Eine Überlegung zum Künstler*innen-Begehren nach Jacques Lacan und Roland Barthes

Marie von Heyl

Y – Z Atop Denk 2021, 1(11), 3.

Abstract: Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine These zur Begehrensdynamik künstlerischer Produktion zu formulieren. Als Dreh- und Angelpunkt dient der Fund zweier auf den ersten Blick widersprüchlicher Aussagen im Werk von Jacques Lacan und Roland Barthes. Das künstlerische Schaffen, so die These der an diesen Fund anschließenden Überlegung, wird bewegt von einem Künstler*innen-Begehren, das sich am Kunstwerk als produktiv erweist. Damit soll nicht zuletzt Sigmund Freuds Aussage, das Kunstwerk diene der Künstlerin als Ersatzbefriedigung innerhalb einer Triebökonomie der Versagung, um eine dialektische Begehrensdynamik erweitert werden. In einem zweiten Schritt wird entlang einer Werkanalyse der künstlerischen Arbeit A Voyage of Growth and Discovery (2010) von Mike Kelley und Michael Smith, das Begehrensgeschehen auf der Darstellungsebene reflektiert.

Keywords: Künstler*innen-Begehren, Lacan’sche Psychoanalyse, Phänomenologie der Affekte, künstlerische Forschung

Veröffentlicht: 24.11.2021

Artikel als Download: pdfDas ist es! – Das ist es nicht!

 

Während es wissenschaftlicher Usus ist, die Methoden, die zu einem Ergebnis geführt haben, bei Veröffentlichung offen zu legen, scheinen die Künste davon weitgehend befreit zu sein. Die Fragen, denen sich Künstler*innen stellen müssen, zielen in den seltensten Fällen darauf ab, ihre Schaffens- und Erkenntnisprozesse nachzuvollziehen, meist bleiben sie auf der Rezeptionsebene, also beim Kunstwerk. Befragt werden Aussage oder materielle Beschaffenheit des Kunstwerks, nicht aber was das Schaffen antreibt, wie man zu seinen Ideen kommt, oder in welchem Verhältnis Ideenentwicklung und Material stehen. All das scheint schon ausreichend beantwortet zu sein mit dem wunderbar vagen Begriff der Intuition.

Dennoch arbeiten Künstler*innen natürlich methodisch, auch wenn ihre Vorgehensweisen sich von denen der Geistes- und Naturwissenschaften unterscheiden. Interessant wird es dort, wo diese disziplinäre Unterscheidung nicht mehr ohne Weiteres möglich ist, wo Methoden von einer Disziplin in die andere wandern. Als Geltung beanspruchendes Beispiel für einen solchen Transfer soll der vorliegende Versuch einer Thesenbildung zum Künstler*innen-Begehren dienen. Nicht zufällig stand am Beginn des disziplinären Zusammenschlusses eine ästhetische Beobachtung: der Fund zweier auf den ersten Blick widersprüchliche Aussagen, die aus ihren Kontexten hervotraten und nach einer Verknüpfung verlangten. Auf der einen Seite eine Aussage von Jacques Lacan, der über das Begehren als einer Dynamik spricht, welche die Ansprüche einerseits bewegt, deren Befriedigung jedoch immer als ungenügend erscheinen lässt, denn das ist es nicht. Auf der anderen Seite Roland Barthes, der in seinem Werk an verschiedener Stelle ein Moment persönlicher ästhetischer Affizierung, das sich in der Rezeption wie in der Produktion äußern kann, theoretisch zu fassen versucht. Dieses Moment markiert er mit dem Ausruf: Das ist es! Die Verbindung beider Aussagen fand zunächst allein auf der Ebene der Signifikanten statt. Erst in einem zweiten Schritt wurde daraus in einer theoretischen Auseinandersetzung eine These entwickelt. Am Anfang dieser Überlegungen steht also eine ästhetische Erfahrung – wenn man Ästhetik mit Hans Blumenberg auffasst als das Hervortreten eines Sachverhalts aus der Unauffälligkeit der Lebenswelt in den Bereich, in dem ein Urteil überhaupt erst möglich wird (Blumenberg 2018, S. 499). Das ist es! könnte dieses Urteil lauten, oder aber: Das ist es nicht! (oder: da ist etwas, dem ich nachgehen will). Diese Vorgehensweise, die in der künstlerischen Arbeit durchaus üblich ist, lässt sich auch für die Theorie fruchtbar machen und wird so zu einer Methode atopischen Denkens.

