Jaques Lacan
Y – Z Atop Denk 2022, 2(12), 3.
Abstract: Lacan ließ nie davon ab, das Verhältnis der Psychoanalyse zu Psychiatrie und Medizin zu bedenken. So auch in folgender Vorlesung, die erstmals in Deutsche übersetzt wurde. Lacan fragt angesichts der rasanten Technologisierung der Medizin nach der Rolle des Arztes bzw. der Ärztin, die eben nicht (nur) die Rolle eine „Medizintechnikers“ sein darf. Er betont, dass jeder Arzt und jede Ärztin mit den Patienten in eine Übertragung eintritt, die ein Wissen unterstellt und in der sich sowohl der Anspruch auf Heilung artikuliert, wie auch ein verborgenes Begehren. Es ist dieses Begehren, das es zu dechiffrieren gilt. Insofern bekämpft die Psychoanalyse die Medizin nicht, sie begründet in ihr einen Platz, von dem aus sie in Frage gestellt werden kann. Die Übersetzung ist ein Beitrag zu der Y-Debatte, die danach fragt, in welchem Verhältnis Psychoanalyse und Medizin heute stehen.
Übersetzung und Kommentar: Michael Meyer zum Wischen, in Zusammenarbeit mit Béatrice Lefèvre-Ludwig
Danksagung: Mit Dank an Lutz Götzmann für das wertvolle Korrekturlesen
Keywords: Psychoanalyse, Medizin, Übertragung, Begehren, Wissen, Heilung
Artikel als Download: Colloque de medicine La Salpétrière (1966)
Zur Veröffentlichung von Lacans Intervention zu Psychoanalyse und Medizin auf dem Colloque de médecine der Salpétrière 1966
Auch wenn der Wechsel des Lacanschen Seminars 1964 von der psychiatrischen Klinik Sainte Anne auf die École normale superieure eine Ausweitung seines Publikums über das psychoanalytische, psychiatrische und medizinische Milieu hinweg und eine noch stärkere Öffnung auf eine weitere intellektuelle Öffentlichkeit und wissenschaftliche Kreise bedeutete, so ließ er doch nicht nach, das Verhältnis der Psychoanalyse zu Psychiatrie und Medizin zu bedenken. Davon zeugt zum Beispiel seine Intervention an der Salpétrière 1966, aber auch der Petit discours aux psychiatres 1967, sowie seine Rückkehr nach Sainte Anne für das Seminar Le Savoir du psychanalyste, dessen erste Sitzungen unter dem Titel Je parle aus murs veröffentlicht wurde.
So wie Lacan keine antipsychiatrische Position einnahm, so auch keine antimedizinische. Er blieb kritischer Begleiter der Entwicklungen der modernen Medizin, wozu auch sicher seine Auseinandersetzung mit Foucault gehörte, die im Rahmen des Seminars L'objet de la psychanalyse 1965/1966 einen gewissen Höhepunkt fand. Das Seminar enthielt einerseits wichtige wissenschaftstheoretische Passagen, die nach der Stellung des Subjekts in der Wissenschaft fragen, zum anderen aber auch nach der Position des künstlerischen Subjekts, wobei sich Lacan wie Foucault auf Die Meninas von Velasquez bezog.
In diesen historischen Kontext müssen wir unsere Übersetzung sehen. Lacan fragt hier angesichts der zunehmenden technischen Entwicklung in der Medizin nach der Rolle des Arztes, die nicht mit der eines Medizintechnikers zusammenfällt.
Er unterstreicht, dass jeder Arzt mit seinen Patienten in eine Übertragung eintritt, die ihm ein Wissen unterstellt und in der sich sowohl der Anspruch auf Heilung artikuliert, wie auch ein verborgenes Begehren, das es zu dechiffrieren gilt. Im Unterschied zur generalisierenden Tendenz der modernen Medizin finden sich hier Singularität und Subjektivität als entscheidende Momente. Lacan spricht insofern von der extraterritorialen Position der Psychoanalyse hinsichtlich der Medizin, insofern sie gerade diese Dimension in die Medizin einführen kann, ohne ihren spezifischen Status zu verlieren und in ihr aufzugehen. Wie schon Freud in Zur Frage der Laienanalyse unterstrich, geht es nicht darum, dass die Psychoanalyse ein weiteres Kapitel im Lehrbuch der Psychiatrie wird, denn dann würde sie diesen besonderen Status verlieren. Es geht nicht um zusätzliches positives Wissen, sondern um die Etablierung einer Differenz innerhalb der Medizin selbst, um die Möglichkeit ihrer Subversion. Das unterscheidet die Psychoanalyse von der Antipsychiatrie und der sogenannten Alternativmedizin. Sie bekämpft die Medizin nicht, sie begründet in ihr einen Platz, von dem aus sie in Frage gestellt werden kann. Was schließt die moderne wissenschaftliche Medizin neben dem im Anspruch des Patienten enthaltenen singulären Begehren aus?
Es ist das Genießen des Körpers, von dem sie nichts wissen will, sodass ihr ein Rätsel bleibt, warum es Subjekte gibt, die an ihrem Leiden festhalten, das im Grunde ein verborgenes qualvolles Genießen ist. Das Sprechen und der genießende Körper sind, wie Lacan in Le sinthome kurz und bündig sagt, die beiden Koordinaten, um die es in der Psychoanalyse geht.
