L’incidence concrète du signifiant. Der konkrete Einfallswinkel des Signifikanten
Bernhard Schwaiger
Y – Z Atop Denk 2023, 3(1), 2.
Abstract: Ausgehend von Ernest Jones Aufsatz Die Theorie der Symbolik, in dem der Phallus in seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen in Literatur und Traum als primäres, ursprüngliches Symbol gedeutet wird, soll hier gezeigt werden, dass mit Freud und Lacan die Deutung eben nicht auf ein sexuelles Ur-Symbol abzielt und die Kur durch die Deutung nicht gelenkt wird, sondern eine Ausrichtung (direction) erfahren soll, die das Subjekt seine Begehrensposition entdecken lässt. Sexualität ist dabei nicht der Zielpunkt einer Identifizierung, sondern buchstäblich ein (Ausgangs-)Punkt der Trennung (secare - zerschneiden, trennen).
Keywords: Symbolik, Phallus, Jones, Lacan, Sexualität, Begehren
Veröffentlicht am: 30.01.2023
Artikel als Download: Deutung und Sexualitat: L'incidence concrète du signifiant
So wird z.B. ein Kirchturm im Traume und in der Anthropologie oft – obwohl natürlich keineswegs regelmäßig – den Phallus symbolisieren, aber ein Phallus ist im Traume niemals das Symbol eines Kirchturms.
Ernest Jones (1978, S. 80)
Mit diesem Beispiel veranschaulicht Ernest Jones in seinem 1916 erschienen Aufsatz Die Theorie der Symbolik (The Theory of Symbolism) den nicht umkehrbaren Weg des Symbols hin zu seiner nackten sexuellen Wahrheit. Er weist dem Deuten in der Psychoanalyse hiermit eine Richtung auf, die zwar nicht immer das Richtige treffen muss und auf den Widerstand des Analysanden stoßen kann, die aber den Phallus als obersten Richter setzt.
Wären also sexuelle Träume die wahreren, weil bei ihnen Traumwunsch und Affekt zusammenfallen? Aber warum sollte ein Phallus im Traume niemals einen Kirchturm symbolisieren können? Jones Feststellung müsste demzufolge besonders heutzutage die kirchlichen Institutionen beruhigen, denn dann könnten manifest sexuelle Träume ihrer traumatisierten Zöglinge niemals auf eines ihrer Wahrzeichen verweisen: der Turm als Symbol einer Erfahrung mit der phallischen Mutter Kirche. Jones hatte wahrscheinlich kein moralisches Gebot zum Schutze religiöser Symbole bewusst im Sinn, sondern er versuchte mit dieser Aussage den allgemeinen Begriff des Symbols von einer „wahren Symbolik“ abzugrenzen. Ich fasse hier die Argumentationsschritte zusammen, die Jones zum oben genannten Zitat führten, und schildere dann Jacques Lacans kritische Würdigung dieses Textes. Von da aus formuliere ich einige Fragen nach der klinischen Relevanz.
Jones definiert den Begriff des allgemeinen Symbols in sechs Punkten:
„Ein Symbol ist ein Vertreter oder Substitut irgendeiner anderen Idee, von der es im Zusammenhang eine sekundäre Bedeutung erwirbt, welche ihm von selbst nicht innewohnt […] (einen Fetzen Stoff, den man Fahne nennt); […] es stellt das ursprüngliche Element dadurch dar, dass es mit ihm etwas gemeinsam hat […]; für das Symbol ist es charakteristisch, dass es konkret auf die Sinne wirkt, während die dargestellte Idee relativ abstrakt und zusammengesetzt sein kann […]; symbolische Denkweisen sind die primitiveren […] man findet sie daher häufiger in Zuständen, welche eine solche Rückkehr begünstigen, z.B. Müdigkeit, Schläfrigkeit, körperliche Krankheit, Neurose, Wahnsinn und vor allem in Träumen […]; ein Symbol [ist] ein offenbarer Ausdruck für eine Idee, die mehr oder weniger verborgen oder geheim oder im Hintergrund gehalten ist [und] Symbole erinnern an den Witz dadurch, dass sie spontan, automatisch und, im weiteren Sinne des Wortes, unbewusst entstehen.“ (Jones 1978, S. 52-53.)
Diese noch sehr allgemeinen Merkmale grenzt Jones noch weiter ein: „Hier wird der Satz aufgestellt, dass die „eigentliche Symbolik“ (Jones 1978, S. 54) im genauen Sinne von den anderen Formen der indirekten Darstellung unterschieden werden muss […]“ und so unterscheidet er die „eigentliche Symbolik“ (true symbolism) sowohl von der Metapher, deren Ursprung das Gleichnis sei, als auch vom allgemeinen Symbol. Für den Ursprung der Metapher im Gleichnis führt er folgendes Beispiel an: Im ersten Stadium fällt die metaphorische Beschaffenheit sofort auf (z.B. im Bild „die Wut des Sturms“); im zweiten Stadium sind sowohl wörtlicher wie bildlicher Sinn gebräuchlich (z.B. „die Tiefe des Meeres“ wird wörtlich aufgenommen, in der Wendung „die Tiefe der Verzweiflung“ wird „Tiefe“ bildlich verwandt); im dritten Stadium werde dann der bildliche Sinn wörtlich (z.B. „Melancholie“ oder „Scharfsinn“ – man denkt nicht mehr an die „schwarze Galle“ oder den „Scharfsinn“) (ebd., S. 55-56).
