über die Bedeutung der Wunscherfüllung im Traum bei Freud und Lacan

Kassandra Niendorf

Y – Z Atop Denk 2023, 3(2), 1.

Abstract: In diesem Artikel wird, ausgehend von der Traumdeutung Sigmund Freuds, die Funktion der Wunscherfüllung im Traum untersucht sowie im Hinblick auf die Dialektik von Bedürfnis (besoin), Anspruch (demande) und Begehren (désir) weiter entfaltet. Die Leitfrage meiner Überlegungen lautet: Warum ist nicht jeder Traum eine Wunscherfüllung, wenn das Wünschen als existenziell verstanden werden kann? Während Freud (1900) von einem infantilen Wunsch ausgeht, der sich im Traum – im Rahmen der Primärprozesse und unter der Bedingung des Schlaferhalts – erfüllt, stellt Lacan (2020) die Idee eines Begehrens, das unerfüllt bleibt und nicht zu befriedigen ist, der Freud’schen Wunscherfüllung entgegen. Anhand des „Traums der schönen Metzgerin“ wird versucht, auf die Frage, ob es Träume ohne einen wunscherfüllenden Charakter (Lacan) gibt, in Rückbezug auf die klassische psychoanalytische Wunscherfüllungstheorie (Freud) eine Antwort zu finden.

Keywords: Wunsch, Wunscherfüllung, Begehren, Traum, Freud, Lacan

Veröffentlicht am: 28.02.2023

Artikel als Download: pdfAls das Wünschen noch geholfen hat

 

1. Einleitung

In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat – so wurden und werden immer wieder literarische Werke begonnen, und vor allem die Märchen beschwören solche träumerische Zeit herauf (vgl. Gobrecht et al. 2003). In der neueren Literatur schreibt Peter Handke (2019, S. 116): „Der Traum war selber schon die Erfüllung.“ Auch das Religiöse ist ein Ort, an welchem Wünsche eine wichtige Bedeutung haben und in Erfüllung gehen. So sind etwa im tibetischen Buddhismus Wünsche häufig präsent (Brück & Brück 1987): Als Inkarnation der Barmherzigkeit wird der in Meditationen projizierte wunscherfüllende Edelstein, mit tausend Armen und elf Köpfen symbolisiert. Dadurch kann das Wesen in alle Richtungen der Welt blicken, unzähligen Menschen helfen und Wünsche erfüllen (ebd.). In der indischen Mythologie gilt die Kamadhenu (sanskr. kāma = Wünsche), die himmlische, wunscherfüllende Kuh, als ein heiliges Wesen (Devyai et al. 2012). Es wird angenommen, dass, wenn Opfer gebracht werden und viel Yoga, Pranayama, praktiziert wird, der eigene Geist stark wird. Indem das prāṇa stark wird, existiert die Kamadhenu in dem Subjekt selbst, sodass ein real existenter Besitz ihrer Inkarnation nicht mehr erforderlich ist, um Wünsche erfüllt zu bekommen. Wünsche sind also, so scheint es, untrennbar mit der Hoffnung auf Erfüllung verbunden. Sie sind etwas, das antreibt und das Rad der Wiederholung in Bewegung hält (vgl. Freud 1920, S. 17). Dass Träume Wünsche enthalten, ist seit der Antike bekannt (vgl. Bianchini 1940; Leiteritz 2004).