Gehört das Begehren zum symbolischen Register der Sprache und des Sprechens, das immer den Mangel miteinschließt, so das Genießen zum traumatischen Realen des Subjekts.
Wir finden, dass Lacans nuancierte Stellung zur Medizin noch heute in besonderer Weise aktuell ist, in der der technische Fortschritt die Patienten immer mehr zum Gegenstand einer quantifizierbaren Objektivierung macht, die ihre Fragen nach Begehren und Genießen unhörbar zu machen droht. Im Sinne einer „sprechenden Medizin“, wie sie auch von Michael Balint vertreten wurde, und deren wichtige Vertreter in der Schule Lacans unter vielen anderen Lucien Israel, Ginette Raimbault und Jenny Aubry waren, halten wir eine erneute Lektüre des Textes Lacans für sehr wichtig, da er deutlich macht, was auf dem Spiel steht.
Hamburg, 2. Oktober 2022
Michael Meyer zum Wischen
Jacques Lacan (765): Colloque de médecine La Salpétrière (1966)
Erlauben Sie mir, mich hinsichtlich einiger der gestellten Fragen an die Antworten von Madame Aubry zu halten, die mir äußerst zutreffend scheinen. Ich sehe bei der Demokratisierung der Lehre der Psychoanalyse kein anderes Problem als das der Definition unserer Demokratie. Es gibt eine Demokratie, aber durchaus in mehreren Formen, die man sich vorstellen kann, und die Zukunft führt uns zu einer anderen. Das, was ich zu einem Treffen wie diesem, das von der Einberufung durch das Collège der Medizin ausgezeichnet ist, beizutragen glaubte, war ganz genau, eine Themenstellung anzugehen, die ich in meiner Lehre nie behandeln musste, nämlich die des Platzes der Psychoanalyse in der Medizin.
Zurzeit ist dieser Platz randständig und, wie ich es wiederholt schrieb, extra-territorial. Randständig ist sie auf Grund der Position der Medizin hinsichtlich der Psychoanalyse, die ihr eine Art äußerer Hilfe zugesteht, vergleichbar der von Psychologen und anderen therapeutischen Hilfskräften. Sie ist extra-territorial auf Grund der Psychoanalytiker, die ohne Zweifel ihre Gründe haben, diese Extra-Territorialität zu bewahren. Es sind nicht meine Gründe, aber in Wahrheit denke ich nicht, dass mein Wunsch allein reichen wird, die Dinge zu ändern. Sie werden zu ihrer Zeit ihren Platz finden, das heißt ziemlich schnell, wenn wir die Art von Beschleunigung in Rechnung stellen, die wir bezüglich der Wissenschaft im Alltagserleben erleben.
Diesen Platz der Psychoanalyse in der Medizin möchte ich heute vom Blickpunkt des Arztes betrachten und im Hinblick auf den schnellen Wechsel, der sich in dem vollzieht, was ich als Funktion des Arztes bezeichnen werde und in seiner Persönlichkeit, denn diese ist dabei ein wichtiges Element seiner Funktion.
Während einer ganzen Periode der Geschichte, die wir kennen und als solche bezeichnen können, sind diese Funktion und Persönlichkeit des Mediziners von einer großen Beständigkeit bis in die jüngste Zeit geblieben.
Man muss allerdings bemerken, dass die Praxis der Medizin immer von einer großen Zahl von Doktrinen begleitet war. Dass die Doktrinen während einer ziemlich kurzen Zeitspanne im 19. Jahrhundert dann die Wissenschaft für sich in Anspruch nahmen, hat sie dennoch auch nicht wissenschaftlicher gemacht. Ich möchte sagen, dass die wissenschaftlichen Doktrinen, auf die sich die Medizin beruft, immer, bis in die jüngste Zeit, eine wissenschaftliche Errungenschaft aufgriffen hat, aber mit einer Verspätung von mindestens zwanzig Jahren. Das zeigt, dass dieser Rückgriff nur als Substitut gedient hat, um das zu maskieren, was man zuvor wohl eher als eine Art von Philosophie festmachen kann.
Wenn man die Geschichte der Medizin durch die Zeitalter hindurch verfolgt, so war der große, der typische Arzt ein Mann von Prestige und Autorität. Was zwischen dem Arzt und dem Kranken passiert lässt sich leicht durch die Bemerkungen zum Beispiel eines Balint verdeutlichen: nämlich, dass der Arzt, wenn er verordnet, sich selbst verordnet. So war es immer: schon der Kaiser Marc Aurel rief Galen zu sich, damit ihm aus seinen Händen das Heilmittel1 eingeflößt würde. Es war übrigens Galen, der die Abhandlung Warum ein guter Arzt auch Philosoph sein sollte2 schrieb. Ein Arzt, in seiner besten Form, ist auch Philosoph, wobei sich dieses Wort nicht auf seiner späteren Verwendung im Sinne der Naturphilosophie begrenzt.