Hingegen sei
„ein wichtiges Merkmal der eigentlichen Symbolik [...], dass die Deutung des Symbols gewöhnlich eine Reaktion von Überraschung, Unglauben und Ablehnung bei jenen auslöst, die damit nicht vertraut sind“ (Jones 1978, S. 57).
Jones bezieht sich dann auf ein konkretes kulturelles Symbol: den Punchinello der Marionettenbühne, der als phallisches Symbol und männliches Glied gedeutet wird, als Hanswurst, als „lustiger kleiner Mann“ und all seine Abkömmlinge in Gestalt von Zwergen, Gnomen und Kobolden. Diese aus der italienischen commedia dell’arte des 17. Jhd. unter dem Namen pullcinella (it. pulcino – Hühnchen) stammende Figur tritt dort meist maskiert und mit hoher nasaler Stimme auf, setzt sich über Konventionen hinweg und bildet so den kulturellen Kontext, auf den sich Jones in seinen Ausführungen bezieht. Diese eigentliche Symbolik, die auf Sexuelles, und das heißt bei Jones auf den Phallus verweist, lässt sich in zwei große Klassen von Symbolen unterteilen: in patriarchale Symbole wie z.B. Adler und Stier, welche die Macht des Vaters darstellen, und in matriarchalische Symbole, welche den aufbegehrenden Sohn repräsentieren, wie z.B. Teufel, Hahn und Schlange, um das Verbotene und Verpönte zu zeigen, oder Bock, Affe und Esel, um das Lächerliche dieser Auflehnung darzustellen. Ein weiteres Beispiel für ein matriarchalisches phallisches Symbol ist der Hofnarr.
Jones unterscheidet die Entstehung der Symbolik gegenüber der Metapher anhand eines Freud-Zitats aus der Traumdeutung:
„Was heute symbolisch verbunden ist, war wahrscheinlich in Urzeiten durch begriffliche und sprachliche Identität vereint. Die Symbolbeziehung scheint ein Rest und Merkzeichen einstiger Identität.“ (Jones 1978, S. 70)
Aus dieser „einstige[n] Identität“ leitet Jones eine „ursprüngliche Identifizierung“ ab, die die Symbolik gegenüber der Metapher auszeichnet. Die Genese und Wirkung der Symbolik in psychischen Vorgängen wird sowohl phylo- als auch ontogenetisch hauptsächlich von zwei Prinzipien geleitet: Dem „Lust-Unlust-Prinzip“ und dem „Realitätsprinzip“ (Jones 1978, S. 72-73). Trifft das „primitive Seelenleben“ auf eine neue Erfahrung, dann greift es auf alte Erfahrungen zurück, um Ähnlichkeiten zu konstruieren – es nimmt nur zur Kenntnis, was Lust bereitet; das Realitätsprinzip lässt das Neue an Altes anknüpfen – dieses Vermischen und Identifizieren erleichtert uns den Zugang zur Realität. Diese beiden Prinzipien erklären auch „das außerordentliche Vorwalten der sexuellen Symbole“ (ebd., S. 74). Nur was verdrängt ist, bedarf einer symbolischen Darstellung, die sich letztendlich der Realität anpassen kann. Anhand der Arbeit Hans Sperbers Über den Einfluss sexueller Momente auf Entstehung und Entwicklung der Sprache von 1912 erkennt Jones etwa im Zusammenhang mit den Lockrufen zur Paarung die wichtige Rolle der sexuellen Triebregungen bei der Entwicklung der Sprache und eine sexuelle Grundbedeutung der Wörter (ebd., S. 75-76). Symbole verweisen laut Jones (anders als bei Jung und Silberer) nie auf eine abstrakte Idee, sondern auf eine verdrängte Ur-Ambivalenz, die auf Grundphänomene wie Familie, Geburt, Liebe und Tod zurückgeht. Die Symbolbildung ist ein unbewusster Prozess,
„im psychoanalytischen Sinne [ist] das Symbol ein Ersatz für die primäre Vorstellung […] und eine zwangsweise Kompromissbildung zwischen der Tendenz des unbewussten Komplexes und der ihn hemmenden Faktoren […]“ (Jones 1978, S. 99).
Jones nennt das Symbol des Zepters, das eben kein Symbol der Macht sei – also keine funktionale Darstellung abstrakter Verhältnisse in konkreten Bildern widerspiegle –, sondern vielmehr eine phallische Bedeutung ausdrücke: Kastration und Mord an dem Vater als Symbol einer Gefühlsambivalenz und gegenteiligen Darstellung (Jones 1978, S. 97). Anhand dieser Genese wird deutlich, warum das oben aufgeführte Kirchturm-Zitat in eine konkrete – d.h. anschauliche, wirkliche – und nicht umkehrbare Richtung weist.
Lacan würdigt in seinem erstmals 1959 erschienenen Beitrag À la mémoire d‘Ernest Jones: Sur la théorie du symbolisme (Lacan 1966, S. 697-717) diesen Aufsatz, da Jones hier die Bedeutung des Phallus als konkretes Symbol herausstellt – wenn auch nicht als Signifikant. Um diese Unterscheidung von konkretem (im Gegensatz zu vagem, abstraktem) Symbol und Signifikant herauszustellen, greift Lacan das Kirchturm-Beispiel auf:
„Einige irrige Herangehensweisen müssen hierzu aus dem Weg geräumt werden, wie etwa seine [Jones’] Äußerung, die gerade durch ihre beeindruckende Beziehung zum Objekt trügerisch ist, nämlich dass der Turm einer Kirche den Phallus symbolisieren kann, der Phallus aber niemals den Kirchturm.“1 (Jones 1978, S. 709 [Übersetzung d. Verf.])
