bei Lutz Götzmann

Michael Meyer zum Wischen

Y – Z Atop Denk 2024, 4(11), 3.

Abstract: Die hier beiden zusammen vorgelegten Texte von Lutz Götzmann und Michael Meyer zum Wischen sind aus einem monatelangen Austausch und verschiedenen Diskussionen entstanden, die sich nicht systematisieren lassen, sich jedoch um die Rolle des Affekts in Klinik und Theorie der Psychoanalyse drehten, sowie um die Bedeutung der modernen Neurowissenschaften für die Psychoanalyse. Dabei entdeckten die Autoren interessante strukturelle Berührungspunkte zwischen Lacan'schem Denken und neuropsychologischen Konzepten, die sich auch in der Theorie der Affekte als imaginäre Gedanken zweiter Ordnung von Lutz Götzmann zeigen. Differenzen und andere Akzentsetzungen ergaben sich zum Beispiel bezüglich der Frage, inwieweit die Neurowissenschaft die Psychoanalyse belegen kann. Spannende Gespräche gab es zur Relevanz des Monismus Spinozas und Hegels für das Leib/Seele Problem und darüber, ob die Affektpsychologie (in ihrer Verallgemeinerung und „Standardisierung“) der auf das Singuläre ausgerichteten Perspektive der Psychoanalyse gerecht werden kann. Die Autoren hoffen, dass diese Diskussion unter Beteiligung weiterer Leserinnen und Leser in Y weitergeführt werden kann.

Dieser Beitrag will zeigen, dass der Affekt – anders als häufiger angenommen – eine wichtige Rolle in der Theorie Lacans spielt. Affekte sind bei Lacan immer Affizierungen, Effekte, im Rahmen struktureller Konstellationen und insofern keine primären Elemente. Eine besondere Rolle nimmt bei Lacan der Affekt der Angst ein, der aus der Konfrontation des Subjekts mit dem rätselhaften Begehren des Anderen hervorgeht, das immer einer vollständigen symbolischen und imaginären Fassung entgeht. Lacan teilt mit Melanie Klein und Winfred Bion die zentrale Position, die die Angst für die Strukturierung des Subjekts einnimmt. Es wird vorgeschlagen, Lacans Raster zur Angst im „Angstseminar“ als sein „emotionales grid“ zu lesen, welches es erlaubt, emotionale und affektive Veränderungen (gerade im analytischen Prozess) als strukturelle Verschiebungen und Transformationen zu lesen. Diese Überlegungen zu Lacans Affekttheorie führen zu einer Auseinandersetzung mit Lutz Götzmanns Theorie der Affekte als imaginäre Gedanken zweiter Ordnung. Unterstrichen wird die damit beschriebene Verknüpfung von Imaginärem und Symbolischem, die dem Subjekt eine Abschirmung gegen den traumatischen Realen ermöglicht und zugleich im Sinne der Freud’schen Theorie der Signalangst einen prädiktiven Schutzfaktor darstellt. Insofern hat der Affekt eine theoretische Nähe zum Semblant (Schein). Der Text geht zum Schluss auf Möglichkeiten ein, diese theoretischen Ansätze mit der modernen Hirnforschung zu verbinden und verweist dabei auf Lacans Monismus in Folge seiner Lektüre Spinozas.

Keywords: Affekt, Angst, Seminar X, Lacan, Psychoanalyse und Neurowissenschaft

Copyright: Michael Meyer zum Wischen | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Veröffentlicht: 30.11.2024