Aber geben wir dem Wort welchen Sinn auch immer, so wird sich die Frage, um die es geht, von anderen Bezugspunkten her erhellen. Ich denke, dass man mich hier – wo doch zumeist Ärzte anwesend sind – nicht darum bitten wird, den Beitrag von Foucaults großem Werk über die historisch-kritischen Methode auszuführen, um die Verantwortlichkeit der Medizin in der großen ethischen Krise zu verorten, die die Definition des Menschen berührt und die sich um die Isolierung des Wahnsinns dreht. Und man wird mich wohl auch nicht bitten, sein anderes großes Werk hier einzuführen – „Die Geburt der Klinik“ –, in dem festgehalten ist, was das sprunghafte Aufkommen des Blicks durch Bichat bedeutet. Er richtet sich auf das Feld des Körpers, in dieser kurzen Zeitspanne in der er, bereits dem Tod ausgeliefert, besteht, das heißt: bis zum Kadaver.
Damit sind die beiden Grenzüberschreitungen3 markiert, durch die die Medizin ihrerseits die Schließung der Türen des Janus der Antike zu Ende führt, die jede menschliche Geste in eine unauffindbare geheiligte Figur verdoppelte4 . Die Medizin korreliert mit dieser Übertretung.
Der Übergang der Medizin auf die Ebene der Wissenschaft und gleichermaßen der Umstand, dass die Forderung nach experimentellen Bedingungen in die Medizin von Claude Bernard und Konsorten eingeführt wurde, ist es nicht, was für sich allein zählt: die Kippbewegung findet woanders statt.
Die Medizin ist in ihre wissenschaftliche Phase eingetreten, insofern eine Welt aufkam, die von nun an die im Leben eines jeden notwendigen Konditionierungen fordert, sofern dieses Leben sich an die Wissenschaft hält, die für uns allen in ihren Wirkungen präsent ist.
Die Funktionen des menschlichen Organismus wurden ja immer schon je nach sozialem Kontext auf die Probe gestellt. Sie werden nun aber der Verfügung der hochgradig differenzierten Organisationsformen unterworfen, die nicht ohne die Wissenschaft entstanden wären; sie bieten sich dem Mediziner im schon ins Leben gerufenen Laboratorium gewissermaßen an. Dieses ist bereits mit einem grenzenlosen Ansehen ausgestattet und setzt alles darauf, diese Funktionen des Organismus zu Montagen zu reduzieren, die denen der anderen Organisationen gleichen, deren Status von der Wissenschaft genährt wird.
Gehen wir hier einfach einmal für unsere weitere Aufklärung darauf ein, was unser Fortschritt in der funktionellen Formalisierung des kardio-vaskulären und des respiratorischen Apparats nicht nur der Notwendigkeit ihrer operativen Behandlung verdankt, sondern dem Apparat selbst ihrer Einschreibung, die insofern geboten ist, als die Subjekte dieser Wirkungen in etwas Platz nehmen, was man als „Satelliten“ bezeichnen muss. Man kann da an die großartige „Eisenlungen“ denken, deren Konstruktion selbst an die Unterstützung bestimmter Umlaufbahnen geknüpft ist, die man nicht als kosmisch bezeichnen kann, denn der Kosmos „kannte“ diese Umlaufbahnen nicht. Hier erweist sich, um alles dazu zu sagen, gleichermaßen die erstaunliche Toleranz des Menschen an a-kosmische Bedingungen, an die er in paradoxer Weise angepasst erscheint. Es erweist sich, dass es dieser „A-kosmismus“ ist, den die Wissenschaft konstruiert.5
Wer konnte sich vorstellen, dass der Mensch sehr gut die Schwerelosigkeit ertragen würde? Wer konnte voraussagen, was mit dem Menschen unter diesen Bedingungen geschehen würde, um sich an philosophische Metaphern zu halten, zum Beispiel die von Simone Weil, die aus der Schwerelosigkeit eine der Dimensionen einer solchen Metapher machte.
In dem Maß, in dem die sozialen Anforderungen durch das Aufkommen eines Menschen konditioniert sind, der den Bedingungen einer wissenschaftlichen Welt dient und mit neuen Fähigkeiten zu Untersuchung und Forschung ausgestattet ist, findet sich der Arzt mit neuen Problemen konfrontiert. Ich möchte sagen, dass der Arzt nun kein Privileg mehr besitzt in dieser Ordnung einer Schichtung unterschiedlich spezialisierter Experten in den verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen. Vom äußeren Aspekt seiner Funktion her, besonders dem Bereich der industriellen Organisation, werden ihm die Mittel und Fragestellungen geliefert, um quantitative Kontrollmaßnahmen einzuführen: Graphiken, Skalen, statistische Daten, womit bis auf mikroskopischen Maßstab die biologischen Konstanten erstellt werden, womit sich in seinem Wirkbereich die Ablösung der Evidenz vom Erfolg herstellt, was die Bedingung des Aufkommens der Fakten ist.
Die medizinische Mitwirkung wird willkommen geheißen, um die Operationen zu planen, die notwendig sind, um das Funktionieren von diesem oder jenem Apparat des menschlichen Organismus unter festgelegten Bedingungen aufrecht zu erhalten. Aber was hat das eigentlich mit dem zu tun, was wir die traditionelle Position des Arztes nennen?
