «Du bist eine was?», fragte ich. Ich hatte das Wort noch nie richtig verstanden. «Eine Sozialistin!», sagte Julia. «,Frei, sozial, national’– das ist das Motto von unserer Gruppe. Und meine Oma steht hinter mir! Sie hat im Sozialismus gelebt und sagt, damals sei alles besser gewesen als jetzt».

Oma, du hast ja auch zu dieser Zeit gelebt. Du warst mit Julias Oma befreundet. Stimmt das, was sie Julia erzählt? Denn du hast nie solche Dinge gesagt. Und auch Papa und Mama nicht. «Im Sozialismus kannte jeder seinen Platz», fuhr Julia fort. «Die Zigeuner wussten ihren Platz, die Moslems wussten ihren Platz, die Juden wussten ihren Platz, es gab keine Verbrechen und es gab keine reichen Ausländer im Land, die das Volk ausgenommen haben wie jetzt. Niemand musste sich an Ausländer verkaufen, es war für alle gesorgt. Die Leute hatten nicht viel, aber alle hatten genug zum Leben. Mein Freund und ich wollen kämpfen, dass es wieder so wird!» Julia hatte ein solches Feuer in den Augen, als sie das sagte, dass mir grad heiss wurde. «Die Welt wird schon noch von uns hören, das sag’ ich dir, Nadja! Wir sind ganz viele, und werden immer mehr …»

Oma, STIMMT DAS ALLES???

Julia meinte, ich könne ja ihrer Facebook-Gruppe «Es lebe die Heimat!» beitreten und mir selbst anschauen, um was es denen da geht. Dann könne ich für mich entscheiden, ob das alles so falsch sei, wie die Leute reden. Ich sagte nichts dazu, wollte aber von Julia wissen, wie es nun mit unserer Freundschaft weitergehen solle. Jetzt, wo sie alles weiss und auch weiss, dass ich sie nicht mehr treffen darf. Julia sagte, man könne auch befreundet bleiben, wenn man sich nicht sehen dürfe. Denn Freundschaft trage man im Herzen. Und in ihrem Herzen bleibe ich ihre Freundin!

Ist es nicht toll, Oma, eine solche echte Freundin zu haben?

Gute Nacht!

Deine Nadja

 

25.

Liebe Oma,

was haben wir mit Mama diese Tage gelacht! Mama, Anton und ich haben drei Tage lang gelacht, immer, wenn uns unsere kleine Krimi-Geschichte in den Sinn kam. Die ging so:

Die Nachbarin, die dicke Elena, züchtet Kaninchen. Anton und ich dürfen zu ihnen gehen. Wir füttern sie, wir streicheln sie, wir spielen manchmal mit ihnen, wenn Elena sie auf dem Hof frei laufen lässt. Jetzt haben sie Kleine und die sind ganz putzig. Wie Pelzbälle hüpfen sie herum, lassen sich fangen, lassen sich kuscheln.

Eines Morgens sehen wir aus dem Fenster, wie unsere Katze Liza etwas in ihrem Maul hält und herumschleppt. Mama dachte zuerst, es sei ein Vogel. Anton meinte, es sei eine Riesenratte. Ich sagte, weder noch. Es ist zu gross für eine Ratte und zu dick für einen Vogel. Wir sahen, dass Liza das Tier zu unserer Haustür bringt. Nach einer Weile gingen wir schauen. Vor der Haustür lag ein totes Kaninchen. Liza hatte es dort abgelegt, wie sie das mit toten Mäusen tut. Wir erschraken alle. «Mein Gott!», rief Mama. «Liza hat ein Kaninchen getötet! Und wenn sie es einmal gemacht hat, dann macht sie es wieder! Das gibt Ärger mit Elena!»