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Nicht selten wird der lacanianischen Psychoanalyse in Diskussionen vorgeworfen, sie vernachlässige den Affekt – sowohl theoretisch als auch in der klinischen Praxis. Dieser Eindruck erweist sich jedoch als völlig verfehlt, wenn man Berichte studiert, in denen Analysant:innen über ihre Analysen bei Lacan berichten, die ganz im Gegenteil das Auftauchen hoch affektbesetzter Szenen und emotionaler Zustände belegen, deren Wichtigkeit für den Verlauf der Kur evident sind (z. B. Schoonejans 2008) Auch eine gründliche Lektüre des Werkes Jacques Lacans lässt nicht erkennen, worauf sich eine solche Annahme stützen sollte. Theoretisch hat Colette Soler in einer umfassenden Arbeit gezeigt, dass der Affekt im Werk Lacans sogar eine zentrale Stelle einnimmt (Soler 2011). Sie unterstreicht, dass der Signifikant affiziert (und zwar über den Körper) und der Affekt durch den Signifikanten bestimmt ist. Der Affekt befindet sich also genau im Übergangsraum von Sprache und Körper. Einerseits ist er immer körperlich, andererseits durch die Sprache bestimmt. Dabei – folgt man Solers Ausführungen konsequent und denkt sie auch ein Stück weiter – hat der Signifikant Bezug zu allen Registern. Als Teil der differentiellen signifikanten Kette ist gehört er zur symbolischen Ordnung und wurzelt zugleich in der lalangue, einem „blöden“ Genießen und damit im Realen. Zugleich ist das imaginäre Feld unserer Vorstellungen gleichsam vom Netz der Signifikanten aufgespannt. Aber auch der Körper lässt sich allen Registern zuordnen. Als genießender (auch hinsichtlich traumatischer und triebhafter Erregung) ist er real, als konsistentes Körperbild imaginär und im Hinblick auf seine symbolische Strukturierung durch den Anderen symbolisch. Wenn nun der Affekt im Zwischenraum zwischen Körper und Sprache (das eigentliche Feld der Psychoanalyse seit Freud) lokalisiert ist, hat er auch an allen Registern Anteil. Der naheliegendste Zugang würde ihn in einem ersten Schritt imaginär auffassen, zwischen dem Realen des Körpers (dem Genießen) und dem Symbolischen der Sprache. Bei genauerer Betrachtung erscheint der Affekt aber auch selbst allen Registern zugehörig: In Hinblick auf seinen schwer fassbaren, unsagbaren und eher diffusen Empfindungs- und Erregungsaspekt („Emotion“) wäre er eher real zu verorten. Gleichzeitig tritt der Affekt (das Gefühl) nur als sprachlich strukturierte Form eines Erlebens in Erscheinung, über den Diskurs des Anderen, wie Soler unterstreicht. Im Deutschen sagt man: „Ich habe das Gefühl…“ und gibt damit einer bewegt-emotionalen Empfindung Worte. Insofern ist der Affekt vom Symbolischen nicht zu trennen. Und sicher ist er last but not least imaginär aufzufassen, indem er bildhaft in eine ansonsten kaum fassbare „emotionale“ Erfahrung, eine Empfindung (Sentiment) Konsistenz einführt. Damit wird eine affektive Konstellation als eine zusammenfassende Einheit erlebbar und kann als zum Beispiel „Scham“, „Schuldgefühl“ usw. benannt werden. Man darf hier die Frage aufwerfen, ob sich der Affekt in einer an Lacan orientierten Theoretisierung nicht dem Bion'schen Container annähert, indem er etwas „fasst“ und „deutet“, was ansonsten als verfolgendes und unorganisiertes Reales („Beta-Element“) das Subjekt fragmentieren könnte. An dieser Stelle kann an das erste Seminar Lacans erinnert werden, in dem er betont, dass Affektive situiere sich „nicht in einem mythischen Jenseits der Symbolproduktion, das der diskursiven Formulierung vorausläge.“ (Lacan 1990, S. 77). Ohne sprachliche Struktur gibt es also keinen Affekt. Das heißt, dass der Andere (auch der kulturelle Andere) bei seiner Produktion eine große Rolle spielt, um so eine primäre Emotionalität, Erregung (und auch die Tonalität der lalangue) zu formieren. Lacan verweist auf Odysseus, der aus dem Gegrunze der von Circe in Schweine verwandelten Gefährten das Heimweh, den Affekt, heraushört. (Lacan 1990, S. 300-301) Odysseus am symbolischen Platz des Anderen liest also mit Hilfe der Sprache aus dem Realen des Gegrunzes den imaginären Affekt „heraus“ und erkennt die Freunde damit als andere an, die etwas (symbolisch) zu sagen haben. Hier erkennt man sehr schön, wie der Affekt von Lacan als RSI-Verknüpfung herausgearbeitet wird.

Der Umstand, dass Affekte bei Lacan keine primären Wirkfaktoren sind, sondern Teil struktureller Konstellationen, bedeutet also überhaupt nicht, dass sie keine Bedeutung hätten, ganz im Gegenteil. An ihren Modifikationen lässt sich sogar der Verlauf der Kur ablesen. Dies kann auch mit Melanie Klein in Verbindung gebracht werden, die eine Entwicklung von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position beschreibt, wobei auch bei ihr die Veränderung der Struktur/der Position jeder Modifikation von Affekt (und Trieb!) zu Grunde liegt. Schon bei Freud ist der Affekt nicht verdrängt, im Unterschied zur Vorstellungsrepräsentanz. (Freud 1915) Seine Veränderung in den entscheidenden Prozessen der Kur (Traumarbeit, Trauerarbeit…) ergibt sich aus der Dynamik zwischen Vorstellungsrepräsentanz und Trieb.

Bei Lacan ist der Affekt der Angst zentral und soll deshalb als erstes herausgearbeitet werden. Auch hier gibt es klinisch eine Berührung zu Klein und Bion.