In dieser Tradition steht auch die Traumdeutung Sigmund Freuds (1900). Nach Freud sind Wünsche, die im Traum ersichtlich werden, nicht nur Ausdruck unbewusster Triebwünsche, sondern auch bereits deren Erfüllung (ebd.). Der Freud’sche Wunsch, der sich im Traum zeigt, hat einen infantilen Ursprung (Freud 1900, S. 571 ff.). Diese ursprüngliche Quelle des in der Kindheit verwurzelten Wunsches ist unbewusst und als Triebregung körperlicher Natur. Die Erregung, die durch eine innere, somatische Reizung zustande kommt, kann eine Befriedigung erfahren, indem das Kind durch die Außenwelt (z.B. durch die Pflege der Mutter) versorgt wird, etwa über das Gestillt- oder Getragen-Werden, generell durch die Zuwendung der Eltern. Das Kind wird diese Wahrnehmung (von dem Fließen der Milch, der Wärme oder einer Berührung etc.) mit der Bedürfniserregung verknüpfen und von da an selbst „halluzinatorisch“ erzeugen, um die Situation der „ersten“ Befriedigung, die anfangs noch von außen kam, wiederherzustellen (ebd.). So gelingt es dem Kind, sich ohne äußere Hilfe den Wunsch nach Sicherheit, Versorgt-Sein und Sättigung zu erfüllen. Später werden manche dieser Wünsche in das Unbewusste verdrängt, die sich auf eine gleichsam inzestuöse Verbindung mit den frühen Bezugspersonen beziehen und in der Realität des Erwachsenenlebens nicht mehr erfüllbar sind. In der Realität wird also, so Freud, die Befriedigung der wesentlichen (inzestuösen) Wünsche verfehlt. Unser Leben ist also durch einen fortwährenden Mangel bestimmt. Im Traum hingegen, so Freud, können wir eine Szenerie erschaffen, in welcher die Erfüllung der im Ursprung infantilen Wünsche noch möglich erscheint (ebd.). Aufgrund dessen postuliert Freud, jeder Traum sei eine Wunscherfüllung: „Der Traum ist die (verkleidete) Erfüllung eines (unterdrückten, verdrängten) Wunsches“ (Freud 1900, S. 166). Es werden unverhüllte, offensichtliche und verhüllte, durch die Traumarbeit entstellte Wunscherfüllungen geträumt. Eine Entstellung durch die Zensur erfolgt zum Schutz der Offenbarung schambesetzter oder bedrohlicher Wünsche (ebd.). Später, in der Revision der Traumdeutung, ist Freud (vgl. 1933, S. 30) etwas vorsichtiger: Träume seien zumindest der Versuch einer Wunscherfüllung. Dennoch kommt Freud auf seine vorherige Annahme zurück, indem er behauptet, dass auch der Versuch nichts weniger als eine Erfüllung sei. Zumindest werden die Mängel, welche die Realität (bzw. das Realitätsprinzip) vorhält, durch die Wunscherfüllung, die dem Lustprinzip folgt, behoben oder kompensiert. Alles Träumen zielt auf eine solche Kompensation der Mängel. Jede Nacht versuchen wir, uns die uralten Wünsche zu erfüllen, welche uns die nüchternen Tage, in deren Licht das Realitätsprinzip vorherrscht, versagen. Den Versuch einer Wunscherfüllung beobachtet Freud (1933) auch in traumatischen Träumen, in welchen – als Ausnahme – die wunscherfüllende Funktion des Traums jedoch scheitert.

Eine Gegenposition zu Freuds Traumkonzept der Wunscherfüllung vertritt Jacques Lacan (2020). Indem Lacan behauptet, dass der Traum-Wunsch gerade nicht erfüllt werden darf, liegt das Wesen des Wunsches in seiner Versagung. Das Begehren scheitert auf dem Wege zu seiner Erfüllung, und die Wiederholung führt ständig an den Punkt der Nichterfüllung. – Im Folgenden werde ich anhand des „Traums der schönen Metzgerin“, den Freud (1900) in der Traumdeutung analysiert und Lacan (2019) hauptsächlich in seinem Seminar V Die Bildungen des Unbewussten kommentiert, die verschiedenen Sichtweisen auf die Wunscherfüllung im Traum verdeutlichen und die Funktion des Wunsches im Traum bei Freud und Lacan herausstellen.