Der Arzt wird in der Funktion als physiologischer Experte gefragt, aber er muss hinnehmen, noch zu anderem gerufen zu werden. Die wissenschaftliche Welt schüttet mit Hilfe seiner Hände die unbegrenzte Zahl neuer biologischer und chemischer therapeutischer Mittel aus, was sie nur produzieren kann, und stellt sie so der Öffentlichkeit zur Verfügung. Und sie verlangt vom Arzt wie von einem Handelsvertreter, sie zu erproben. Wo ist die Grenze, wo der Arzt handeln muss und worauf er antworten soll? Auf etwas, das sich Anspruch (fr. demande) nennt?
Ich werde Ihnen erklären, wie im Maße dieses Gleitens, dieser Entwicklung, die die Position des Arztes denen gegenüber verändert, die sich an ihn wenden, sich das, was es Neuartiges in diesem Anspruch an den Arzt gibt, individualisieren, spezifizieren, rückwirkend zur Geltung bringen wird. Diese wissenschaftliche Entwicklung führt dies neue Recht des Menschen auf Gesundheit ein und rückt es immer mehr in den Vordergrund. Es besteht bereits auf der Ebene weltweiter Organisation und bringt verschiedene Dinge in Gang. In dem Maße, in dem sich das Register des medizinischen Bezugs zur Gesundheit modifiziert, in dem diese Form generalisierter Macht, die die Macht der Wissenschaft darstellt, allen die Möglichkeit eröffnet, zum Arzt zu gehen, um seinen Anspruchsschein mit einem genauen, sofortigen Ziel einzufordern, sehen wir, wie sich die Neuartigkeit dieser Dimension abzeichnet, die ich als Anspruch bezeichne. Die Chance auf das Überleben einer im eigentlichen Sinn ärztlichen Position liegt im Bereich des Registers der Art und Weise, wie auf den Anspruch des Kranken geantwortet werden kann.
Darauf zu antworten, dass der Kranke von uns Heilung fordert, heißt gar nichts zu antworten. Denn jedes Mal, wenn die präzise Aufgabe, die im Notfall zu erfüllen ist, nicht schlicht und einfach einer Möglichkeit entspricht, wie sie auf der Hand liegt – nehmen wir eine chirurgische Apparatur oder die Verabreichung von Antibiotika – (und selbst in diesen Fällen wissen wir ja nicht, was in der Zukunft passiert) gibt es außerhalb des Feldes dessen, was durch die therapeutische Wohltat verändert wird, etwas, was konstant bleibt und jeder Arzt weiß, worum es sich handelt.
Ob der Kranke zum Arzt geschickt wird oder er an ihn herantritt, erzählt mir nicht, dass er schlicht und einfach die Heilung erwartet! Er stellt den Arzt auf die Probe, ob er ihn aus seinem Zustand als Kranker herausführen kann, was etwas völlig anderes ist, denn das kann beinhalten, dass der Kranke ganz auf die Idee fixiert ist, diesen Zustand zu bewahren. Manchmal kommt der Kranke, um als Kranker beglaubigt zu werden, in anderen Fällen kommt er, auf offensichtlichste Weise, um ihn in seiner Krankheit zu erhalten, ihn so zu behandeln, wie es ihm beliebt, was ihm dann ermöglicht, als Kranker gut in seiner Krankheit eingerichtet zu bleiben. Muss ich an meine jüngste Erfahrung erinnern? Es geht um den voll ausgebildeten Zustand einer chronischen ängstlichen Depression, der schon seit 20 Jahren besteht. Der Kranke suchte mich in dem Schrecken auf, ob ich das Mindeste daran machen könnte. Allein aus meinem Vorschlag, sich bereits 48 Stunden später wieder zu treffen, wurde nichts, denn die fürchterliche Mutter, die während des ganzen Gesprächs in meinem Wartezimmer die Zelte aufgeschlagen hatte, hatte zu diesem Zweck bereits alle Vorkehrungen erfolgreich getroffen.
Das ist banale Erfahrung, ich erwähne das nur, um Sie an die Bedeutung des Anspruchs zu erinnern, die Dimension, an der sich, um es klar zu sagen, die Funktion des Arztes übt. Ich möchte damit das einzuführen, was leicht zu fassen scheint und trotzdem nur ernsthaft in meiner Schule befragt wurde: ich meine die Struktur der Kluft zwischen Anspruch und Begehren.
Insofern man dies bemerkt scheint es nicht notwendig, Psychoanalytiker zu sein, selbst kein Arzt, um zu wissen, dass wenn irgendjemand, unser bester Freund, sei er nun männlich oder weiblich, uns um etwas bittet, das keinesfalls mit dem identisch ist, was er begehrt; manchmal sogar ist es dem diametral entgegengesetzt.
Ich möchte hier die Dinge an einem anderen Punkt aufgreifen. Ich will bemerken, dass, wenn es vorstellbar ist, dass wir zu einer immer wirksameren Ausweitung unserer Interventionsverfahren den menschlichen Körper betreffend gelangen – auf der Grundlage des wissenschaftlichen Fortschritts – das Problem nicht auf der Ebene der Psychologie des Arztes gelöst werden kann, von einer Frage aus, die den Begriff der Psychosomatik auffrischen dürfte. Erlauben Sie mir, die Wirkung, die der wissenschaftliche Fortschritt auf die Beziehung der Medizin zum Körper haben wird, als epistemisch-somatische Kluft zu bestimmen.
Hier kommt wieder zu Tage, dass die Situation für die Medizin von außen unterwandert wird. Und so kommt in voller Klarheit zum Vorschein, was vor gewissen Zäsuren noch konfus, verschleiert, durchmischt und verworren blieb.