«Und wir werden nicht mehr mit den Kaninchen auf Elenas Hof spielen dürfen?», fragte Anton. «Werden wir jetzt deswegen Liza und Gala wieder hinter dem Haus einsperren müssen, Mama? Das will ich aber nicht!», sagte ich. «Ich auch nicht!», sagte Anton. «Wir müssen etwas tun, damit Elena ja nicht den Verdacht bekommt, dass unsere Katzen ihr die Kaninchen töten. Aber was?», fragte Mama. Ich überlegte. Plötzlich hatte ich eine Idee. «Mama, wir könnten doch das tote Kaninchen heimlich in den Hasenkäfig zurücklegen. An einem Abend, wenn alle im Haus sind. Anton könnte das tun. Er ist klein genug und kann sich zum Hasenkäfig schleichen. Ich weiss von einem Loch an einer ganz bestimmten Stelle im Maschendrahtzaun zu Elenas Hof». «Was für eine grossartige Idee, Nadja!» Mama klatschte in die Hände. «Oh, ja, das Loch im Zaun kenne ich auch», rief Anton. «Kinder, wir lassen aber das Kaninchen wie lebendig aussehen, so dass Elena lange gar nicht merkt, dass es tot ist. Da kann sie unsere Katzen nicht verdächtigen.», sagte Mama. «Aber wie kriegen wir denn das hin?», fragte ich. «Wir waschen das Tier mit Shampoo und föhnen es», erklärte Mama. Gesagt, getan! Mama wusch und föhnte das Kaninchen, und Anton schlich sich am späten Abend zum Hasenkäfig. Er wusste, wie man das Türchen öffnet, und legte das tote Kaninchen ganz hinten in die Ecke und bedeckte es mit Heu.

Am nächsten Tag, es war Samstagmorgen und wir jäteten gerade in unserem Garten, schreckten wir hoch, als die dicke Elena zu uns herbeieilte. Sie schwang die Arme in die Luft und schrie etwas, das wir zuerst nicht verstanden. «Oh!», sagte Mama, «Jetzt sind wir entlarvt! Jetzt gibt’s Streit! Ach, wie ich das hasse! Nichts sagen, Kinder! Ihr schweigt!», befahl sie. Ausser Atem, mit knallrotem Gesicht und total verschwitzt stürmte Elena in unseren Garten hinein. «Was ist los, Elena?», rief Mama ihr zu. «Ein göttliches Wunder ist bei uns passiert!», rief Elena zurück und bekreuzigte sich drei Mal. «Ein Wunder?», fragte Mama. «Ja, ein Wunder, ein richtiges göttliches Wunder! Irgendein Zeichen ist das! Aber ich kann es nicht deuten», keuchte sie. «Was ist denn passiert, Elena? Komm, erzähl!», Mama reichte ihr einen Gartenstuhl und setzte sich selbst auf einen. «Mir ist vorgestern ein Kaninchen gestorben», japste Elena. «Ich habe es in unsere Müllgrube geworfen, denn wir wollten ja heute sowieso wieder mal unseren Müll verbrennen», erklärte sie. «Aha? Und dann?», fragte Mama. «Und dann … ging ich soeben den Hasenkäfig ausmisten … Und was sehe ich da: das tote Kaninchen ist zurückgekehrt! Stellt euch das mal vor! Das tote Kaninchen ist in den Hasenkäfig zurückgekehrt, sauber gewaschen und duftend! Kommt, seht auch das selbst an, sonst denken alle, dass ich spinne!» Elena erhob sich vom Stuhl. «Das kann nur der Heilige Geist gewesen sein, der es aus der Grube zurück in den Hasenkäfig getragen hat! Und vorher sogar gewaschen! Vielleicht wollte er mir zu verstehen geben, dass ich Tiere wie Menschen behandeln solle! Das merk’ ich mir!» Elena bekreuzigte sich wieder drei Mal. «Ein wahres Wunder! In der Tat!», sagte Mama.