 

2. Über den „Traum der schönen Metzgerin“

2.1. Freuds Sichtweise auf den „Traum der schönen Metzgerin“

Freud (1900, S. 152 ff.) berichtet den „Traum der schönen Metzgerin“ im Kapitel IV der Traumdeutung. „Die schöne Metzgerin“ – wie Lacan (2019, S. 423) Freuds Patientin bezeichnete – verspürte einen großen Appetit auf „Kaviarsemmel“: Sie wünschte sich, jeden Tag solche Luxushappen essen zu können. Aber sie fürchtete die finanzielle Verschwendung und bat deswegen ihren Mann, den „Metzger“, in welchen sie sehr verliebt war, ihr diesen Wunsch nicht zu erfüllen und ihr keinen Kaviar zu servieren (Freud 1900). Sie sagte in ihrem unbewussten Sprechen: Du sollst mir nicht geben, was ich mir wünsche und doch nicht möchte – und genau diese Mischung aus Wunsch, Verbot und spielerischem Vorwurf stimulierte ihre Verliebtheit. Unmittelbar vor ihrem mittlerweile berühmten Traum ließ ihr Mann sie wissen, dass Soupers mit einer Gewichtszunahme assoziiert seien und dass er, da er eine Diät anstrebe, selbst keine Einladungen mehr zu Soupers annehmen werde. Eine Freundin des Metzgerpaares hatte „die schöne Metzgerin“ – ebenfalls unmittelbar vor ihrem Traum – gefragt, wann sie einmal wieder ein Souper geben werde, da man immer so gut bei ihr essen würde. Zudem, so sagte die Freundin, wolle sie an Gewicht zunehmen, weil sie selbst so dünn sei. Ihr Mann, der Metzger, fände allerdings kräftige Frauen – wie seine „schöne Metzgerin“ – attraktiver. Zuvor hatte sich der Metzger über diese Freundin oftmals sehr positiv geäußert, aber dieses Lob ließ die Metzgersfrau, wie sie Freud versicherte, nicht eifersüchtig sein, da sie sich sicher war, dass ihr Mann ihr nicht fremdgehen würde. Zudem war die Lieblingsspeise der Freundin Lachs, während die Metzgersfrau in den Kaviar vernarrt war. So lässt sich also die Konstellation sowohl der Tagesreste als auch der unbewussten Dynamik zusammenfassen, als „die schöne Metzgerin“ folgenden Traum träumte:

„Ich will ein Souper geben, habe aber nichts vorrätig als etwas geräucherten Lachs. Ich denke daran, einkaufen zu gehen, erinnere mich aber, daß es Sonntag Nachmittag [sic] ist, wo alle Läden gesperrt sind. Ich will nun einigen Lieferanten telephonieren, aber das Telefon ist gestört. So muß ich auf den Wunsch, ein Souper zu geben, verzichten.“ (ebd., S. 152).

Freud zieht nun zwei Deutungslinien: Erstens soll die Freundin nicht an Gewicht zunehmen, d.h. nicht attraktiver werden, damit die Liebesbeziehung zwischen dem Metzgerpaar nicht gefährdet wird. Es gibt kein Souper für die Freundin. Zudem ist das Telefon gestört, und es ist sowieso Sonntag, sodass alle Läden geschlossen sind. Insofern kann die Träumerin auch nichts dafür, wenn kein Souper zustande kommt, da ihr alle Versuche, genügend Lachs einzukaufen, verunmöglicht werden. Ihr Wunsch, gerade kein Souper zu geben, bleibt so verschleiert. Freuds zweite Deutungslinie zielt auf die Bitte der Metzgerin an ihren Mann, keinen Kaviar geschenkt zu bekommen: Sie identifiziert sich hierbei mit der Freundin, deren Wunsch nach einem Lachs-Souper unerfüllt bleibt. Mit Hilfe dieser Identifizierung hat die Metzgersfrau gleich zwei Ziele erreicht: Ihr Versagungs-Wunsch, keinen Kaviar, bzw. Lachs zu erhalten, geht ebenso in Erfüllung wie der Wunsch, dass die Freundin dünn, d.h. für ihren Mann unattraktiv bleiben möge. Die Metzgersfrau setzt sich in ihrem Traum an die Stelle der Freundin, weil diese sich durch ihre angestrebte Gewichtszunahme in die Liebesbeziehung der schönen Metzgerin drängt und damit an ihre Stelle setzt, um so ihren eigenen Mann – mitsamt seiner Anerkennung und Liebe ihr gegenüber – zu erobern (ebd., S. 156).