Denn das, was vom epistemisch-somatischen Verhältnis ausgeschlossen ist, ist genau das, was der Körper in seinem purifizierten Register der Medizin unterbreiten wird. Das, was sich so darbietet, stellt sich als armselig dar – auf dem Fest, auf dem der Körper noch gerade strahlte, indem er fotografiert, radiografiert, gewogen, in Diagramme gefügt und lenkbar gemacht wurde – angesichts der wirklich außergewöhnlichen Ressourcen, die er in sich trägt. Aber vielleicht verleiht ihm diese Armseligkeit auch eine Chance, die von Weitem kommt, das heißt aus dem Exil, wo der Körper von der cartesianischen Dichotomie von Gedanke und Ausdehnung verbannt worden ist. Sie lässt das völlig aus ihrer Besitznahme fallen, was es an wahrem Körper in seiner Natur gibt und nicht das ist, was sie sich vom Körper vorstellt.
Dieser Körper ist nicht allein durch die Dimension der Ausdehnung charakterisiert.
Ein Körper ist etwas, was dazu gemacht ist, zu genießen, seiner selbst zu genießen. Die Dimension des Genießens ist völlig von dem ausgeschlossen, was ich das epistemisch-somatisches Verhältnis genannt habe. Denn die Wissenschaft ist durchaus in der Lage zu wissen, was sie kann; aber sie selbst, nicht besser als das Subjekt, das sie hervorbringt, kann nicht wissen, was sie will. Dennoch ergibt sich das, was sie will, aus dem Fortschritt, dessen beschleunigter Schritt uns dieser Tage zu erahnen ermöglicht, sodass sie ihre eigene Prognose noch überholt.
Können wir daraus vorwegnehmen, dass zum Beispiel unser Raum, sei er planetarisch oder transplanetarisch, von etwas wimmelt, was man wohl menschliche Stimmen nennen muss, die den Code beseelen, den sie in Wellen finden, deren Überkreuzung uns ein ganz anderes Bild des Raums nahelegt als das, wo die cartesianischen Wirbel zu Hause sind? Warum nicht auch vom Blick sprechen, der jetzt omnipräsent ist, in Form von Apparaten, die für uns an denselben Orten sehen: also etwas, was kein Auge ist und was den Blick als anwesend isoliert?
All das könnten wir der Wissenschaft gutschreiben, aber lässt dies uns nicht an das rühren, was uns angeht – ich werde nicht sagen als menschliches Wesen, denn in Wahrheit, Gott weiß, was sich hinter der Marionette bewegt, die man den Menschen nennt, das menschliche Wesen oder die menschliche Würde, oder was immer die Bestimmung sein soll, unter welcher ein jeder das unterbringt, was er unter seiner eigenen mehr oder weniger reaktionären oder revolutionären Ideologie versteht.
Wir werden uns eher fragen, inwiefern uns das betrifft, was existiert, das heißt: unsere Körper. Stimme, Blicke, die umherwandern, das ist wohl etwas, das von den Körpern kommt, aber es sind merkwürdige Verlängerungen, die in erster oder selbst auch zweiter oder dritter Linie nur wenig Bezug zu dem haben, was ich die Dimension des Genießens nenne. Es ist wichtig, sie als gegenüber liegenden Pol anzusiedeln, denn dort ist auch die Wissenschaft im Begriff bestimmte Effekte zu verbreiten, die doch einigen Einsatz umfassen. Es handelt sich um Materialisationen, unter der Form diverser Produkte, die von Tranquilizern bis zu Halluzinogen reichen.
Das kompliziert in singulärer Weise das Problem dessen, was man bis zu diesem Punkt auf eine rein polizeiliche Art als Toxikomanie gekennzeichnet hat. Es fehlt nicht viel, dass wir eines Tages in Besitz eines Produktes sind, welches uns erlaubt, Informationen über die äußere Welt zu sammeln, die eine polizeiliche Bemühung aus meiner Sicht kaum ausüben könnte.
Aber was wird die Position des Arztes sein, um diese Wirkungen zu bestimmen hinsichtlich derer er bis hier einen Wagemut gezeigt hat, der sich vor allem aus Scheingründen nährt, denn vom Standpunkt des Genießens kann ein geordneter Gebrauch dessen, was man mehr oder weniger richtig toxische Substanzen nennt, strafbar sein, außer wenn der Arzt in die zweite Dimension dessen eintritt, was seine Anwesenheit auf der Welt bestimmt, das heißt: die ethische Dimension. Diese Bemerkungen, die banal scheinen können, sind dennoch von Interesse, um zu belegen, dass die ethische Dimension die ist, welche sich in Richtung des Genießens erstreckt.