Dann gingen wir alle brav mit Elena hin zum Hasenkäfig. Das Kaninchen lag da, als würde es schlafen. Und der Käfig duftete tatsächlich nach unserem Shampoo. «Wirst du es jetzt beerdigen, Tante Elena?», fragte ich. «Aber natürlich!», erwiderte sie. «Ich werde nie mehr ein Tier in die Müllgrube werfen!», sagte sie. «Was der Heilige Geist alles kann!», schwärmte Mama. Anton prustete los. «Warum lachst du so, Anton?», tadelte ihn Elena. «Ach, der kriegt ab und zu so Lachanfälle. Ohne Grund. Wir wissen auch nicht warum», sagte ich. Dann gingen wir zurück nach Hause. Und können bis heute nicht aufhören zu lachen. Jedes Mal, wenn wir Liza kommen sehen, lachen wir los. Und Anton fürchtet jetzt den Heiligen Geist nicht mehr. Sooo toll!

Küsschen, Oma, und gute Nacht!

Deine Nadja

 

26.

Liebe Oma,

es ist halb drei in der Nacht. Ich hatte einen Albtraum und bin soeben erwacht. Schon lange habe ich so etwas Schlimmes nicht mehr geträumt. Es war schrecklich! Ich kann jetzt vor Angst nicht wieder einschlafen. Hoffentlich passiert das nicht wirklich, was ich da geträumt habe.

Stell dir vor, Oma, ich sehe vor mir Papa, der auf einem Schemel sitzt. Es ist an einem unbekannten Ort. Rundherum ist alles leer. Ich weiss nicht, ist das draussen, ist es ein Saal oder ein Zimmer? Papa ruft mir zu, ich solle kommen, mich von Mama zu verabschieden. Ich müsse mich beeilen. Denn Mama habe Krebs und die Ärzte hätten gesagt, sie werde in den nächsten zwei Tagen sterben. Ich trete näher, blicke auf und sehe Mama auf mich warten. Sie steht irgendwo oberhalb von Papa, auf einem Podest. Ich steige zum Podest hoch, Mama breitet strahlend die Arme aus. Sie sieht fit aus, sie ist voller Kraft. Sie sagt aber, ich sterbe demnächst, komm, nehmen wir voneinander Abschied! Dann schliesst sie mich in die Arme. Du stirbst doch nicht, du siehst so gesund aus, sage ich. Die Ärzte haben einen Fehler gemacht, rufe ich aus und umklammere Mama. Mein Aussehen täuscht, schüttelt Mama den Kopf und lacht dabei …

Dann bin ich erwacht.

Vor langer, langer Zeit hatte ich einen ähnlichen Traum gehabt. Auch damals war Papa dabei und hatte auch dann gesagt, dass Mama Krebs hat und sterben wird. Aber es ist zum Glück nichts passiert. Vielleicht, weil ich dir den bösen Traum rechtzeitig erzählt habe? Du hast mir früher immer gesagt, einen schlechten Traum solle man sofort erzählen, so dass er nicht zur Wirklichkeit wird. Einen guten Traum solle man aber für sich behalten, damit er wahr wird. Jetzt hoffe ich, dass nichts Schlimmes passieren wird, nachdem ich dir meinen Albtraum wieder sofort mitgeteilt habe. Denn wir haben es jetzt so schön alle zusammen, Mama, Anton und ich. Anton träumt kein solch blödes Zeug. Ich habe ihn nämlich auch gefragt. Ich beneide ihn, dass er keine Albträume hat. Warum das bei mir halt anders ist, weiss ich nicht.

Aber könntest du nicht etwas tun dafür, dass ich nur schöne Träume bekomme, Oma? Könntest du da oben nicht denjenigen etwas ausrichten, die zuständig sind für das Verschicken von Träumen auf die Erde? Bitte, Oma! Träume kommen ja vom Himmel. Da kannst du sicher mitmischen!

Deine Nadja

 

27.