Lacan zitiert dann ein von Cocteau erfundenes Beispiel, in dem eine Träumerin einen mit gezücktem Speer bewaffneten Schwarzen sieht, der sich erregt auf sie stürzt. Dieses Bild kann in einem bestimmten Kontext als Signifikant für das Vergessen ihres schwarzen Regenschirms während der letzten Analysesitzung gedeutet werden (Jones 1978, S. 709).2
Dabei betont er, dass es die konkrete Wirkung des Signifikanten im Moment der Unterordnung des Bedürfnisses unter den Anspruch ist, die – indem sie das Begehren in die Position des Verkannten verdrängt –, dem Unbewussten seine Ordnung gibt.3
Ich möchte versuchen, diese Kritik Lacans an Jones parallel zu einer Kritik von Freud an Ferenczi zu lesen, wie sie 1911 im Briefwechsel formuliert wird. Ferenczi schreibt an Freud zur Thematik der Symbolbildung:
„Mit einem Male wird mir klar, warum die Kinder keine Symbolik verstehen (sie brauchen noch keine) […] Solange man naiv (nativ) ist, d.h. nicht-verdrängt, braucht man keine indirekte Sprache […] Erst die ›Not des Lebens‹ lehrt das Kind auch auf kleine Unterschiede zu achten (Realitätsprinzip). Später] erlangen die dem Verdrängten infantil gleichgesetzten Vorstellungen symbolische Überbetonung. Darum das Herrschen der Symbolik im Vorstellungskreise des Sexuellen.“ (Freud/Ferenczi 1993, S. 393-394)
Darauf antwortet Freud:
„In Sachen Symbolik habe ich Ihnen jetzt schon eines entgegenzusetzen. Sie erklären, ›warum die Kinder keine Symbole verstehen‹; ich mache Sie darauf aufmerksam, dass die Kinder von vorneherein Symbole gebrauchen wie z.B. der kleine Hans mit seinen Pferden und Wagen.“ (Freud/Ferenczi 1993, S. 394)
Die Herausgeber des Briefwechsels weisen in einer Fußnote an dieser Stelle darauf hin, dass das fallende Pferd für den kleinen Hans den sterbenden Vater, die Mutter in der Niederkunft und die aufgeladenen Wagen, Storchkistenwagen, symbolisierten.
Wenn das Begehren in die Position des Verkannten verdrängt wird und eben dies, laut Lacan, die Ordnung des Unbewussten strukturiert, dann befindet sich das Subjekt von Anfang an (d.h. sobald es artikulieren kann) in der Ordnung der Signifikanten; dann ist jedes Sprechen bereits ein „indirektes“, das sich nicht auf sexuelle Ursymbole zurückführen lässt. Das Auftauchen des erregten Wilden mit gezücktem Speer im Traum in der oben aufgeführten Anekdote könnte also als Signifikant des tatsächlichen Vergessens des Regenschirms gedeutet werden, was in der Analyse dann vielleicht mehr Material zu Tage förderte, als wenn „symbolistisch“ ein erregter Mann interpretiert wird.
Ich möchte zunächst versuchen, diesen zentralen Satz Lacans noch einmal wörtlich zu übertragen: „L’incidence concrète du signifiant“ (Jones 1978, S. 709) – was sich in übertragenem Sinne auch mit „der konkrete Einfallswinkel [siehe Fn 3] des Signifikanten“ übersetzen ließe – „dans la soumission du besoin à la demande“ – „in der Unterordnung des Bedürfnisses unter den Anspruch“ – „donne à l’inconscient son ordre“ – „gibt dem Unbewussten seine Ordnung“. Fehlt noch der Nebensatz „en refoulant le désir en position de méconnu“, der sich meines Erachtens auf die „incidence concrète du signifiant“ bezieht: „indem das Begehren auf die Position des Verkannten verdrängt wird“. Jedes körperliche Bedürfnis, das sich im Sprechen artikuliert bzw. artikulieren muss, bezieht sich auf Signifikanten, die einen
Anspruch verlauten lassen. Diese manifesten Ansprüche sind aber nicht mit dem Begehren gleichzusetzen. Dieses wird in der verdrängenden Bewegung verkannt und kein „direktes (symbolfreies) Sprechen“ kann es einholen. Das Subjekt kann sich seinem Begehren gegenüber sozusagen nur in einem „konkreten Einfallswinkel“ positionieren.
Freud fährt im Brief an Ferenczi folgendermaßen fort:
„Die Symbolik ist früher da, als die Motive zu ihrer Verwendung […] Die Symbolik scheint der Beginn der Begriffsbildung zu sein, die Begriffsbildung des undifferenzierten Ubw. Ich glaube selbst zu merken, dass sich das Kind bei dieser primitiven Abstraktion von Gemeinsamkeiten leiten lässt, die wir später zurückstellen, z.B. in ganz besonderer Weise von Bewegungseindrücken. Wir werden da lange sammeln und beobachten müssen.“ (Freud/Ferenczi 1993, S. 394-395)
Der sexuelle Akt oder das phallische Symbol können nicht mit einem „Begehren an sich“ oder einer materiellen Wahrheit gleichgesetzt werden, sondern der Phallus wird zu einer Funktion, die das Begehren regelt. Der Traum von einem erigierten Glied könnte demnach in einer Deutung durchaus auf einen Kirchturm verweisen, der in der „Position der Verkennung“ (position de méconnu) einen unbewussten Wunsch artikuliert, der das Leben eines Analysanten bestimmte. Oder man denke an den Hitchcock-Film Vertigo und die Bedeutung von Höhenangst und Glockenturm, die das Liebesleben des Protagonisten determinieren: Man könnte darüber spekulieren, wie das Leben des Helden nach dem Ende des Films weiterverläuft, und ob ein konkretes Liebesorgan in einer geträumten Liebesszene mit der Verstorbenen nicht doch auf diesen Turm verweisen könnte – als Signifikant einer Abwesenheit und einer „rencontre manquée“, wobei das bloße Auftauchen eines erigierten Penis im Traum allerdings nie mit der Funktion des Phallus gleichgesetzt bzw. als deren Repräsentation gedeutet werden könnte.