Hier haben wir also zwei Bezugspunkte: zum ersten der Anspruch des Kranken, zum zweiten das Genießen des Körpers. Auf gewisse Weise grenzen sie an diese ethische Dimension. Aber bringen wir sie nicht zu schnell durcheinander, denn hier greift das, was ich ganz einfach die psychoanalytische Theorie nennen würde, ein, die zur rechten Zeit aufkommt und nicht rein zufällig, in dem Moment nämlich, wo die Wissenschaft ins Spiel kommt, mit diesem leichten Vorsprung, der immer für Freuds Entdeckungen charakteristisch ist. Genau wie Freud die Theorie des Faschismus erfunden hat, bevor dieser in Erscheinung trat, und genau, wie er dreißig Jahre zuvor das erfunden hat, was man auf die Untergrabung der Position des Arztes durch den Aufstieg der Wissenschaft antworten sollte. Ich habe gerade erschöpfend die Differenz aufgezeigt, die es zwischen Anspruch und Begehren gibt. Nur die linguistische Theorie kann einer ähnlichen Wahrnehmung Rechnung tragen und sie kann es umso leichter, als es Freud ist, der auf lebendigste und unangreifbarste Art deren Abstand auf unbewusstem Niveau gezeigt hat. Das Unbewusste wurde von Freud in dem Maße entdeckt, wie es wie eine Sprache strukturiert ist. Ich habe mit Erstaunen in einer stark geförderten Schrift gelesen, dass das Unbewusste eintönig sei. Ich werde mich hier nicht auf meine persönliche Erfahrung berufen, ich bitte ganz einfach darum, die ersten drei Werke Freuds zu öffnen, die grundlegendsten, und darauf zu schauen, ob das die Monotonie ist, die die Traumdeutung charakterisiert, die Fehlleistungen und Versprecher. Ganz im Gegenteil erscheint mir das Unbewusste nicht nur von extremer Eigenart zu sein, mehr noch als vielfältig, von einem Subjekt zum anderen, sondern mehr noch findig und geistreich zu sein, weil gerade hier der Witz seine wahrhaften Dimensionen und Strukturen enthüllt hat. Es gibt nicht ein Unbewusstes, denn sonst gäbe es ein stumpftes unbewusstes Begehren, schwer wie Caliban, ein tierisches Begehren, das sich aus den Tiefen erhebt, das dann primitiv wäre und auf ein höheres Niveau des Bewusstseins gehoben werden müsste. Ganz im Gegenteil: es gibt ein Begehren, weil es ein Unbewusstes gibt, das heißt Sprache, die dem Subjekt entgeht in seiner Struktur und in seinen Wirkungen, und dass es auf der Ebene der Sprache etwas gibt, was jenseits des Bewusstseins liegt und genau da kann sich die Funktion des Begehrens situieren. Deshalb ist es notwendig, diesen Ort eingreifen zu lassen, den ich den Ort des Anderen nenne, der alles das betrifft, was es an Subjekt gibt. Das ist es im Wesentlichen, dass das Feld markiert, auf dem sich diese Überschüsse der Sprache finden, von denen das Subjekt seine Markierung erhält, die seiner Meisterung entgeht. In diesem Feld ereignet sich die Verknüpfung mit demjenigen, was ich den Pol des Genießens genannt habe.
Hier gewinnt das seinen Wert, was Freud hinsichtlich des Lustprinzips eingeführt hat und was man sich nie vor Augen geführt hat, nämlich was es heißt, dass die Lust eine Barriere gegen das Genießen bildet, womit Freud die Bedingungen aufgreift, aus denen die sehr alten Schulen ihr Gesetz geschaffen haben. Was sagt man uns von der Lust? Dass sie die geringere Erregung ist, das, was die Spannung verschwinden lässt, sie am meisten mildert, also das, was uns notwendiger Weise an einem Punkt von Distanz anhalten lässt, einer Distanz, die voller Respekt gegenüber dem Genießen ist. Denn das, was ich Genießen nenne, in dem Sinne, dass der Körper auf die Probe gestellt wird, ist immer von der Ordnung der Spannung, der Getriebenheit, der Verausgabung, sogar der Großtat.
Unbezweifelbar gibt es ein Genießen – und zwar auf der Ebene, wo der Schmerz aufzutauchen beginnt, und wir wissen, dass es nur auf dieser Ebene des Schmerzes ist, dass sich eine ganze Dimension des Körpers erfahren lässt, die ansonsten verschleiert bleibt. Was ist das Begehren? Das Begehren ist irgendwie der Punkt eines Kompromisses auf der Leiter der Dimension des Genießens, in dem Maße, wo es in gewisser Weise gestattet, das Niveau der Barriere der Lust weiter voranzubringen. Aber es gibt einen phantasmatischen Punkt, ich möchte sagen, wo das Register der imaginären Dimension eingreift, der dazu führt, dass das Begehren an etwas angeheftet wird, dessen Natur nicht darin besteht, in Wahrheit seine Realisierung zu fordern.
Warum habe ich hier nun gerade von dem gesprochen, was nur eine kleine Kostprobe der Dimension ist, was ich seit 15 Jahren in meinem Seminar entwickele? Das mache ich, um die Idee einer Topologie des Subjekts zur Sprache zu bringen – mit Bezug auf seine Oberflächen, seine fundamentalen Grenzen, seine wechselseitigen Beziehungen, auf die Art, wie diese sich überschneiden, verknüpfen, was zu Problemen führen kann, die nicht mehr nur einfach Probleme der Zwischenpsychologie sind, sondern die einer Struktur, die das Subjekt in seinem doppelten Bezug zum Wissen betrifft.