Bevor jedoch Jacques Lacan und Roland Barthes in einen Dialog gebracht werden, um eine These zum Künstler*innen-Begehren zu formulieren, soll zunächst eine Begriffsklärung erfolgen. Was ist gemeint, wenn hier vom Künstler*innen-Begehren die Rede ist, und wie unterscheidet es sich vom Begehren? Gemeint ist ein Begehren, das produktiv wird. Ein Begehren also, das etwas hervorbringt – zum Beispiel ein Kunstwerk. Dennoch – und diese These mag zunächst paradox erscheinen – zielt meines Erachtens das Begehren nicht darauf ab, dem Werk den Status des Begehrensobjekts zu verleihen. Vielmehr ist das Kunstwerk das Nebenprodukt einer produkiven Begehrensdynamik, die durch den Wechsel des Objekts an sich bestimmt wird und sich theoretisch beschreiben lässt als ein dialektisches Zusammenspiel von Barthes Das ist es! und Lacans Das ist es nicht!

 

1.1. Das ist es nicht! – Jacques Lacans Dialektisierung des Begehrens

„Es gibt allerdings Unaussprechliches.Dies zeigt sich, es ist das Mystische“
(Wittgenstein, 2016. S. 85).

In seinem 19. Seminar …Oder Schlimmer formuliert Jacques Lacan eine Anti-Wittgenstein’sche These: Es sei zwar korrekt, dass die Sprache nicht alles sagen könne, was uns jedoch nicht davon abhalte, ununterbrochen zu sprechen. Das Unaussprechliche, so Lacan, habe nicht alleine in der mystischen Erfahrung seinen Ort, sondern es zeige sich mitten in der Sprache (parole), nämlich dort, wo sie scheitert, sich verhakt, sich widerspricht (Lacan, 1972). Lacan bezieht sich hier auf eine der Grundannahmen der Psychoanalyse, die besagt, dass sich in der gesprochenen Sprache das Unbewusste bemerkbar macht. Die Sprache funktioniert und doch versagt sie unentwegt, es bleibt immer ein Rest, den sie nicht zu fassen bekommt. Dieser Rest interessiert Lacan vor allem in Bezug auf dessen klinischen Wert, d.h. für die psychoanalytische Sitzung, deren Ziel es ist, das Begehren der Analysantin „in den Vordergrund treten zu lassen“ (Fink 2016, S. 69). Wenn Lacan über das Begehren (désir) spricht, meint er immer das unbewusste Begehren, also eines das nicht als Anspruch (demande) formuliert werden kann, das sich aber dennoch im Sprechen zeigt. Es schließt sich sofort die Frage an, wo das Begehren sich zeigt, wenn es nicht gekannt und folglich nicht gesagt werden kann? Lacan zufolge tritt es nur indirekt in Erscheinung, und zwar in dem einzigen, was gesagt werden kann: es zeigt sich in den Angeboten und Ansprüchen, die die Analysantin in der Sitzung formuliert. Glaubt man jedoch Lacan, so bittet die Analysantin unbewusst die Analytikerin, diese Angebote und Ansprüche zurückzuweisen: „Ist denn nicht klar, dass sich der Diskurs des Analysanten darauf gründet: ‚Ich bitte dich, mir zu verweigern, was ich dir anbiete, denn das ist es nicht‘ – ?“ (Lacan, 1972, Hervorhebung M.v.H.].