Liebe Oma,

mir stehen die Haare zu Berge! Mama ist wieder schwanger. Sie hat sich entschieden, nochmals Leihmutter zu werden. «Aber Mama, nicht schon wieder!», rief ich, als ich das hörte. «Hast du denn nicht genug von den Franzosen gehabt?». «Ich liebe einfach das Gefühl, schwanger zu sein, Nadja!», lächelte sie. «Das kannst du aber jetzt nicht verstehen. Es ist so schön ein neues Leben im Bauch zu spüren, wie es wächst, wie es beginnt sich zu bewegen …» «Sie lässt sich wieder ausnützen», wird Julia sagen, wenn ich ihr das erzähle. Oma, Mama tut mir leid! Merkt sie denn nicht, dass man sie wieder ausbeuten wird? Dass man wieder ein Haar in der Suppe finden wird und ihr nicht das bezahlt, was man ihr versprochen hat? Dieses Mal werde sie ihren Lebenstraum mit dem zweiten Stock vom Haus bestimmt erfüllen, hat sie Anton und mir gesagt. Sie ist voll davon überzeugt! Aber sie mache es nicht nur wegen dem zweiten Stock, sondern vor allem deshalb, weil es ein so wunderbares Gefühl sei, schwanger zu sein. «Eine Frucht zu tragen, die in dir reift, das ist die grösste Freude und der grösste Stolz für eine Frau», genauso hat sie es gesagt. Mich aber gruselt es, wenn ich an das vergangene Jahr denke! Geht jetzt wieder das ganze Gekotze los? Wird Mama wieder als Notfall ins Krankenhaus müssen? Kreuzen nun die aufgeblasenen Leute von der Agentur wieder regelmässig bei uns auf? Müssen wir wieder alle Katzen verstecken? Ich weiss es nicht, was auf uns zukommt, Oma! Auf jeden Fall macht es mir Angst, dass Mama wieder schwanger ist. Und was ist, wenn sie immer wieder schwanger wird, weil sie es so geil findet, einen dicken Bauch zu haben? «Werden wir unser ganzes Leben lang eine schwangere Mama haben?», hat mich Anton gefragt. Kann eine Frau, bis sie stirbt, immer wieder schwanger werden, Oma? Das hat mich Anton auch gefragt, und ich sagte ihm: «Ich weiss es nicht».

Mama hat uns heute erzählt, dass dieses Mal die Kindseltern aus Südtirol kommen. Ich habe keine Lust im Google zu schauen, wo Südtirol ist und wie es dort aussieht. Die Kindseltern haben mit den Kindsgrosseltern dort ein eigenes Hotel, ein Schlosshotel, heisst es. Das glaube ich nicht. Die können doch erzählen, was sie wollen. Wir können es sowieso nicht überprüfen. Für wie blöd halten die uns denn? Schlösser gibt es nur in den Märchen. Und Anton und ich sind keine kleinen Kinder mehr, denen man Märchen erzählen muss. Ich freue mich sehr, dass ich nächstes Jahr aufs Gymnasium komme und in der Stadt zur Schule gehen werde. Da kann Mama vielleicht nicht einfach wieder schwanger werden. Jemand muss nach Anton schauen, wenn ich den ganzen Tag nicht da bin. Oma, Anton hat seit paar Monaten mehr Probleme mit der Disziplin in der Schule. Mama wurde zum Klassenlehrer zitiert. Anton geht auf andere Kinder los und schlägt sie böse. Und wenn man ihn fragt, warum er das tut, sagt er trotzig «Einfach so!». Mama musste ihm versprechen, dass er im Sommer nebst seinem Roboterhund auch ein neues supermodernes Velo bekommt, damit er aufhört. Ich musste dafür auf mein versprochenes Keyboard verzichten, damit das Geld für Antons Sachen reicht. Mama hat mich darum gebeten, und ich habe sofort zugestimmt.