Im Angst-Seminar (Seminar X) 1962 finden wir bei Lacan eine differenzierte Theorie des Affektes, wobei der Affekt der der Angst seine Stellung daraus bezieht, dass er nicht täuscht oder lügt, da er das Begehren des Subjekts direkt mit dem Realen konfrontiert. Er tritt dann auf, wenn das Subjekt angesichts der Bedrohung durch ein ungestaltetes Reales (das Ding) dazu gedrängt ist, sich als begehrendes und einzelnes Subjekt zu entwerfen, das sich in seinem Akt eben nur auf dieses Begehren selbst stützen kann, was es so singulär werden lässt. Angesichts der Angst, der großen Verunsicherung des Subjektes, versagen die Täuschungen dessen, was Lacan semblant, den Schein, nennt: die Verstellungen des immer wieder metonymisch verschiebbaren Signifikanten und die illusionären Verkennungen unserer Vorstellungen von uns und vom Anderen. Man kann von der Situation aus gehen, in der das Subjekt mit dem rätselhaften und bedrohlichen Anderen konfrontiert ist, dessen „Che vuoi?“, wie Lacan es nennt, der Frage: „Was willst Du von mir?“ (Lacan 2010, S. 12 ff.) Diese Frage betrifft drei Ebenen:

Welchen Platz nehme ich im Begehren des Anderen ein?

Welchen Anspruch richtet der Andere an mich? und:

Wie kann ich mich gegenüber dem Genießen des Anderen (genitivus subjectivus und objectivus) positionieren?

Das sind drei Ebenen der absoluten Gefahr: Eine betrifft die symbolische Ebene (das rätselhafte Begehren des Anderen), die anderen die imaginäre (Welchem Bild des Anderen soll ich entsprechen?) und die reale Dimension (Wie kann ich nicht vom Genießen des Anderen verschlungen werden?) Wir kennen alle drei Ebenen aus der klinischen Praxis, wobei Neurose, Perversion und Psychose auf diesen drei Etagen angesiedelt werden können.

Wie versucht sich nun das Subjekt aus dieser Situation der es erschütternden Wahrheit seiner Konfrontation mit dem Anderen zu retten, seiner namenlosen und katastrophalen Angst (Bion), die es in seiner Struktur völlig durcheinanderbringt?

Auch hier gibt es den Weg über alle drei Register: es kann sowohl Halt im Signifikanten (einer Benennung), einem imaginären Bild oder in der Ausarbeitung des globalen Realen, das Lacan „la chose“ nennt, finden. Diese Ausarbeitung bezeichnet Lacan als Objekt a, ein umrissenes und zugleich nicht fassbares Partialobjekt, das zur Ursache seines Begehrens wird. Dieses objet a nimmt der verschlingenden Chose ihren globalen Charakter und führt das grenzenlose Genießen (das im Jenseits des Lustprinzips liegt und Quelle unfassbarer Angst ist) zum begrenzten, ausgerichteten (phallisch orientierten) Begehren. Es ist so Kompass des Begehrens. Da dieses Objekt in sich immer rätselhaft, nicht symbolisierbar und schon immer verloren ist (es ist das, was wir schon immer suchen, ohne es zu finden, unsere Blaue Blume) muss es imaginär „ummäntelt“ werden, vorstellbar gemacht werden (Meyer zum Wischen 2010)

Dieses Zusammenspiel zwischen realem Objekt, imaginärer Vorstellung und symbolisch orientiertem Begehren, eine Art von Konstruktion eines Schutzschirms gegen den Anderen und das Reale, nennt Lacan das Phantasma.

Hier kommen wir nun zum Affekt.

Er ist bei Lacan einerseits Struktureffekt, wie andererseits auch das durch dieses determinierte Erleben selbst, das damit immer (mit dem späten Lacan gesagt), eine RSI-Verknüpfung ist.

So kann man z.B. die gängigen Affekte von Schuld, Scham und Trauer primär als die Effekte von Strukturen verstehen, die die Beziehung des Subjekts zum Anderen aber auch zum Genießen regulieren. Also solche haben sie zugleich eine stabilisierende Funktion, können aber auch zu einer Neustrukturierung des Subjekts, einer katastrophischen Veränderung im Sinne Bions führen. (Becker 1990) Es gibt zum Beispiel PatientInnen, die sich im Leben stabil damit einrichten, dass sie an allem schuld sind, diese Schuld wieder gut machen müssen und die diese Zirkel immens genießen. Diese Schuld wäre dann ein vor allem imaginärer Schutzschirm gegen ein Zuviel an Genießen und könnte sogar im Rahmen einer Psychose vor weiter gehender Fragmentierung bewahren. Klinisch wäre es hier nicht klug, den Schuldaffekt zu dekonstruieren, weil er das Subjekt vor Dekompensation schützt. Wir merken: Wir analysieren den Affekt nicht unmittelbar und direkt, sondern immer vor dem Hintergrund der strukturellen Situation, aus dem er sich ergibt.