Lacan wendet sich im Seminar Die Ethik der Psychoanalyse auch gegen die Gleichschaltung von Sprach- und Sexualentwicklung, die Jones unter Berufung auf den erwähnten Artikel Hans Sperbers vertritt. Sperber postuliert darin, dass alle Wörter ursprünglich eine sexuelle Bedeutung besaßen und sich dann immer weiter von diesem primitiven Ursprung fortentwickelt hätten. Psychische Realität wird nicht über Realanpassung, also eine Art „konkrete“ Anpassung an die Wirklichkeit vermittelt, sondern ist nur über Signifikanten zugänglich:
„Wenn der Sexualruf sich auf eine zeitliche Modulierung einer Handlung zu beziehen vermag, deren Wiederholung imstande ist, bestimmte Elemente stimmlicher Aktivität zu fixieren, so kann er uns dennoch nicht das strukturierende Element der Sprache liefern, nicht einmal das primitivste. Es ist da eine Kluft.“ (Lacan 1996, S. 206)
Es stellt sich nun die Frage, welche Funktion die Deutung überhaupt in der Psychoanalyse haben kann: Ist sie mittlerweile überflüssig, weil „Überraschung, Unglauben und Ablehnung“, die Jones noch für Charakteristika jeder eigentlichen Symboldeutung hielt, aufgrund fortgeschrittener sexueller Freiheiten längst nicht mehr die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit Sexualität abgeben? Oder liegt die Zeit der Deutung in der Psychoanalyse gar deswegen hinter uns (Miller 1995), weil sie nur noch Ausdruck des Narzissmus des Analytikers ist? Sexualität als Deutungsziel und Narzissmus als Deutungshoheit des Analytikers stehen hier also auf dem Spiel. In eine andere Richtung scheint Michel Foucault zu weisen, wenn auch auf ironische Weise und die Symboldeutung persiflierend.
Foucault beginnt den dritten Band seiner Geschichte der Sexualität (Die Sorge um sich/Le souci de soi) mit Traumerzählungen und Deutungen aus dem Traumbuch des Artemidor von Daldis (etwa 200 n. Chr.). Er zitiert Beispiele von „Lustträumen“ (rêves de plaisir) und deren Deutungen. Hier ein kurzes Beispiel für eine Traumsymbolik und die dazugehörige Deutung, die Foucault dem Traumbuch Artemidors entnimmt:
„Seinen Sohn gebrauchen [genießen, Anmerkung d. Verf.], in ihn seinen Samen ›verausgaben‹, ist eine nutzlose Tat: eine fruchtlose Ausgabe, aus der man keinen Profit ziehen wird, sondern die vielmehr großen Geldverlust ankündigt.“ (Foucault 1986, S. 33)
Foucault arbeitet entlang dieses Buchs die Bedeutung der antiken Gesellschaftsordnungen aus. Sexuelle Träume, die widernatürlich sind, bedeuten nach Artemidor in der Regel Verlust von Ansehen, Kapital usw. Der konkrete sexuelle Inhalt ist also nicht die wahre Symbolik, sondern muss erst gedeutet werden. Artemidors „wahrer“ Inhalt bezieht sich auf die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft. Foucault entwickelt anhand dieser Beispiele sein Konzept der Selbstsorge. Dabei verortet er die Psychoanalyse – und explizit Lacan – in einer Genealogie der antiken, hauptsächlich in der Stoa verankerten Selbstsorge (epimelia heautou: ἐπιμέλεια ἑαυτοῦ), die er in Gegensatz zur delphischen Selbsterkenntnis (gnothi seauton: γνῶθι σεαυτόν) betrachtet (Foucault 2004).