Liebe Oma, ich werde Mama auch dieses Mal ganz sicher unterstützen, wo ich nur kann, darauf kannst du dich verlassen. Kochen, putzen, Wäsche waschen und aufhängen, das ist für mich gar kein Problem. Und solange Anton auf mich hört, werde ich mich auch um ihn kümmern. Aber ich denke, ich habe ihn im Griff. Schlimmstenfalls werde ich ihm wieder drohen, dass Mama schwerst krank wird, wenn er nicht spurt, Und wenn Mama schwerst krank wird, muss sie im Krankenhaus bleiben. Und wenn sie im Krankenhaus bleibt, werden wir ins Kinderheim müssen. Wo es kein teures Spielzeug gibt, keine leckeren Sachen zu essen, keine Süssigkeiten, keine Freiheit – nichts ausser Strafen und Schläge, wenn man nicht so tut, wie die Erzieher es wollen. Das wird Anton sicher abschrecken. Er ist eigentlich kein schlechtes Kind, aber ich weiss nicht, was hin und wieder mit ihm los ist. Einmal ist er ruhig, macht überall mit, ist hilfsbereit und liebenswürdig. Manchmal packen ihn aber Trotz und Wut auf alles. Und da ist er wie eine rasende Wildsau. Dann muss man ihm immer etwas versprechen, damit er aufhört.

Also, liebe Oma, ich werde dir weiter berichten, wie es um uns steht.

Gute Nacht, Oma, bis bald wieder!

Deine Nadja

 

28.

Liebe Oma,

Entwarnung! Mama ist nun seit mehr als einem Monat schwanger und sie erbricht dieses Mal nicht. Sie isst und trinkt, sie hat zugenommen und sieht ganz gesund aus! Auch Kraft hat sie. Und sie lacht so herzlich, wie sie immer lacht, wenn es ihr gut geht. Natürlich kann sie mit uns jetzt nicht viel ausser Haus unternehmen, aber wir müssen auch nicht immer mit Mama unterwegs sein. Anton hat seine Freunde, mit denen er spielt, ich habe meine Freundinnen, die ich mal bei uns, mal bei ihnen zu Hause oder draussen treffe. Tante Elvira und Cousin Leo sind nun häufiger bei uns, da Onkel Milo seine Arbeit als internationaler Lastwagenfahrer begonnen hat. Er ist jetzt irgendwo in Europa unterwegs. Oma, bevor Onkel Milo abreiste, habe ich ihn gebeten, genau zu schauen, ob er Schlosshotels sieht, falls er durchs Südtirol fährt. Er hat mir versprochen, das zu tun.

Seit wir jetzt mehr mit Tante Elvira und Leo zusammen sind, ist Anton anders geworden. Er klebt fast an Leo und macht ihm alles nach. Er spricht ruhig wie Leo, er hört mehr zu wie Leo, er bewegt sich wie Leo langsamer und rennt nicht im Zeug herum. Leo bringt jetzt regelmässig Anton bei, Gitarre zu spielen. Und da Leo ein Gymnasiast in der Stadt ist, möchte Anton jetzt auch eines Tages ins Gymnasium gehen. «Dafür brauchst du aber gute Noten und gute Disziplin», hat einmal Leo zu Anton gesagt. Anton hat sich das anscheinend gemerkt. Denn er will wie Leo Pilot werden. Die zwei verbringen viel Zeit im Internet und schauen sich alle möglichen Flugzeuge an. Auch gamen sie zusammen und fliegen in Computerspielen als Piloten in der Welt herum. Oma, Mama und ich denken, Leo tut dem Anton gut. Denn auf einmal rastet Anton nicht mehr aus und schlägt auch seine Schulkameraden nicht mehr. Der Klassenlehrer hat es Mama gesagt. Was sind wir froh darüber!