Es kann aber anders als in der Psychose im Rahmen der Neurose auch so sein, dass die Entdeckung einer ödipalen Schuld zu einer enormen Erschütterung führen kann, die den Weg zur Separation vom Anderen erst möglich macht. So führt die Konfrontation mit inzestuösen Wünschen und der mit ihnen verbundenen Schuld zur Umorientierung des Begehrens, zur Anerkennung von symbolischer Kastration und Getrenntheit (was der depressiven Position Kleins entspricht).

Wir können festhalten: der Affekt spielt für die Lacan'sche Theorie eine große Rolle, ist aber Effekt einer strukturellen und phantasmatischen Positionierung gegenüber dem Anderen (und dessen Genießen!), deren Ausganspunkt die Angst ist. Deshalb, sagt Lacan, lügt diese nie, kennt keine Ausflucht und kein Alibi.

Alle anderen Affekte sind Versuch die Angst zu bewältigen. Es sind Täuschungsmanöver unterschiedlicher Art. Den Primat der Angst teilt Lacan hier mit Melanie Klein (und Bion).

So resultiert die Trauer aus der melancholischen Angst, durch den Verlust des objet a wieder einer zerstörerischen globalen Chose, einem grenzenlosen Genießen ausgesetzt zu sein. Der Schatten des Objekts fällt dann auf das Ich (Freud) Der Schachzug der Trauer ist, wie es schon Freud beschrieb, das verlorene Objekt zu ersetzen. Aber diese Ersetzung ist insofern eine Täuschung, als nicht alles am verlorenen Objekt ersetzt werden kann. Freilich ist das eine notwenige Täuschung, um nicht in die Melancholie oder die Manie (die grenzenlose Ersetzung) zu verfallen.

Wir merken: der Affekt täuscht, aber sehr spezifisch: nämlich in der Verkennung des Objektes als Ursache des Begehrens. Allgemein dahingesagt wird der Satz Lacans zur Plattitüde. Die Angst sagt Lacan, sei nicht ohne Objekt: hier fehlt das Objekt als ein mangelndes, was so zur Ursache des Begehrens werden kann, das damit die Angst im Schach hält. Das ist der Sinn des Satzes Lacans: dass das Begehren Abwehr der Angst ist, indem es versucht, das Objekt phallisch zu bestimmen. Das Objekt ist Ursache des Begehrens, kann aber positiv nicht bestimmt werden. Das objet a dient dabei als Ambizeptor: es wird dem Anderen als der Teil angeboten, welcher sein Genießen „bindet“ und zugleich konzentriert es das Genießen des Subjekts zum Begehren. Da wir uns immer das nicht fassbare Objekt vorstellen, imaginisieren müssen, schreibt es Lacan als i(a). Darin liegt die Täuschung, die Lüge. Das ist eine andere Formulierung für den Schein, den semblant.

Nochmal zum Schuldgefühl: hier versuchen wir, dass die Schuld begründende „corpus delicti“ dingfest zu machen, was aber unmöglich ist. Jeder Analytiker weiss, dass man niemandem sein Schuldgefühl ausreden kann, da der vorgebliche Grund der Schuld (ein „angenommenes“ Verbrechen) eine Täuschung ist. Das ödipale Schuldgefühl camoufliert in dieser Logik die reale Unmöglichkeit des Inzests, indem es die ödipale Schuld als eine mögliche und damit verhinderbare und zugleich realisierbare konstruiert. Das Schuldgefühl kann in verschiedenen Phasen der Analyse eine unterschiedliche Funktion haben, die jeweils eine Erschütterung und katatrophische Veränderung einleitet. Eine erste Etappe zeigt die Tragödie von Ödipus Rex, eine weitere die von Ödipus auf Kolonoss. Über die grässliche Entdeckung seiner Schuld kann sich Ödipus in einem ersten Schritt vom inzestuösen Anderen separieren. In einem zweiten Schritt aber ist er mit dem unendlichen Schmerz der Geburt konfrontiert, der Erkenntnis, dass es das vollendete (inzestuöse) Genießen gar nicht gibt.