 

2.2. Lacans Sichtweise auf den „Traum der schönen Metzgerin“

Lacan (2019, S. 423 ff.) deutet diesen Traum anders als Freud. Seine Argumentation lautet folgendermaßen: Die Träumerin hegt den Wunsch, ein Souper zu geben. Sie will dieses Souper für die Freundin geben, welche im Wachleben der schönen Metzgerin gerade darum gebeten (demander) hatte. Diese Bitte taucht im Traum wieder auf. Zwar hat die Träumerin noch etwas Lachs im Haus, welcher das Begehren (désir) der Freundin anzeigt, doch reicht dieser nicht aus, um zu einem Souper einzuladen. Sämtliche Versuche, dieses Souper doch noch zustande zu bringen, scheitern, durch zu wenig vorrätigen Lachs, ein gestörtes Telefon sowie geschlossene Läden. Hier entfaltet sich die Lacan’sche (2019, S. 426) Dialektik aus Bedürfnis (besoin), Anspruch (demande) und Begehren (désir): Die Metzgersfrau erhebt zunächst ihren Anspruch, ein Souper geben zu wollen, indem sie den nötigen Lachs telefonisch ordern will. Das Bedürfnis muss, so Lacan, durch das sprachlich-symbolische Zwischenglied, eine verbal artikulierte Forderung an einen

Andern, der oder die den Anspruch (bei dem Souper Lachs zu servieren und diesen zu verspeisen) erhört und interpretiert, hindurchgehen (Lacan 2019, S. 429 f.). Doch bleibt die Leitung gestört und der Anspruch der Metzgersfrau ungehört und damit unbefriedigt. Hier zeichnet sich nach Lacan (ebd.) die „hysterische“ psychische Struktur der Metzgersfrau ab, deren Ansprüche nicht befriedigt werden können. Es bleiben so nicht nur das Bedürfnis und der Anspruch, sondern vor allem das Begehren der Metzgerin, das im Traum auf das Lachs-Souper abzielt, unbefriedigt: Die Metzgersfrau hat zu wenig Lachs, das Telefon funktioniert nicht, die Geschäfte sind geschlossen. So verweist der Traum auf unbefriedigte Reste, die in das Unbewusste der Metzgerin als Abkömmlinge des Begehrens verdrängt wurden.

Der Traum enthält, so Lacans (2019, S. 426 ff.) Lesart, zwar einen Wunsch, doch anders als im Freud’schen Sinne: Der Wunsch der „schönen Metzgerin“ lautet, dass das Begehren unbefriedigt, ihr Wünschen unerfüllt bleiben möge (ebd.). Gerade aus diesem Begehren – als unbefriedigtes – sowie dem damit verbundenen Aufbau einer inneren Spannung bezieht sie unbewusst ihr im Kern „masochistisches Genießen“ (2020, S. 555). Es geht um den Mangel und das daraus gespeiste Begehren, welches gewissermaßen die Existenz des Subjekts sichert (ebd., S. 551, 566). Darum muss es unbefriedigt bleiben (Lacan 2019, S. 429). Der Mangel muss erhalten werden. Aber es ist – hinsichtlich der unbewussten Motivation der Metzgerin – noch komplizierter: Das Begehren – als das Begehren des Anderen – muss deshalb aufrechterhalten werden, damit sich die Metzgersfrau als „hysterisches Subjekt“ in der Identifizierung mit dem mangelhaften und wegen des Mangels begehrenden Anderen (weiterhin) konstituieren kann (Lacan 2019, S. 429, 2020, S. 555 f.)1. Sie braucht ihre Freundin, die in Lachse vernarrt ist und mit welcher sie sich identifizieren kann, um ihr eigenes Begehren zu artikulieren (Lacan 2019, S. 428). Durch diese Identifizierung mit dem (Lachs-)begehrenden Anderen wird die Metzgersfrau selbst zu einem Subjekt, das ein unbefriedigtes Begehren (nach Lachs, bzw. Kaviar) hat. Sie maskiert sich gleichsam mit dem Begehren der Freundin, eignet sich das Begehren des Anderen an. So teilt „die schöne Metzgerin“ ihrem Mann in der Realität mit, dass sie gar keinen Kaviar will: Das in diesem Sinne „verweigerte Begehren“ (ebd., S. 429) dient dazu, es aufrechtzuerhalten. Insofern darf das Begehren der Metzgersfrau nach Kaviar nicht befriedigt, sondern muss im Gegenteil hervorgebracht, um jeden Preis erhalten werden, um den Mangel und damit „sich selbst zu erhalten“. Der Traum (des Anderen) von einem Lachs-Souper, dessen Realisierung unmöglich ist, spiegelt damit die im Wachleben beobachtbare hysterische Struktur der schönen Metzgersfrau wider (vgl. ebd., S. 428).