Der Anspruch beinhaltet immer eine Fixierung, die sich in der Analyse als Anspruch auf Deutung, Anerkennung oder Zustimmung äußern kann. Das Ziel der Analyse ist es, Anspruch und Begehren gewissermaßen zu tauschen, so dass sich das Begehren in den Ansprüchen abzeichnet. Diesen Tausch von Anspruch und Begehren bezeichnet Lacan als „Dialektisierung“ (Fink 2016, S. 48), das Begehren wird in Bewegung versetzt, um die Fixierungen der Analysantin zu lösen. Dazu muss nun die Analytikerin deren Ansprüche verweigern, wobei das, wie Lacan ja andeutet, durchaus der unbewusste Wunsch der Analysantin sein kann. Diese Verweigerung kann vielfältige Formen annehmen und mit einer Frustration auf Seiten der Analysantin einhergehen, zum Beispiel wenn die Analytikerin sich weigert, den Konventionen einer Konversation zu folgen, indem sie nicht antwortet oder wenn sie den Sinn der Worte anders auffasst, als von der Analysantin intendiert. Auf diese Weise wird die Frustration selbst zu einem Werkzeug der Psychoanalyse, denn gerade die Frustration der Analysantin darüber, dass ihre Ansprüche weder befriedigt, noch gehört oder gezielt anders verstanden werden – also von sich selbst oder der Analytikerin abgelehnt werden mit der Begründung Das ist es nicht! – spiegeln ihr die Struktur ihres eigenen Begehrens und lassen es darüber in Erscheinung treten. Das Begehren selbst hat kein Objekt, jedenfalls keines das gekannt werden kann, das unterscheidet es vom Anspruch. Bewegt wird das Begehren von einem Verlust, also einem verlorenen Objekt, das als Ursache wirkt. Lacan entwickelt bekanntlich den Begriff Objekt a, um dieses verlorene Objekt, metapsychologisch zu fassen. Diese Objekt-Ursache des Begehrens taucht nun – wenn die Analyse gut verläuft – aus dem Gewirr aus Ansprüchen, Angeboten und Zurückweisungen, das Lacan als „Knoten von Sinn“ bezeichnet, auf (Lacan, 1972). Was sich zeigt, zeigt sich gerade darin, dass es nicht gesagt werden kann.

Doch wie wird ein Begehren, das durch den Mangel bewegt wird, und sich einzig in der Zurückweisung – Das ist es nicht! – äußert, produktiv? Wie lässt sich ein Künstler*innen-Begehren beschreiben? Muss ein solches Begehren, um Neues in Form eines Kunstwerks hervorzubringen, nicht auch eine affirmative Komponente beinhalten? Muss das Subjekt nicht ab und an Das ist es! rufen, um schaffend tätig zu werden? Hier erscheint es fruchtbar, Jacques Lacan mit Roland Barthes in einen Dialog zu bringen.

 

1.2. Das ist es! – Roland Barthes Phänomenologie der Affekte

Der Ausruf Das ist es! als affektive Äußerung taucht in Roland Barthes Werk an verschiedener Stelle auf (Barthes 2008, 2012, 2017, 2018) und er konstruiert mehrere theoretische Figuren, um dieses Moment zu fassen. Mit dem punctum und dem satori werden im Folgenden zwei Figuren vorgestellt, die sich begrifflich in Rezeptions- und Produktionsebene unterscheiden lassen, auch wenn diese beiden Ebenen nie gänzlich getrennt voneinander betrachtet werden können, sondern in einem dialektischen Verhältnis stehen.