Bis hierhin ist deutlich: der Affekt ist bei Lacan eine symbolisch-imaginäre Konstruktion, die von bestimmten strukturellen Annahmen ausgeht, um in je nach Affekt verschiedenerweise einer Überwältigung aus dem Realen eine Grenze zu setzen. Er bildet so, eng mit dem Phantasma verbunden, einen Schutzschirm gegen eine namenlose Angst, die das Subjekt mit der Gefahr seiner Auflösung konfrontiert. Der Affekt ist bei Lacan, wie bei Freud, nicht verdrängt, sondern verschoben. So können in der Analyse in schneller Abfolge zuerst Wut, dann Scham und schließlich Schuld auftauchen. Affekte als ontologische Entitäten aufzufassen ist also klinisch fatal, da dies ihre jeweilige Funktion gegenüber der Angst verkennt. Es geht also um imaginäre und symbolisch bestimmte Konstellationen mit je eigener phantasmatischer Logik, die bedrohliche innere Zustände zu fassen, zu konzentrieren und zu verarbeiten versuchen. Diese Zustände haben dabei einen wichtigen Bezug zum Anderen und die Gefühle modulieren eben diesen Bezug und teilen ihn intersubjektiv mit. Die Gefühle haben dabei jeweils eine spezifische Tönung, die wir eher als lustvoll oder unlustvoll erleben.

Wo ist nun aber der Bezug zur Emotion?

Lacan hat im Angstseminar eine Art Matrix (Lacan 2010, S. 24, 102)entworfen, in deren linker Spalte als vertikale Achse drei Modi der Bewegung aufgezeichnet sind: Inhibition (Hemmung), Émotion (Erregung) und Émoi (Verwirrung). In der Hemmung ist jede Bewegung angehalten, Lacan nennt sie „museal“. Die Erregung/Aufregung ist das traumatisch-reale Moment, was das Subjekt in Bewegung bringt, es aufstachelt. Émoi dagegen ist Störung, ein Kraftabfall durch unorganisierte Bewegung, die weder gehemmt noch organisiert werden konnte. Die vertikale Achse der Matrix bezeichnet Lacan als Difficulté, als Schwierigkeit. Sie fängt auch mit der Hemmung an und setzt sich in Empêchement (Hinderung) und Embarras (Bedrängnis) fort. Hinderung ist allerdings doch etwas beweglicher als Hemmung und damit eine stärkere Ausarbeitung überwältigender Emotion. Ihr entspricht in der Mitte des Schemas das Symptom: Das Symptom hindert: in der Phobie, durch Zwangsgedanken oder eine Konversion. Aber es ermöglicht mehr Bewegung als die Hemmung. Und es lässt sich symbolisch im Acting out, dem Agieren, symbolisch inszenieren. Der Schritt vom Symptom zum Agieren führt aber die im Symptom gebundene Emotion zur Émoi, der emotionalen Auflösung, die im Anderen den sucht, der sie zu entziffern weiss. Die größte Schwierigkeit des Subjekts, seine äußerste Bedrängnis, beginnt dort, wo es nicht nur durch das Symptom gehindert ist oder die Verwirrung des passage à l’acte, welche beide immerhin in der Adresse zum Anderen gedeutet werden können. Völlig in der Klemme, der Angst ohne symptomatische Vermittlung ausgeliefert, kann das Subjekt zum passage à l’acte kommen, in letzter Konsequenz dem Suizid, in dem es aus dem Rahmen des Fensters seiner phantasmatischen und symptomischen Bezugspunkte springt, die es hindern könnten.

Dieses Schema Lacans könnte man auch in Anlehnung an Bion sein „emotionales“ Grid nennen, welches die realen, imaginären und symbolischen Wege möglicher Verarbeitung von Bewegungen/Reizen/Erregungen des Subjekts beschreibt.

Wo aber bleibt der Affekt? Wenn wir ihn als symbolisch-imaginäres Deutungsmuster der Gefahr begreifen (und damit als Ausarbeitung und Fassung der Angst), das sowohl hindert wie ermöglicht, würde ich ihn mit dem Symptom verbinden und vorschlagen, dass wir Affekte wie Symptome begreifen und deuten. Der Affekt ein hysterisches Symptom? Das wäre immerhin die neurotische Option.

Lacan gibt dazu selbst einen Hinweis, er führt nach der Darstellung des Schemas den Affekt ein und verdeutlicht ihn am Zorn.

„Der Zorn, das habe ich Ihnen gesagt, ist das, was bei den Subjekten geschieht, wenn die kleinen Dübel nicht in die kleinen Löcher reingehen. Wenn man sich auf der Ebene des Anderen, des Signifikanten, das heißt immer, mehr oder weniger, des Glaubens [foi], des Vertrauens [bonne foi], nicht an die Spielregeln hält.“ (Lacan 2010, S. 25).

Der Affekt, so könnte man sagen tritt auf, wenn der semblant in die Krise gerät, der Glaube erschüttert wird und zugleich ist er Deutung der Krise.

Wenn Lutz Götzmann den Affekt als imaginäre Gedanken zweiter Ordnung begreift, hat das durchaus Anklang an Lacan, der im Seminar XVII ausführt, dass das Denken „ein Affekt ist“. Und weiter: „Ich erwähne diesen Affekt, wodurch das sprechende Wesen eines Diskurses sich als Objekt bestimmt erfährt.“ (Lacan 2023, S. 197).