Mit diesem Beispiel, das dem Jonesschen Kirchturm-Argument diametral entgegengesetzt zu sein scheint, wird der Unterschied deutlich, den Lacan gegenüber Jones setzt: Der Phallus als ursprüngliches, mit ambivalenten Affekten besetztes Symbol wird zur Funktion, die zugleich in eine Ordnung des Sprechens – und damit auch in eine (symbolische) Gesellschaftsordnung einführt. Die Realität wird nur über Signifikanten erfahrbar bzw. konstituiert, weil diese primären Ideen (wie: Geburt, Liebe, Tod, Vaterschaft bei Jones) eben Situationen sind, in denen ein Subjekt, insofern es sprechendes Subjekt ist, sich nur mittels des Diskurses halten kann. Der Phallus ist der Signifikant dieses Seinsmangels, der das Subjekt in seinem Verhältnis zum Signifikanten determiniert. Und hier wird ersichtlich, warum die von Jones untersuchten Symbole phallische Symbole sind.4
In der Deutung Lacans spielt es eine untergeordnete Rolle, ob sie auf einen sexuellen Sinn hinweist oder von diesem ausgeht. Die Kritik, die Psychoanalyse sei obsolet, da die Verdrängung des Sexuellen in der heutigen Zeit nur noch eine geringe Rolle spiele, irrt in dem Sinne, als sie den sexuellen Akt konkretisiert – also als auf eine Tatsache reduziert – und damit als Wahrheit setzen will. Konkret (im ursprünglicheren Sinne von fest und dicht) sind aber die Signifikanten, deren Materialität (siehe Lacan 1986, S. 254) Lacan herausstellt und die einen „Einfallswinkel“ (incidence) determinieren, der das Subjekt in ein Verhältnis zu einem Sprechen setzt. Der Phallus ist dabei eine Funktion und kein Objekt – die Funktion eines Mangels, der das Sprechen erst ermöglicht. Dieser Unterschied zwischen
Funktion und Objekt ist für die Deutung entscheidend – so betont der französische Psychoanalytiker Pierre Bruno, dass in der Theorie Melanie Kleins das psychische Leben auf die Weise strukturiert wird, dass „[…] der Phallus nur als ein Partialobjekt unter anderen – in der Serie derer, die der mütterliche Körper beinhaltet – betrachtet wird […]“ (Bruno/Guillen 2012, S. 28-29 [Übersetzung d. Verf.]). All diese Objekte (wie Brust, Kinder, Penis, Urin, Kot) werden in ein gutes, idealisiertes und böses, gefährlich rachsüchtiges Objekt gespalten. Das Aufspüren der Bedeutung dieser Objekte in der analytischen Situation bzw. Übertragung bestimmt dann die Deutung.
Liest man Lacan oder hier im besonderen Lacan mit Foucault, dann ist es die Positionierung des Subjekts zu der ihm vorausgehenden symbolischen Ordnung, die gedeutet werden kann. Standen zu Freuds Zeiten verbotene sexuelle Wünsche eines bestimmten bürgerlichen Milieus im Fokus der Deutung oder zu Zeiten Artemidors die Stellung in der damaligen Gesellschaftsordnung, so sind es aktuell eher Fragen der Anerkennung, der Herkunft (Genealogie) und des Umgangs mit einem Genießen, d.h. einer jouissance, deren Zuviel eine (selbst-)zerstörerische Verausgabung zur Folge haben kann.
Vignette
Um diese abstrakt-logischen Folgerungen in einen klinischen Zusammenhang zu bringen, möchte ich hier eine Fallvignette schildern. Es handelt sich um einen mittlerweile 23-jährigen jungen Mann, mit dem ich bereits seit geraumer Zeit analytisch arbeite, und der aufgrund einer schweren Gewaltstraftat inhaftiert ist. Zum Zeitpunkt des folgenden Traums steht er aufgrund einer positiven Lockerungsprognose kurz vor der Öffnung des Vollzugs. In einer Sitzung schildert er ziemlich erregt folgenden Traum:
Er sei mit seinen Eltern im Besucherzentrum der Vollzugsanstalt gewesen, als plötzlich ein ziemlich kleinwüchsiger Typ mit rosa T-Shirt und Basecap aufgetaucht sei und seinen Vater bedroht habe. Zuerst habe er im Traum lachen müssen, was denn dieser kleine Typ da – dieser Zwerg, dieses Männchen – seinem Vater anhaben könne; dann sei aber sein Vater ernsthaft bedroht gewesen und er habe sich so aufgeregt, dass er aufrechtstehend in seiner Zelle erwacht sei. Er habe sich wohl so aufgeregt, dass er noch im Traum von seinem Bett aufgesprungen sei, was er noch nie zuvor erlebt habe.
Es würde hier zu weit führen, auf seine komplexe Familiengeschichte und die außergewöhnliche Straftat einzugehen. Ich möchte an dieser Stelle nur zusammenfassend erwähnen, dass die Frage nach Stärke und Eigenständigkeit sowie die Dominanz der Mutter in seiner Geschichte eine große Rolle spielten. Da er sonst nur selten aufwühlende Träume hatte, schilderte er diesen ausführlich. Ich versuchte sein Augenmerk auf den kleinen Mann in rosa Shirt und Basecap zu lenken; dazu könne er nichts sagen, im Traum habe es ihn aber zutiefst schockiert, dass dieser Wicht seinem Vater überhaupt etwas habe antun können, deswegen sei er wohl noch im Traum aufgesprungen, um seinem Vater zu helfen. Ihm falle aber dazu ein, dass dieses Männchen seinen Vater irgendwie mit Karate oder etwas Ähnlichem bedroht habe. Dazu schilderte er eine Anekdote aus seiner Familiengeschichte, die er mir vor längerer Zeit schon einmal erzählt hatte: Als sein Vater Karate lernte und einige Fortschritte im Verein aufweisen konnte, habe seine Mutter es dem Vater zeigen wollen und selbst in Karate einen noch höheren Gürtel als sein Vater erworben. Dann kam er zunehmend auf Erlebnisse aus seiner Kindheits- und Familiengeschichte zu sprechen, die zwar nicht zum ersten Male in den Sitzungen auftauchten, die sich aber nun wohl in diesem Traum verdichteten: die sexuelle Identitätssuche seiner Schwester, sein Davonlaufen von der Mutter, sein ruhiger, sich in nichts einmischender Vater und die Zusammenhänge mit seiner Straftat.