Das Wissen bleibt für dieses von einem Wert als Knoten bestimmt, dessen zentralen Wert im Denken man vergessen hat. Das heißt, dass das sexuelle Begehren in der Psychoanalyse nicht das Bild ist, das wir uns von ihm entsprechend eines Mythos mit organischer Tendenz machen müssen. Es ist etwas unendlich viel Höheres und zuerst einmal ganz genau mit der Sprache verknüpft, insofern es die Sprache ist, die ihm zuerst seinen Platz gibt und sein erstes Auftauchen in der Entwicklung des Individuums sich auf der Ebene eines Begehrens zu wissen in Erscheinung tritt. Wenn man nicht sieht, dass hier der zentrale Punkt liegt, der die Libidotheorie verwurzelt, verliert man einfach den Faden. Den Faden zu verlieren meint, sich den vorgefertigten Rahmungen einer vorgeblichen allgemeinen Psychologie anschließen zu wollen, wie sie im Laufe der Jahrhunderte ausgearbeitet wurden, um auf extrem unterschiedliche Bedürfnisse zu antworten, was jedoch einen Niedergang in der Abfolge philosophischer Theorien darstellt. Den Faden zu verlieren meint auch, nicht zu sehen, welch neue Perspektive, welch totale Veränderung des Blickwinkels durch die Theorie Freuds eingeführt wurde – denn dabei verliert man zugleich Praxis und Fruchtbarkeit.
Einer meiner Schüler, außerhalb des Feldes der Analyse, hat mich oft gefragt: Glauben Sie, dass es reicht, den Philosophen zu erklären, dass es Ihnen reicht, auf einer Tafel das Schema Ihres Graphen aufzustellen, damit sie reagieren und verstehen? Darüber hatte ich nicht die geringste Illusion und zu viele Belege für das Gegenteil. Trotzdem: Ideen wandern umher und in der Position, in der wir uns hinsichtlich der Verteilung der Sprache und des notwendigen Minimums an Gedrucktem befinden, damit eine Sache dauert, reicht es. Es reicht, dass es irgendwo gesagt wurde und dass nur einer unter 200 es gehört hat, dass es eine Zukunft haben kann, die nahe daran ist, dass seine Wirkungen gesichert wären.
Worauf ich hinweise, wenn ich von der Position spreche, die der Psychoanalytiker einnehmen kann, ist das, dass sie zurzeit die einzige ist, von der aus der Arzt seine Originalität seit jeher aufrecht erhalten kann, das heißt, von der aus er auf einen Anspruch auf Wissen antworten soll, außerdem, dass man dies nicht machen kann, ohne das Subjekt dahin zu führen, zur Gegenseite der Ideen abzubiegen, die er vorbringt, um seinen Anspruch zu präsentieren. Wenn das Unbewusste das ist, was es ist, also keine monotone Sache, sondern im Gegenteil ein Schloss, so genau wie möglich, dessen Handhabung nichts anderes ist als es in umgekehrter Schlüsselrichtung das zu öffnen, was jenseits einer Zahl liegt, kann seine Öffnung nichts anderes sein, als dem Subjekt in seinem Begehren zu wissen dienlich zu sein. Das, was unerwartet ist, das ist, dass das Subjekt sich selbst seine Wahrheit eingesteht, und dass es das tut, ohne es zu wissen.
Übung und Bildung des Denkens sind die notwendigen Voraussetzungen einer solchen Operation. Es ist nötig, dass der Arzt abgehärtet ist, um die Probleme auf dem Niveau einer Serie zu stellen, von der er die Verbindungen kennen soll, die Knoten, und die nicht die geläufigen Themen der Philosophie und der Psychologie sind. Was in einer bestimmten Technik des Nachfragens im Gang ist, die sich Psychotechnik nennt, bei der die Antworten in Funktion bestimmter Fragen selbst bestimmt sind, die auf der Ebene der Nützlichkeit eingetragen sind, hat seinen Preis und Wert in definierten Grenzen, die mit dem Grund dessen nichts zu tun haben, was im Anspruch des Kranken liegt.
Am Ende dieses Anspruchs errichtet die Funktion des Bezugs zum „Sujet Supposé Savoir“ (dem „Subjekt, dem Wissen unterstellt wird“) das, was wir „die Übertragung“ nennen. In dem Maße, in dem die Wissenschaft mehr denn je das Wort führt, unterstützt dies auch mehr denn je den Mythos des Subjekts, dem Wissen unterstellt wird, und dies erlaubt die Existenz des Phänomens der Übertragung, insofern sie auf das Ursprünglichste verweist, was am meisten im Begehren zu wissen verwurzelt ist.
Im wissenschaftlichen Zeitalter findet sich der Arzt in einer doppelten Position: einerseits hat er es mit einer energetischen Besetzung zu tun, deren Macht er nicht vermutet, wenn man sie ihm nicht erklärt, andererseits soll er diese Besetzung in Parenthese setzen auf Grund der Vollmachten, über die er verfügt, von denen er austeilen soll, auf der wissenschaftlichen Ebene, auf der er situiert ist. Ob er es will oder nicht, ist der Arzt in eine weltweite Bewegung einer Gesundheit integriert, die öffentlich wird und deshalb werden ihm neue Frage gestellt.