Leo hilft Tante Elvira viel daheim aus, und bei seinen Grosseltern auch. Er ist jetzt der Mann im Haus. Und er ist sehr stolz darauf. Anton sieht das natürlich. Und jetzt kommt Anton immer häufiger, und fragt Mama und mich, ob er etwas helfen kann. Inzwischen geht er allein einkaufen, wenn wir ihmb einen Einkaufszettel mitgeben. Er räumt den Tisch nach jedem Essen ab, ohne zu motzen. Auch den Müll entsorgt er sofort, wenn wir es ihm sagen.

So läuft es bei uns zurzeit, Oma. Ich kann mich nicht beklagen!

Küsschen!

Deine Nadja

 

29.

Liebe Oma,

heute habe ich mit Tante Elvira unter vier Augen gesprochen. Ich bin zu ihr nach Hause gegangen und habe gesagt: «Tante, ich muss mit dir alleine reden!». «Warum? Hast du etwa die Periode bekommen? Hast du etwas mit einem Jungen gehabt?», starrte sie mich an. «Nein. Ich habe noch keine Periode. Und auch keinen Freund», erwiderte ich. Es war mir peinlich, dass sie mich solche Dinge fragte. Aber ich nahm es ihr nicht übel. Du kennst ja Tante Elvira, sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Was ihr am Herzen liegt, liegt ihr auch auf der Zunge. «Es geht um Mama. Ich will dich was fragen», sagte ich. Tante Elvira schickte Leo einkaufen und sagte ihm, er solle erst in einer Stunde zurückkommen.

«Tante, ist es nicht schlimm, dass Mama wieder Leihmutter geworden ist? Ich habe Angst, dass sie wieder ausgenützt wird», legte ich los, als wir uns zu Tee und Gebäck an den Tisch setzten. «Dieses Ausnützen ist bei dir zu einer fixen Idee geworden, Nadja», tadelte sie mich. «Triffst du dich noch mit Julia?». «Nein», antwortete ich. Ich wollte ihr nicht sagen, dass Julia und ich uns immer wieder auf Viber schreiben. Julia hat allerdings noch keine Ahnung, dass Mama wieder schwanger ist. «Meine Schwester ist klug genug. Sie weiss genau, was sie tut und warum sie es tut. Sie macht es für Geld. Was ist denn so schlecht daran? Es ist ein Beruf wie jeder andere: man arbeitet und wird dafür bezahlt», sagte Tante Elvira. «Das stimmt so nicht! Sie sagt, sie macht es nicht so sehr wegen dem Geld, sondern weil sie so gern schwanger sei!», «Ach? Schau mal eine an. Das ist mir aber neu», gab die Tante zu. Und ich war ganz stolz, dass ich mehr von Mama wusste als Tante Elvira, die sonst immer alles weiss. «Du hast also keine Angst, dass Mama ausgebeutet wird?», wollte ich wissen. «Nein», schüttelte Tante Elvira den Kopf. «Aber die dämlichen Franzosen haben sie doch ausgenützt, und auch die Scheissagentur. Ich habe im Internet gesehen, was die Preise für so ein Baby sind. Ich bin sicher, Mama hat man nie im Leben so viel gezahlt, wie es im Internet steht. Sonst hätte sie jetzt ihren Lebenstraum verwirklicht!», rief ich. «Ach, du glaubst aber auch jeden Scheiss im Internet», ärgerte sich die Tante. «Deine Mama weiss über alles besser Bescheid als du, davon bin ich überzeugt. Jetzt hör auf, dir unnötig Sorgen zu machen und Angst zu haben!