Dieser „kleine Zwerg und Wicht“, der fast etwas von Jones' punchinello verkörpert, hat eine Position in diesem Traum, um die herum sich die Familie anzuordnen scheint. Bezeichnend ist, dass die Mutter im Traum nichts macht. Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass meine Deutung bzw. mein Aufgreifen dieses Traumsymbols wahrscheinlich kein neues Material zum Weitersprechen geliefert hätte, wenn ich direkt auf den Phallus „hingedeutet“ hätte – eher wäre eine befremdliche Reaktion erfolgt, da eben eine Degradation der phallischen Funktion dieses Traumsymbols zum bloßen Objekt erfolgt wäre. Um es mit Lacans „incidence du signifiant“ zu formulieren, könnte man sagen, dass die Deutung auf den „Einfallswinkel des Signifikanten“ hinweist und dadurch einen neuen „Blickwinkel“ ermöglicht: in diesem Falle auf Material, das die sexuelle Ordnung in der Familienstruktur angeht. Auch ist es ein Hindeuten auf die Sexuierung, die immer jenseits konkreter Symbole von Geschlechtsorganen und -funktionen und in der Materialität der Signifikanten liegt: „Männchen machen“ – sprich: eine Position einfordern.
Ce sweater vaut pour le week-end…. (Dieser Sweater steht für Wochenende…)
Roland Barthes verweist in einem ganz anderen Zusammenhang auf einen Akt der Deutung, der einem willkürlich gewählten Teil eines bestimmten Systems eine Bedeutung zuweist: In Système de la Mode (Die Sprache der Mode) (Barthes 1994, S. 129-401) interessiert sich Barthes ausschließlich für die Versprachlichung der Mode, die eine Differenz zum konkreten Gegenstand – dem Kleidungsstück – einführt. Wie in der Traumdeutung ist das Sprechen von der Mode Grundlage einer Deutung:
Im Beispiel: „eine weite Bluse verleiht Ihrem Rock einen Hauch von Romantik sind die Bluse und der Rock zwei völlig unterschiedliche Teile […] jedoch ist es der Rock, dem die Bedeutung zukommt“ (ebd., S. 197 [Übersetzug d. Verf.]).
Barthes betont weiter, dass diese Bedeutung nicht dauerhaft durch die Zuschreibung des Signifikats romantisch definiert wird, sondern lediglich eine vorübergehende Gültigkeit erfährt: „[…] für die Zeit eines Sprechens, einen Sinn, der ihm nicht gehört und der ihm wieder genommen werden wird“ (ebd. [Übersetzug d. Verf.]).
Es handelt sich nicht um „wahre“ Substanzen, die verfügbar wären, sondern um formale Gültigkeit in einem bestimmten Kontext (ebd., S. 370). So auch der sweater, der für Wochenende steht („ce sweater vaut pour le week-end“) (ebd., S. 363) und den ich hier aufgrund des rosa T-Shirts im Traum des Heranwachsenden zitiere; er verweist auf einen Zusammenhang mit Phantasien von Genuss und Begehren. Während aber die Mode einen Imperativ der Bedeutung schafft und vorübergehend festschreiben will, soll in der Traumdeutung ein Sprechen aufrechterhalten werden und neues Material zutage fördern. Die Kleidungsstücke im Traum sind nicht neutral, sondern vielfach determiniert. Sie beziehen sich auf Moden und deshalb wird auch ihre Deutung im Laufe der Zeit variieren. Der kleine Kerl im rosa Shirt und der Mütze trennt die Familie – der Träumer muss seinen Vater schützen, die Mutter kann das im Traum nicht. Es geht sogar soweit, dass der Traum als Hüter des Schlafes versagt und der Träumer vom Bett aufspringt und erwacht. Es wird etwas zerschnitten.
Das Wort Sexualität kommt vom lateinischen secare – zerschneiden, abschneiden. Diese Trennung, die nachträglich das Trauma der Sexualität bzw. der Sexuierung bilden wird, ermöglicht den Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprachwelt (nicht Phallus zu sein, sondern sich ihm gegenüber im Penisneid oder der Kastrationsangst zu positionieren). Aber dies ist kein definitiver und zeitlich rekonstruierbarer, einmaliger Akt, sondern eine Positionierung gegenüber einer Trennung. So wie die Moden der Geschlechter in stetigem Wandel sind, ist auch der Übergang von der Identifizierung mit einem Signifikanten zum anderen nicht an das biologische Geschlecht gebunden. In Träumen wie den oben dargestellten re-inszeniert sich dieser Schnitt. Das Deuten in der Psychoanalyse wäre also das Hin-Deuten auf diesen Spalt, der das Begehren ermöglicht.
So ist auch Freuds Deutung des Hutes im Kapitel der Traumdeutung Darstellung durch Symbole nicht obsolet geworden, also kein alter Hut, auch wenn die Geschlechtermode bzw. der Geschlechtermodus sich gewandelt hat. Freud schreibt: „Von Kleidungsstücken ist der Hut einer Frau häufig mit Sicherheit als Genitale, und zwar des Mannes, zu deuten“ (Freud 1900a, S. 360-361).