Er wird keinesfalls die Aufrechterhaltung seiner eigentlichen ärztlichen Funktion im Namen einer Privatheit begründen können, die im Bereich dessen läge, was man das Berufsgeheimnis nennt. Und sprechen wir nicht zu viel, wie er beobachtet wird, ich möchte sagen in der Lebenspraxis, wo man den Cognac trinkt. Aber das ist nicht der Bereich des Berufsgeheimnisses, denn wenn der von der Ordnung des Privaten wäre, wäre diese von der Ordnung derselben Schwankungen, die sozial die allgemeine Verbreitung der Einkommenssteuer in der Welt begleitet haben. Es geht um etwas anderes. Genau auf Grund dieser Lektüre kann der Arzt das Subjekt dahin führen, was eine gewisse Parenthese ist, die mit der Geburt beginnt, mit dem Tod endet und alle Fragen umfasst, die die eine und den anderen betreffen.
Im Namen wessen werden die Ärzte das Recht haben über Ja und Nein der Geburt zu entscheiden? Wie werden sie auf die Anforderungen antworten, die sehr schnell mit den Forderungen nach Produktivität zusammenfließen? Denn wenn die Gesundheit Objekt einer Weltorganisation wird, wird es darum gehen, zu wissen, wie produktiv sie ist. Was wird den Arzt in Gegensatz zu den Imperativen bringen, die aus ihm einen Angestellten dieses universellen Gesundheitsunternehmens machen würden? Er hat kein anderes Gebiet als diesen Bezug, durch den er der Arzt ist, nämlich zum Anspruch des Kranken. Im Inneren dieses festen Bezugs ergeben sich so viele Dinge, was die Erhellung dieser Dimension in ihrem ursprünglichen Wert angeht, der nichts Idealistisches hat. Aber genau das, was ich sagte: den Bezug zum Genießen des Körpers.
Was werdet Ihr Ärzte zu dem Skandalösesten sagen, was folgen wird? Denn wenn es außergewöhnlich war, der Fall, wo der Mensch bis jetzt laut verkündete: „Wenn Dich Dein Auge ärgert, reiße es aus!“, was werdet Ihr dann zu dem Slogan sagen: „Wenn sich Dein Auge gut verkauft, gib es!“? Im Namen wessen werdet Ihr zu sprechen haben, wenn nicht von der Dimension des Genießens seines Körpers und dessen, was sie an Mitwirken an all dem, was es in der Welt gibt, in Gang setzt?
Wenn der Arzt irgendetwas bleiben soll, was nicht das Erbe seiner Funktion in der Antike sein könnte, die eine sakrale Funktion war, ist es für mich, in seinem eigenen Leben der Entdeckung von Freud zu folgen und sie aufrecht zu halten. Ich habe mich immer als Missionar des Arztes verstanden: die Funktion des Arztes als die des Priesters begrenzt sich nicht auf die Zeit, in der man sich ihrer bedient.
1 Im französischen Text steht thériaque, was so viel wie Gegengift bedeutet.
2 Lacan hat hier den griechischen Titel zitiert ὁτί ὁ αρίστος ίατρος καί φίλοσοφος.
3 Er meint Wahnsinn und Tod, die nun wissenschaftlich erfasst und kontrolliert werden sollen.
4 Irretrouvablement ist schwer zu übersetzen: es finden sich in diesem Wort trouver (finden), trou (Loch), mentir (Lügen), irréel (irreal) – vermutlich spielt Lacan auf die von der Medizin aufgehobene Differenz von Profanem und Heiligem an. Vor der modernen medizinischen Wissenschaft gab es etwas, was sich nicht auffinden ließ (das nicht symbolisierbare Reale). Es wurde durch eine (Janus)Tür (die das Loch verschließt und als Semblant/Schein lügnerisch ist) von dem, was sich auffinden läßt, getrennt. Die Tür ist auch eine trouvaille, eine Entdeckung als Schutz vor dem Realen des Todes und des Wahnsinns. Die moderne Medizin „verbraucht“ diese.
5 Lacan will wohl sagen, dass die physiologischen Wirkkräfte (z.B. kardiale und respiratorische) nach außen verlagert werden, in Satelliten, wie er sie nennt, z.B. die Eisenlunge. Sie umreisen das Subjekt in Lacans Ausdrucksweise auf Umlaufbahnen (Orbite). Diese begründen aber keine Welt, sind a-kosmisch in diesem Sinne. Der Kosmos erscheint hier als Begriff vor dem Auftreten der modernen Wissenschaft. Deren Orbite und Satelliten sind weltlos, insofern sie keinen (religiösen) Sinnhorizont mehr aufweisen. Das Subjekt wird zusammenhanglos ins Außen verlagert. Die Orbite und Satelliten der modernen Medizin sind wissenschaftlichen Konstruktionen, weder „natürliche“ Gegebenheiten noch religiöse Sinnstiftungen.
Literaturverzeichnis
Lacan, Jacques (1966): „Conférence et débat du Collège de Médecine à La Salpetrière“. In: Cahiers du Collège de Médecine (1966). Paris: bisher unveröffentlicht, S. 761-774. http://aejcpp.free.fr/lacan/1966-02-16.htm [30.12.2022]
Autor:in: Jacques Lacan (1901-1981) – Psychiater und Psychoanalytiker, zentrale Figur der französischen Psychoanalyse.
Übersetzer:in: Michael Meyer zum Wischen, Dr. med., ist seit 1998 in psychoanalytischen Praxen tätig.