Ich verstehe Lacan hier so, dass die Affekte Gedanken sind, die als Unterstellungen/Annahmen (Suppositionen) die reale Positionierung des Subjekts als Objekt gegenüber dem Anderen diskursiv „fassen“ und so die Angst in einer Krise des Semblants wieder moderieren. Imaginär sin diese Gedanken deshalb, weil sie „Vorstellungen“ sind, deren scheinhafter Charakter das Subjekt vor dem Eindringen des traumatisch Realen (der Chose) schützt, indem er das (phallisch) umrissene Objekt a herausarbeitet. Allein der Affekt der Angst lügt in seiner Nähe zum Realen nicht. Alle anderen Affekte schützen vor ihr, indem sie sie „interpretieren“. Der Lacan'sche Begriff des Scheins (semblant) scheint mir damit in die Nähe des Affekts zu rücken; mit Ausnahme der Angst, die nicht von Schein wäre und damit ihre zentrale Bedeutung erhält.

Klinisch kann zum Beispiel eine rasende Wut das Scheitern des Signifikanten angesichts eines drohenden Verlustes der Barrieren gegenüber einem vernichtenden Genießen „signalisieren“. Die Wut camoufliert also die Angst als zentralen Affekt, wie es Klein, Bion und Lacan immer wieder unterstrichen haben. In der Praxis würde dies bedeuten, dem Analysanten zu helfen, seine Wut als Interpretation seiner fundamentalen Angst zu lesen. Damit könnte eine Verfolgungskonstellation wieder anders aufgegriffen werden: als durch einen Verlust bewirkte Bedrohung durch das traumatische Reale (hier findet sich auch Freuds „Hilflosigkeit“) Diese Veränderung würde dann ermöglichen, das neue „Gedanken“ auftauchen könnten, um die Katastrophe des Subjekts in einer anderen Weise imaginär (und symbolisch!) zu fassen. Daher die Suche Lacans nach einem neuen Signifikanten, einer Erfindung in jeder Kur. Diese ginge dann immer mit einer Affektmodulation einher.

Wie und ob ein solcher psychoanalytischer Zugang zum Affekt, der sich auf Freud, Klein, Bion und Lacan stützen könnte, Analogien zur neurophysiologisch geprägten Affektforschung und den Neurowissenschaften haben könnte, ist sicher ein spannendes Thema. Ich folge allerdings Bazan, die als Neurowissenschaftlerin und Psychoanalytikerin davor warnt, die Psychoanalyse neurologisch oder psychologisch begründen und rechtfertigen zu wollen. Die klinischen Fakten der Psychoanalyse haben ihre eigene Dynamik und Ableitung, auch wenn es interessante Analogien geben mag.

Bemerkenswert ist der frühe Rückgriff Lacans auf Spinoza, dessen Monismus von einer Substanz ausgeht, die sich in zwei Attributen von Materia und Mens äußert. Diese sind zwar isomorph, aber nicht direkt übersetzbar. Hier kann man Lacans spätere Idee eines fundamentalen non-rapports erkennen, der immer wieder überbrückt werden muss. Diesen Aspekt hat Balzarini in dem Satz verdichtet: „There is no intracerebral relationship.“ (Balzarini 2024). Spinoza wurde von Lacan bereits als Schüler gründlich gelesen. Unter Affekt versteht er „die Erregung des Körpers durch welche das Tätigkeitsvermögen des Körpers vergrößert oder verringert, gefördert oder gehemmt wird; Zugleich auch die Ideen dieser Erregungen“ (Spinoza 2023, S. 223). Lutz Götzmanns Definition der Affekte als imaginäre Gedanken scheint mir diese Position Spinozas zu reflektieren, da der Affekt in dieser Ausrichtung als Gedanke/Idee (symbolisch-imaginär) einer realen Erregung (jouissance) begriffen werden kann. Spionza ging davon aus, dass der Affekt mit der Begierde (connatus) (Spinoza 2023, S. 327) in Beziehung steht und Lust, wie Unlust reguliert. Ferner verstand er die Affekte des einen von den des anderen streng differenziert und damit stets singulär. (Spinoza 2023, S. 332; Lacan 2002, S. 19) All dies ist der Psychoanalyse sehr nahe.