Und ein paar Seiten weiter führt er ein Traumbeispiel einer jungen agoraphobischen Frau auf, die mit einem eigenartig verformten Strohhut an einem Trupp junger Offiziere vorbeigeht und dabei (im Traum) denkt: „Ihr könnt mir alle nichts anhaben“ (ebd., S. 365). Freuds Deutung – „wenn sie einen Mann mit so prächtigem Genitale hat, braucht sie sich vor den Offizieren nicht zu fürchten“ (ebd., S. 366) – führt eine Differenz ein, einen Schnitt (secare): Sie ist nicht der Phallus, sondern der Hut regelt die Geschlechterordnung, man fällt nicht über sie her. Freuds Deutung ist also keine Heraushebung des Phallus als ein mit Affekt besetztes Symbol (wie bei Jones), sondern ein Hinweis auf die Bedeutung des Phallus als Signifikant des Mangels, der eine Funktion aufzeigt. Mit Lacan würde man sicher weiter deuten („auf der Hut sein, sich hüten, behüten“). Aber Freud deutet auf die grundlegende Differenz, die dieser Hut im konkreten Fall dieser agoraphobischen Frau einführt, hin: Der angstbesetzte Platz gefüllt mit Offizieren wird zerschnitten (secare) und es wird eine Ordnung eingeführt. Dass Freud dabei scheinbar stereotyp mit Symbolen verfährt und Hüte, Krawatten und anderes als Penissymbole begreift, ist dabei vor allem der Tatsache geschuldet, dass viele dieser Gegenstände in der kulturellen Ordnung tatsächlich eine Macht- und Geschlechterbeziehung einführen bzw. beschreiben.
Einfallswinkel der Signifikanten versus Deutungshoheit
Pierre Bourdieu entwickelt in seinen Vorlesungen von 1989-1992 am Collège de France, die 2012 unter dem Titel Sur l’État veröffentlicht wurden, den Gedanken, dass die symbolische Gewalt, die der Staat symbolisiert, immer auch von magischen und mythischen Vorstellungen und Akten getragen wird. Er beschreibt dies anhand von Beispielen wie den florierenden „(Experten-) Kommissionen“ und den „Evaluierungen“. Erstere nennt und ernennt, was legitim und anerkannt und was verworfen wird, worauf ein wissenschaftlicher Legitimationsakt folgt (Bourdieu 2012, S. 47-51). Ich will diesen Akt hier als „Deutungshoheit“ bezeichnen. Konkret heißt dies in den einzelnen Institutionen – die unter „Bildung, Gesundheit und Justiz“ zusammengefasst werden können – dass bestimmte pädagogische Praktiken, Heilverfahren und psychologische Interventionen legitimiert oder verdrängt werden. Die Verdrängung der Psychoanalyse aus diesen Institutionen ist mittlerweile ein Allgemeinplatz, der hier nicht näher ausgeführt werden braucht, interessanter ist es zu erfassen, wie sich der „Ort einer Deutung“ behaupten könnte. Hier kann ich nur auf mein eigenes Erfahrungsfeld zurückgreifen: die Justiz bzw. deren Vollzugsanstalten. Es treffen hier pädagogischer, psychologischer und medizinischer Diskurs aufeinander: Es wird in Anti-Aggressivitäts-Trainings erzogen, in psychologisch-kognitiven Verfahren gelernt und in ärztlichen Therapien medikamentös unterstützt. Die Deutung des Erlebens und Verhaltens der einzelnen Insassen wird mit Bedeutung aufgeladen: Impulskontrollstörungen, die konfrontativ überzogen behandelt werden sollen, Persönlichkeitsauffälligkeiten oder -störungen, die auf falsch erlerntem Umgang mit Konflikten beruhen und durch kognitive Umstrukturierungsprogramme korrigiert werden, und biologisch-medizinische Determinanten, die durch Medikamentengaben eine Kompensation erfahren. Jedem dieser drei Gebiete wird in den Vollzugsinstitutionen sozusagen eine amtliche Hoheit zuerkannt, die ihre Behandlungsakte legitimiert und auch materiell in den Akten niederlegt.
Gibt es nun darin einen Ort für Deutung, den die Psychoanalyse schaffen kann? Die Effizienz der Deutung besteht ja laut Freud darin, dass sie als wirksam bezeichnet werden kann, wenn sie neues Material liefert. Die Effizienz besteht gerade nicht darin, dem Subjekt vorab eine „hoheitliche“ Deutung vorzugeben, in deren Richtung es sich dann bewegen soll. Sicherlich können „Konstruktionen in der Analyse“ ein Deutungsfeld beschreiben, das dem Analysanten vorübergehend helfen kann, Problematiken zu erfassen, was aber nicht bedeutet, dass deshalb das eigene Durcharbeiten und Dekonstruieren aufhören soll.
Nun kommen in meiner institutionellen Praxis im Jugendstrafvollzug immer auch Insassen zu mir, die die Diskurse und Praktiken der „Gogik, Logik, Iatrik“ durchlaufen haben. Diese Diskurse wirken, und es wäre fatal, würde die „Analytik“ ihnen gegenüber nur eine Abwehrhaltung einnehmen. So erzählen manche meiner Klienten, wie sie die Trainings und pädagogischen Konfrontationen erlebt haben, wie wichtig dies für sie gewesen sei. Oder nehmen wir den Fall eines Jugendlichen, der mir in Sitzungen fast ausschließlich von aktuellen aggressiven Fantasien erzählte und der häufig durch ausagierende Handlungen auffiel. Er wurde aus eigenem Wunsch beim Psychiater vorstellig, bekam eine Medikation und berichtet mir nun in den Sitzungen, dass er jetzt den Kopf so frei habe, dass er sich manchmal hinsetze und über vieles nachdenke. So erzählte er in einer Sitzung ausführlich seine Familiengeschichte und seine damit verbundenen Ängste und Wünsche. Meine vorsichtigen Deutungen bezüglich Ängsten des Verlassen-Werdens und Wiedergutmachungsphantasien bewegten ihn zum Weitersprechen.