 

3. Gibt es Träume ohne einen wunscherfüllenden Charakter?

Freud (1900, S. 156) deutet den „Traum der schönen Metzgerin“ dahingehend, dass sich die Träumerin mit ihrer Freundin bzw. Konkurrentin identifiziert. Mit Hilfe dieser Identifizierung hat sie gleich zwei Ziele erreicht: Ihr Versagungs-Wunsch, selbst keinen Kaviar zu erhalten, um ihren Mann weiterhin liebevoll necken zu können, geht ebenso in Erfüllung wie der Wunsch, dass die Freundin dünn und damit für ihren Mann unattraktiv bleiben möge. Somit setzt sie sich an die Stelle der Freundin, weil diese sich an ihre Stelle setzt, um so ihren Metzger-Mann zu erobern. Aus Lacans (2019, S. 426 ff.) Analyse desselben Traums ergibt sich hingegen, dass der Wunsch, d.h. das Begehren nicht erfüllt wird. Nur indem der Traum keine Wunscherfüllung hervorbringt, kann das Begehren aufrechterhalten werden, welches die psychische Lebendigkeit des Subjekts (der Metzgersfrau) garantiert. Das Begehren wirkt als existenzielle Sicherung des Seins (être): Lacan (2020, S. 566) formuliert: In dem „Sein zu“ (être pour), also in der Metonymie des Begehrens, der Fortdauer der unerfüllten Wünsche liegt das ganze „Um zu sein“ (pour être) des (neurotischen) Subjekts. Ohne ein Begehren, einen Antrieb faded, verschwindet das Subjekt, löst sich (psychisch) auf (Lacan 2020, S. 551). Somit kann der Wunsch, der sich im Traum artikuliert, lediglich der Wunsch danach sein, ein unbefriedigtes Begehren zu haben (ebd.). Die Verschiebung des unbewussten und nicht zu befriedigenden Begehrens, das von einem Objekt zum nächsten gleitet, etwa von den Eiern der Mutter zu den Kaviar-Eiern des Störs, die „die schöne Metzgerin“ kannibalistisch zu inkorporieren wünscht, bis hin zum Muskel-Fleisch des Lachses, spiegelt sich, so Lacan, prinzipiell in jedem Traum wider (Lacan 2019, S. 425 f.). Es ist aus folgendem Grund dieses Scheitern, das die im unerfüllten Wunsch, in seinem unaufhörlichen Begehren begründete Subjekt-Existenz sichert: Das ursprüngliche Begehren ist das Begehren nach der Mutter (Lacan 2019, S. 212, 215). Es ist der präödipal-inzestuöse Wunsch, mit der Mutter eins zu sein, die Mutter-Kind-Dyade aufrechtzuerhalten und in dieser Symbiose zu verbleiben (ebd.). Dieses primordiale, aus dem Unbewussten wirkende Begehren bleibt bestehen: „[Das Subjekt gibt] das inzestuöse Objekt […] niemals völlig auf“ (Lacan 2019, S. 386). Überhaupt kann sich erst aus dem Mangel als Grundstruktur des Begehrens das Subjekt konstituieren: Insofern das Subjekt die (körperliche Ab-)Trennung vom primordialen Anderen, die Separation vom mütterlichen Primärobjekt erfährt, erhält das Subjekt seine Existenz (Fink 2015, S. 82). Damit hat es zwar, so Lacan, noch kein „reifes Sein“ erreicht, aber – durch diese Etablierung des Inzesttabus durch den Vater – ist sein Eintreten in die soziale Welt vollzogen, und das Subjekt existiert in der sprachlich-symbolischen Ordnung (Fink 2015). Das primordiale Begehren nach der Mutter wird in das Unbewusste des Kindes verdrängt, von wo es weiter auf das Subjekt wirkt. In diesem Wirken verspürt das Subjekt ein Fehlen, einen (Objekt-)Mangel – ein unbewusstes Begehren „nach etwas“ (Lacan 2014, 2019, 2020). Erst nach dieser einen Mangel hervorrufenden Trennung vom Anderen (der Mutter) und dem Erhalt seiner Existenz wird dem Subjekt die Erreichung eines „reifen Seins“ möglich (Fink 2015, Lacan 2020). Würde nun die Befriedigung des Begehrens tatsächlich realisiert werden, dann würde nicht nur das Begehren schwinden, sondern – im äußersten Fall – auch das Subjekt: Es würde „faden“, psychotisch werden (Lacan 2020, S. 255). In solch einem verheerenden (Zurück-)Fall würde das Subjekt von dem allmächtigen mütterlichen Primärobjekt verschlungen und damit seine Existenz, sämtlich erreichtes Sein verlieren (Evans 2017, S. 179). Deshalb muss der unerfüllte Wunsch, das aus Mangel gespeiste Begehren „verweigert“ und damit erhalten bleiben, um die Existenz, bzw. das Sein des Subjekts zu sichern (Lacan 2019). So könnte es also heißen, gleichsam der kartesianischen Formel folgend: Ich wünsche, also bin ich – wodurch der Wunsch als etwas Existenzielles verstanden wird. Folgt man dieser existenziellen Lesart eines Wunsches, so stellt sich die Frage: Wie könnte ein Subjekt existieren, das keine Wünsche hat? Lacan (vgl. 2020, S. 555) behauptet: Das Begehren (désir) – oder eben das Wünschen – verhindert den depressiven, im äußersten Fall psychotischen Absturz, die Auflösung und Fragmentierung des Subjekts, sein Verschwinden: die aphanisis (altgr. ἀφάνισις). Der Dichter Handke (2003) nannte eines seiner Bücher (über seine Mutter, die Suizid beging) „Wunschloses Unglück“. Das Unglück entsteht durch die Wunschlosigkeit: den Verlust des Wünschens. Das Begehren ist insofern existentiell und essentiell, und genau dieser essentielle Charakter des Wunsches spiegelt sich, so Lacan, im Traum wider. Lacan (2020, S. 63) sagt: „[Der Wunsch im Traum] befriedigt sich dadurch, dass er ist“. Das Sein bzw. das Vorhandensein eines Wunsches ist dann selbst ein symbolisches Element, welches dem Subjekt hilft, sich in der sozialen Welt zu verorten, sein (Da-)Sein zu sichern (Lacan 2015, S. 218, ebd.). Damit geht es Lacan nicht um eine inhaltliche Erfüllung eines Wunsches, der sich im Traum darstellt. Das Begehren muss im Traum notwendigerweise unbefriedigt bleiben, um die Verankerung des Subjekts in der symbolischen Ordnung zu gewährleisten. Durch das bloße (Vorhanden-)Sein (être) des Wunsches im Traum erkennt Lacan (2020, S. 63, 566) den Wunsch bereits als befriedigt an, insofern der Wunsch darin besteht, ein unbefriedigtes Begehren zu haben. Das Lacan’sche Begehren ist damit ein „Begehren nach Sein“ (Evans 2017, S. 242). So wird auch im Traum versucht, den Wunsch, ein unbefriedigtes Begehren zu haben, zu erfüllen. – Während Freud (1920) davon ausgeht, die Lust bestünde in dem Spannungsabbau, sieht Lacan (2020) die Lust (plaisir) in dem Entgegengensetzten: Das Lustvolle ergibt sich aus der Wahrnehmung der Spannung, daraus, diese Spannung aufzubauen. Die exzessive Lust, die über jede lustvolle, über jede angenehme Lust hinausgeht und in eine traumatische Un-Lust umschlagen kann, ist das, was das Lacan’sche Genießen – die jouissance – bezeichnet (Lacan 2017, S. 82). Somit zielt das Freud’sche Lustprinzip auf den Spannungsabbau ab, während die jouissance bei einem Spannungsaufbau empfunden wird. Das Lacan’sche Begehren bezeichnet also – wenn man so will – etwas Ähnliches, dennoch nicht Gleiches wie das Freud’sche Wünschen. Der Wunsch kann eine Befriedigung erfahren, sei es nach Freud (1900) halluzinatorisch im Traum oder in der infantilen Wirklichkeit als Säugling/Kind während der ersten Situation einer Befriedigung eines Triebwunsches; das Begehren (désir) hingegen kann und darf keine Befriedigung erfahren (Lacan 2019, 2020). Bei dem Lacan’schen Begehren geht es im Gegensatz zum Freud’schen Wunsch um seine Hervorbringung (ebd.). Wenn man den Lacan’schen mit dem Freud’schen Terminus vergleichen möchte, kann das Begehren somit als ein unbewusster und unbefriedigter Wunsch (nach etwas) verstanden werden.