Bazans Vorschlag, die Psychoanalyse nicht neurowissenschaftlich zu begründen, sondern den widersprüchlichen und eher fragmentarischen Forschungsergebnissen der Neurowissenschaft psychoanalytische Theorien anzubieten, um deren empirischen Befunde deuten zu können, scheint mir hier sehr originell und überzeugend. Diese Idee hat vielleicht auch Anklang an Freuds Hexe „Metapsychologie“ (Freud 1937, S. 69), die die Vielfalt empirischer Befunde erst zu erfassen („containen“?) vermag. Letztlich ist der Gegenstand der Psychoanalyse der „Austausch von Wörtern“ (Freud 1926b, S. 213), also die Sprache(n) und das Sprechen, bzw. die von ihm getragenen imaginären Vorstellungen und das traumatische Reale, welches es umkreist und umreißt. Dieser Austausch von Wörtern hat gegenüber den mit ihnen verbundenen neurophysiologischen Prozessen einen eigenen Status, wie bei Spinoza jedes der Attribute der einen Substanz, materia und mens. Wenn man Lutz Götzmanns Theorie der Affekte als imaginäre Gedanken, die eine prädiktive Kodierung ermöglichen, unter dem Gesichtspunkt der Isomorphie Spinozas und der Freud’schen Metapsychologie liest, kann man sie als ein strukturales Konzept verstehen, das sowohl klinische psychoanalytische Erfahrungen zu begreifen versucht wie auch neuropsychologische Befunde einzuordnen hilft. Dabei rechtfertigt oder belegt sie weder die Psychoanalyse, noch ist sie in sich neuropsychologische Erklärung. Ihre Produktivität erweist sich darin, verschiedene Aspekte der Theorie zu verknüpfen, wobei sie auf die RSI-Trias Lacans zurückgreift, bzw. die durch das Futur II begründete Zeitlichkeit des Unbewussten: der Affekt ist die Unterstellung dessen, was gekommen sein wird und verknüpft so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer eigenen Zeitlichkeit. Theorien dieser Art sind weder naturwissenschaftlich erklärend noch geisteswissenschaftlich verstehend (hermeneutisch). Sie setzen paradigmatisch strukturale Modelle, die beide Zugangsweisen „überragen“.

Ein weiterer interessanter Aspekt des Ansatzes von Lutz Götzmann ist, dass sie die Veränderung der Freud’schen Metapsychologie bezüglich der Affekte nachvollzieht. Ist der Affekt 1915 noch verschiebbarer quantitativer Erregungsfaktor der Triebrepräsentanz (die verdrängt wird) erscheint er nach „Hemmung, Symptom und Angst“ als Signal hinsichtlich einer bedrohlichen, von potenzieller Hilflosigkeit begleiteten Erregung, wofür Freud paradigmatisch auf den Geburtsvorgang zurückgreift. (Freud 1926a) Der Freud’sche Begriff des Signals führt eine semantische Dimension in die Affekttheorie ein, so etwas wie den imaginären Gedanken als Schutz gegen eben diese mit dem Durchbruch des Reizschutzes verbundene Hilflosigkeit. Vielleicht die Idee des Gefühls als Gedanke der Konzeption von Bazan gar nicht so fern, die mir schrieb:

„Und schließlich kann man versuchen, es gedanklich zu fassen, was man dann oft Gefühle nennen wird. Grob gesagt sind das zum jetzigen Stand meines Denkens Triebabkömmlinge (die Affekte/Gedanken), die eine Geschichte haben, sich bereits an Verhaltensweisen oder Funktionen geknüpft haben, aber auch von Neuem dynamisch werden und die man mental verstoffwechselt, indem man ihnen Namen von Gefühlen gibt.“ (Bazan 2024).

Beide Aspekte, Jouissance (Erregung) und Semblant (Schein) treffen offensichtlich im Affekt aufeinander. Eine weitere Frage wäre, ob der Affekt als singulärer (Spinoza!) nicht eine Berührung zum Symptom hat, was auch das Lacan'sche Raster aus dem Seminar X nahelegt. Als singuläres (hysterisches?) Symptom müsste der Affekt aber immer gedeutet werden. Die Generalisierung und „Standardisierung“ von Affektmustern in der Neuropsychologie unterscheidet sich hier besonders deutlich von einem psychoanalytischen Zugang. Lutz Götzmanns Akzent auf dem vorher-sagenden Aspekt der Affekte ist dabei besonders interessant, da er die von den Affekten vermittelte Bedeutungs- und sekundär Sinngebung als eine aus dem (unbewussten) Geworden-Seins des Subjekts stammende Wette auf die Zukunft verstehen lässt. Also als Supposition oder Simulation angesichts einer Bedrohung aus dem Realen. Wie er sagt: als Gedanken über Gedanken. In dieser Formulierung ist der Schutz- und Abwehrcharakter des Affekts aber auch besonders gut zu hören.