Ich stelle dies hier dar, um zu zeigen, dass die Psychoanalyse einen anderen Ort der Deutung in gesellschaftliche Zusammenhänge einschreiben kann. Es geht nicht um ein Konkurrenzunternehmen, das die Deutungen anderer Diskurse anficht, um selbst eine Deutungshoheit über die Psyche zu erlangen. Es geht vielmehr um einen Ort, von dem aus das Subjekt im Sprechen die Erfahrung machen kann, dass sein Sprechen gehört wird und dass sich aus seinem Sprechen Wirkungen ergeben, die in den Deutungen des Hörenden widergespiegelt werden.
Würde sich die Psychoanalyse darauf einlassen, eine Deutungshoheit für sich in Anspruch zu nehmen, müsste sie auch eine Evaluierung in Form einer Überprüfung ihrer „Deutungseffizienz“ in Kauf nehmen, was den Ort des Hörens und Sprechens in ein objektives Labor transformierte. Enthielte sie sich mit einem asketischen Gestus gänzlich der Deutung, würde sie wohl vielen Subjekten, vor allem wenn sich diese in institutionellen Verstrickungen befinden, nichts mehr aufweisen und aufzeigen können; auf diese Weise würde sie einen Mutismus oder ein stereotypes „leeres“ Sprechen fördern, wogegen ephemere „Konstruktionen in der Analyse“ eine subversiv-destruierende Auflösung von Verstrickungen durch ein Weitersprechen ermöglicht hätten. Nimmt man hingegen die Formulierung Lacans „incidence du signifiant“ als „Einfallswinkel“ au pied de la lettre, also wörtlich, so orientiert sich die Ausrichtung der Kur am Unbewussten des Analysanten.
1 „Certains abords erronés doivent à cette fin être déblayés, comme sa remarque, fallacieuse de fasciner par sa référence à l’objet, que si le clocher d’église peut symboliser le phallus, jamais le phallus ne symbolisera le clocher.“
2 „Car il n’est pas moins vrai que dans un rêve, fût-il celui d’une forgerie ironique de Cocteau, on puisse tout à fait légitimement, au gré du contexte, interpréter l’image du nègre qui, flamberge au vent, fonce sur la rêveuse, comme le signifiant de l’oubli qu’elle a fait de son parapluie lors de sa dernière séance d’analyse.“
3 „Il faut poser que c’est l’incidence concrète du signifiant dans la soumission du besoin à la demande, qui en refoulant le désir en position de méconnu, donne à l’inconscient son ordre.“ (Jones 1978, S. 709) Incidence kann neben Wirkung auch Lichteinfall oder, als angle d’incidence, die physikalische Bedeutung von Einfallswinkel haben, was in seiner Doppeldeutigkeit im Deutschen für den Begriff Deutung nicht uninteressant ist (siehe auch Petit Robert 1994, S. 1146).
4 Wörtlich heißt es bei Lacan: „Car ces idées primaires désignent les points où le sujet disparaît sous l’être du signifiant; qu’il s’agisse, en effet, d’être soi, d’être un père, d’être né, d’être aimé ou d’être mort, comment ne pas voir que le sujet, s’il est le sujet qui parle, ne s’y soutient que du discours. Il apparaît dès lors que l’analyse révèle que le phallus a la fonction de signifiant du manque à être que détermine dans le sujet sa relation au signifiant. Ce qui donne sa portée au fait que tous les symboles dont l’étude de Jones fait état, sont des symboles phalliques.“ (Lacan 1966, S. 709-710).
Literaturverzeichnis
Barthes, Roland (1994 [1967]): Le système de la Mode. In: Oeuvres Complètes. Tome II. Paris: Seuil.
Bourdieu, Pierre (2012): Sur L’État. Cours au Collège de France 1989-1992. Paris: Seuil.
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Foucault, Michel (1986): Geschichte der Sexualität III. Die Sorge um sich. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2004): Hermeneutik des Subjekts. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Freud, Sigmund u. Ferenczi, Sándor (1993 [1911]): Briefwechsel. Bd. I. Wien/Köln/Weimar: Böhlau.
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Jones, Ernest (1978 [1916]): „Die Theorie der Symbolik“. In: Die Theorie der Symbolik und andere Aufsätze. Frankfurt/M./Berlin/Wien: Ullstein.
Lacan, Jacques (1966 [1959]): Écrits. Paris: Seuil.
Lacan, Jacques (1959-60/1996): Die Ethik der Psychoanalyse. Weinheim/Berlin: Quadriga.
Lacan, Jacques (1986): Die Wissenschaft und die Wahrheit. In: Ders.: Schriften II. Weinheim/Berlin: Quadriga.
Le Petit Robert (1994): Dictionnaire universel des noms propres, alphabétique et analogique.
Miller, Jacques-Alain (1995): „L’interpretation à l’envers“. In: La Cause Freudienne. Revue de Psychanalyse Nr. 32 (1996). http://cause.des.filets.online.fr/J.A.Miller_envers_interpretation.shtml [27.01.2023].
Autor:in: Dr. phil. Bernhard Schwaiger ist Psychoanalytiker und Psychologischer Psychotherapeut im Strafvollzug und in eigener Praxis.