Es ist unnötig, glaube mir Nadja!». Sie fasste meine Hände und schüttelte sie. «Aber in der ersten Schwangerschaft hatte sie keine Zeit und keine Kraft für Anton und mich! Sie hat sich nur noch mit ihrem Babybauch abgegeben. Ich musste mich um alles daheim kümmern. Das will ich nicht mehr!», protestierte ich. «Das musst du aber jetzt wieder! Und das schaffst du auch. Du hast es gezeigt, dass du das kannst! Wir sind doch alles starke Frauen, nicht wahr?», lachte die Tante. «Ja! Das sind wir!», nickte ich. «Also, ist alles gut, so wie es ist?», wollte ich nochmals hören. «Ja! Anton und du müsst aber aufpassen, dass ihr nicht zu verwöhnt werdet. Reichtum verwöhnt! Und ihr gehört jetzt nun mal zu den Reichsten im Dorf», sagte die Tante stolz.

Oma, da kann doch Mama nichts Falsches tun, wenn Tante Elvira so überzeugt ist, dass alles richtig läuft? Sonst würde sie als ältere Schwester Mama schon noch in die Schranken weisen? Wie ich es mit Anton auch mache, wenn er blöd tut.

Also, alles in Butter, liebe Oma!

Gute Nacht!

Deine Nadja

 

30.

Liebe Oma,

ich habe dir lange nicht mehr geschrieben, aber ich hatte schlicht keine Zeit dafür. Wir erwarten nämlich sehr bald die Kindseltern aus Südtirol!

Es ist Scheisse! Kaum ist Mama schwanger, und schon werden wir wieder von allen Seiten kontrolliert. Weiss der Teufel, was diese Südtiroler alles von uns verlangen werden. Wenn die so früh hier auftauchen, dann sind das sicher irgendwelche eingebildete Grosskotze, noch schlimmer als die Franzosen.

Zuerst mussten wir unseren Garten neu machen. Wir haben zwei Palmen auf beiden Seiten des Hauses aufgestellt, damit er vornehmer aussieht. Anton und ich haben überall blühende Sommerblumen gesetzt. Bunte Löwenmäulchen, Dahlien, Kapuzinerkresse, Sonnenhut, Flammenblumen und so. Wir haben alle Pflanzen mit Tante Elviras Auto aus einer teuren Gärtnerei in der Stadt geholt. Mama möchte, dass Anton und ich die neuen Blumen und auch den alten Gemüsegarten jeden Tag wässern und am Wochenende gründlich jäten. Das machen wir auch.

Mama darf nur Bioprodukte essen, die wir aus ganz bestimmten Läden aus der Stadt holen müssen. Sie darf nichts heben und nichts Schweres tragen, dafür bin ich zuständig. Wir haben die Katzen wieder hinter dem Haus versteckt. Die kleinen Kätzchen haben wir verschenkt. Anton geht Liza und Gala drei Mal am Tag füttern. Mama darf nicht über längere Zeit allein daheimbleiben. Es muss immer jemand von uns da sein, damit sofort der Krankenwagen gerufen werden kann, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Das hat uns die Agentur so aufgetragen.

Manchmal sind Anton und ich sehr müde und schlafen bereits nach der Kinderstunde vor dem Fernseher ein. Mama und Tante Elvira loben uns für unseren Fleiss. Das freut uns. Auch wenn es traurig ist, dass wir in der freien Zeit unsere Freunde nicht mehr so oft sehen können. Manchmal erlaubt sich Anton, später von der Schule nach Hause zu kommen. Dann schimpfe ich mit ihm, denn es ärgert mich. Ich kann ja auch nicht nach der Schule einfach so mit meinen Freundinnen in die Konditorei gehen. Und wenn ich es nicht tue, dann darf Anton das auch nicht.

Ich zähle die Tage, bis der Besuch der Kindseltern vorbei ist. Danach können wir bis zu ihrem nächsten Besuch ein bisschen aufatmen. Aber jetzt haben wir jede Menge zu tun. Zum Glück geht es Mama gut, und wir müssen uns momentan keine Sorgen um ihre Gesundheit machen.

Schlaf gut, Oma!

Küsschen

Deine Nadja

 


Autor:in: Evelina Jecker Lambreva ist eine bulgarisch-schweizerische Schriftstellerin mit klinischer Lehr- und Praxiserfahrung.