Somit kann – insofern der Wunsch nach Lacan als unbewusstes und unbefriedigtes Begehren definiert wird – eine Wunscherfüllung im Traum nach Lacan lediglich das bezeichnen, auf das das Begehren abzielt: das Genießen (jouissance) (vgl. Lacan 2017, 2019, 2020). Doch da dieses Ziel keine tatsächliche Erfüllung des Begehrens mit sich bringt, sondern die Aufrechterhaltung des Begehrens bedingt, kann es durch diese eigentlich „danebenliegende Erfüllung“ nur weiterhin im Traum hervorgebracht werden (Lacan 2019, 2020, S. 566). Da der primordiale Wunsch im Zurück-Sein in der inzestuösen Mutter-Kind-Struktur wurzelt, kann, so Lacan, eine Realisierung der Begehrensbefriedigung im Traum nicht halluziniert werden, da dem Träumenden sonst die aphanisis drohen würde (Lacan 2020). Somit kann die Fragestellung in Form eines Paradoxons bejaht werden: Nach Jacques Lacan – und im Widerspruch zu Sigmund Freud – haben Träume keinen wunscherfüllenden Charakter, und genau darin, in dieser existentiellen Negativität liegt die Lacan’sche Wunscherfüllung. So kann also tatsächlich gesagt werden: Ich wünsche, also bin ich. Zwar mag Freud recht haben: „Der Wunsch im Traum ist immer da“ (Moser & Hortig 2019, S. 29). Aber Träume würden immer, folgen wir den Einsichten Lacans, nicht nur den Wunsch artikulieren, sondern gleichzeitig das Scheitern der Wunscherfüllung aufzeigen. Scheitert dieses notwendige Scheitern, stürzt der oder die Träumende in den traumatischen Horror der Selbstauflösung – oder wacht auf. Das Scheitern der Wunscherfüllung ist gleichsam der Hüter des Schlafes.

 


1 Der Bezug, auf welchen sich dieser Artikel konzentriert, nämlich die Aufrechterhaltung des Begehrens, stellt lediglich einen Aspekt der hysterischen Struktur dar (Lacan 2020, S. 555 f.). Das Hauptcharakteristikum der „schönen Metzgerin“ ist jedoch die Identifizierung mit dem Objekt des Begehrens des Andern, wie Lacan weiter ausführt. So wird der Mangel im Anderen hauptsächlich deswegen gesucht, um sich mit diesem Fehlenden im Andern zu identifizieren. Auf diese Weise wird das entsprechende Subjekt zum Objekt des Begehrens (des Anderen) – zu dem, was dem Anderen fehlt – und damit selbst begehrt. Die Hysterika will diejenige sein, die begehrt wird, indem sie in ihrer phantasmatischen Vorstellung die Einzige ist, die, als von dem Körper des Anderen abgetrenntes, verlorenes Objekt (des Begehrens), dieses Fehlen, den Mangel im Andern ausgleichen kann (ebd.).

 

Literaturverzeichnis

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Autor:in: M.Sc. Kassandra Niendorf ist als klinische Psychologin tätig und befindet sich in der Ausbildung zur Psychotherapeutin mit tiefenpsychologischer Vertiefung.