Letztlich ist also, mit Lacan gedacht, die Psychoanalyse eine klinisch begründete Theorie sprechend-hörender Körper und als solche materialistisch. Auch Lacans Theorie des Gehirns als Aufzeichnungsapparat von Erregungen, die er in seiner These zur paranoischen Psychose vortrug, ist eine solche sprachmaterialistische metapsychologische Idee, welche zwischen der Klinik der Psychose (mit der mangelnden Symbolisierung der Erregung) und zerebralen Prozessen eine Isomorphie unterstellt. Dall'Aglios jüngster Vorschlag eines RSI Mapping des Gehirns scheint mir in eine ähnliche Richtung zu gehen (Dall’Aglio 2024): er findet Momente, die zum klinische RSI-Theorem Lacans gehören, isomorph in hirnphysiologischen Topologien wieder. Aber weder belegt Lacans RSI die Hirnforschung, noch kann diese psychoanalytischen Konzepte beglaubigen.

Eine interessante Frage ist, folgt man Götzmanns Ansatz, ob der Affekt nur dem homöostatischen Lust/Unlust Prinzip folgt, wie es der frühe Freud beschrieb. Oder hat auch die Suche nach Ektase bis zur Auflösung des Subjekts, wie es das Jenseits des Lustprinzips beschreibt, einen Platz in dieser Theorie? (Freud 1920)

Geht es nur um das Gleichgewicht und die Balance, die reguliert werden sollen oder auch um eine Ausarbeitung der Jouissance/der als einer sich bis in den äußersten Schmerz steigernden Erregung?

Auch auf diesen Punkt hat Bazan hingewiesen.

Eine weitere Spur liegt in der Erforschung der Frage, wie genau der Affekt Bedeutung verleiht und damit Grundlage von Sinnkonstruktionen ist. Denn jeder Affekt ist eine Art Unterstreichung, Punktierung oder Skandierung und damit eine Grenze (Keul 2003), die als Kondensation eines realen Moments gehört werden will, Bedeutung gibt, und zugleich eine Sinnstütze bietet: mir geht es zum Beispiel so elend, weil ich mein Ich-Ideal verfehle und mich deshalb schämen muss.

Götzmanns Entwurf zum Affekt bringt auf jeden Fall Schwung in eine bislang etwas verkrustete und festgefahrene Debatte.

 


Literaturverzeichnis

Balzarini, Marco Máximo (2024): The unconscious in neuroscience and psychoanalysis. London/New York City: Routledge, S. 102-107.

Bazan, Ariane (2024): Unveröffentlichter Briefwechsel mit Michael Meyer zum Wischen. 04. bis 06. Mai 2024. Übers. v. Michael Meyer zum Wischen.

Becker, Stephan (1990): Objektbeziehungspsychologie und katatrophische Veränderung. Tübingen: Edition discord, S.92-128

Dall’Aglio, John (2024): A lacanian neuropsychoanalysis. Chan: Palgrave, S. 123 ff.

Freud, Sigmund (1915): Die Verdrängung. In: GW X, S. 255 ff.

Freud, Sigmund (1920): Jenseits des Lustprinzips. In: GW XIII.

Freud, Sigmund (1926 a): Hemmung, Symptom und Angst. In: GW XIV, S. 113-205.

Freud, Sigmund (1926 b): Die Frage der Laienanalyse. In: GW XIV, S. 213.

Freud, Sigmund (1937): Die endliche und die unendliche Analyse. In: GW XVI, S. 69.

Keul, Christoph (2003): Es geht um die Grenze, auf der sich der Platz des Mangels einrichtet. In: RISS (2003/Heft 56). Wien: Turia + Kant, S. 39-68.

Lacan, Jacques (1990): Das Seminar. Buch I. Freuds technische Schriften (1954). Übers. von Werner Hamacher. Weinheim/Berlin: Quadriga.

Lacan, Jacques (2002): Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit (1932). Wien: Passagen Verlag.

Lacan, Jacques (2010): Das Seminar. Buch X. Die Angst (1962/1963). Übers. von Hans-Dieter Gondek. Wien: Turia + Kant, S. 12 ff.

Lacan, Jacques (2023): Das Seminar. Buch XVII. Die Kehrseite der Psychoanalyse. Übers. von Hans-Dieter Gondek. Wien: Turia + Kant, S. 197.

Meyer zum Wischen, Michael (2010): „Trauer, Schmerz und Angst“. In: Meins, Georg (2010): Transmission. Wien: Turia + Kant, S. 143-152.

Schoonejans, Sonia (2008): Le geste de Lacan. Brüssel: Collection QUE.

Soler, Colette (2011): Les affects lacaniens. Paris: PUF.

Spinoza, Baruch (2023): Die Ethik. Hamburg: Nikol.


Autor:in: Michael Meyer zum Wischen, Dr. med., ist seit 1998 in psychoanalytischen Praxen, derzeit in Hamburg tätig.

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