 

1.2.1. Das punctum (Rezeption)

Barthes entwirft das punctum in seinem letzten Buch Die helle Kammer. Dort beschäftigt er sich eingehend mit dem Betrachten von Fotografien, und zwar mit Fotografien, die ihn berühren, ja sogar bestechen. Es ist jedoch nie das ganze Bild, das Barthes auf eine derart intensive Weise in Beschlag nimmt, dass er ausruft: Das ist es!, sondern immer ein ganz bestimmtes Detail: ein weißer Kragen, die verschränkten Arme eines Matrosen, die schlechten Zähne eines Straßenjungen. Diese Berührt-Werden, Bestochen- ja, Gestochen-Werden werden muss in einem zweifachen Sinn verstanden werden, als Betroffenheit im Sinne einer emotionalen Erschütterung, aber auch als Getroffensein, im Sinne einer Verletzung: „das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren“ (Barthes 2017, S. 35).

Warum trifft das punctum? Was sticht Barthes beim Betrachten bestimmter Fotografien? Es scheint mit dem Zeugencharakter der Fotografie zusammenzuhängen, mit dem Fakt, dass das fotografische Abbild immer eine Realität bezeugt, einen Umstand, der sich genau so und nicht anders zugetragen hat. Diese Realität nennt Barthes das Es-ist-so-gewesen.

Dieses Es-ist-so-gewesen liegt allerdings immer in der Vergangenheit und somit zeigt die Fotografie nicht nur an, dass etwas so gewesen ist, sondern auch immer, dass etwas nicht mehr ist. Das punctum besticht unter anderem durch diese Koppelung an die Vergänglichkeit. Barthes macht diese dem punctum inhärente Verbindung zum Tod deutlich anhand einer Fotografie von Alexander Gardner aus dem Jahr 1865, die den jungen Lewis Paynes in seiner Todeszelle zeigt (wo er einsaß, nachdem er versucht hatte, den amerikanischen Außenminister zu ermorden). Barthes ist erschüttert von dem Fakt, dass Paynes Tod zum Zeitpunkt der Aufnahme noch vor ihm, zum Zeitpunkt des Betrachtens jedoch bereits in der Vergangenheit liegt. Er erschauert angesichts „einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hat“, ist getroffen von dem punctum dieses Bildes: „er wird sterben“ (ebd. S. 106). Dieselbe Unruhe erfasst Barthes beim eingehenden Betrachten eines Bildes seiner verstorbenen Mutter. Beim Sichten der Fotografien, die ihm von ihr bleiben, sucht er nach mehr als nur ihrem Abbild, er sucht nach einer Fotografie, die ihm etwas über die geliebte Person erzählt, das er noch nicht weiß. Er sucht nach ihrem Wesen, ihrer Wahrheit, er will wissen (ebd. S. 110). Die Aufnahme, in der er diese Wahrheit schließlich aufgespürt zu haben glaubt, ist eine, die seine Mutter als junges Mädchen in einem Wintergarten zeigt. Als er besagte Fotografie betrachtet, weiß er, doch sein Wissen hat die Form eines Erkennens, genauer gesagt, eines Wiedererkennens: „Das ist sie! Das ist sie ja! Das ist sie endlich!“ (ebd. S. 110). Barthes war zu dem Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht geboren, woran deutlich wird, dass sein Wissen kein erinnerndes ist. Er erkennt ein verlorenes Objekt wieder (die Mutter) doch bezeichnenderweise als eines, das er nicht gekannt und somit niemals besessen hat. Die Mutter, bzw. das Detail an der Abbildung der Mutter, das punctum, das ihn auf eine Weise trifft, die ihn ausrufen lässt Das ist es! kann er nicht genau bestimmen. Das punctum, so lässt sich an diesem Beispiel sehr schön zeigen, ist sein Objekt a, nicht das Objekt, sondern die Objekt-Ursache seines Begehrens. Das wird noch deutlicher, als er ausführt, dass er dem, was ihn an diesem Bild besticht, nicht auf den Grund gehen kann. Die Wahrheit, die sich ihm im Bild offenbart, lässt sich auf keinen Begriff bringen, und zwar im Doppelsinn des Wortes: je eindringlicher er betrachtet, desto weniger kann er mit Worten fixieren. Je näher Barthes dem verlorenen Objekt der Mutter zu kommen versucht, desto weniger kann er es fassen. Was er stattdessen findet, ist das Es-ist-so-gewesen, das in seinen Augen den Sinngehalt jeder Fotografie ausmacht. Statt Wahrheit findet Barthes Wirklichkeit. Doch die Wirklichkeit ist nicht was er sucht, seine „innerer Erregung” kehrt sich in Frustration: Beim Versuch, das anrührende Moment zu fixieren dreht es sich und zeigt seine Kehrseite. Das Es-ist-so-gewesen sagt in diesem Moment: Das ist es nicht! oder zumindest ist das nicht alles. Das ist die Mutter – „das ist sie ja!“– aber das ist nicht allein, was sie ausmacht. Diese Verschränkung von Wirklichkeit und Wahrheit, ist für Barthes die Bestimmung der Fotografie:

„[I]ndem sie mich glauben läßt […], daß ich ‚die wahre, totale Photographie‘ gefunden habe, vollführt sie die unerhörte Verschränkung von Wirklichkeit (‚Es-ist-so-gewesen‘) und Wahrheit (‚Das-ist-es!‘); sie wird Feststellung und Ausruf in einem; sie führt das Abbild bis an jenen verrückten Punkt, wo der Affekt (Liebe, Leidenschaft, Trauer, Sehnsucht und Verlangen) das Sein verbürgt“ (ebd. S. 124).

Dieser Punkt, „wo der Affekt das Sein verbürgt“, ist von der Person des Betrachters nicht abzulösen, und dennoch zeigt sich für Barthes hier eine Struktur, die nicht auf eine persönliche Erinnerung reduziert werden kann. Die Relation von Es-ist-so-gewesen und Das-ist-es! ist, was ihn in seinem Versuch einer Phänomenologie der Affekte das Universale im Partikularen erahnen lässt. Über das Wesen der Mutter mag sich keine universale Aussage treffen lassen, doch die Verschränkung von Wirklichkeit und Wahrheit selbst lässt sich als universelle Struktur formulieren, die das Partikulare als Element enthält. Wenn in der Psychoanalyse das Partikulare im Symptom zu suchen ist, ist es in Roland Barthes Phänomenologie der Affekte die eigene Ergriffenheit. Hinter dem, was sich zeigt, gibt es immer etwas Unzugängliches, das sich entzieht. Dieses Unzugängliche markiert einen Spalt in der Verschränkung von Wirklichkeit und Wahrheit, der sich niemals ganz schließen lässt.

 

1.2.2. Das satori (Produktion)

Wie oben bereits erwähnt, taucht das Das ist es! in Roland Barthes Werk an verschiedener Stelle auf. Nicht immer jedoch beschreibt es einen Moment der rezeptiven Ergriffenheit. Der Ausruf kann auch eine Epiphanie markieren, die einen aus alten Mustern ausbrechen lässt und auf eine unbekannte Spur setzt. Dieses Moment bezeichnet Barthes als satori, eine Denkfigur aus dem Zen-Buddhismus, die eine Erleuchtung markiert, die nicht vom unterscheidenden Intellekt bestimmt ist, sondern sich allein aus der persönlichen Erfahrung ableitet. Roland Barthes zitiert den Autor Daisetsu Teitaro Suzuki, um das satori zu erklären: „Es kommt die Zeit, daß euer Geist plötzlich stillsteht wie eine alte Ratte, die in einer Sackgasse gefangen ist. Dann gibt es einen Sprung ins Unbekannte mit dem Schrei: ‚Ah, das ist es!‘“ (Barthes 2018, S. 288).

Dieser Moment der Erschütterung zeichnet sich dadurch aus, dass er mit der geläufigen Auffassung bricht. Das Das ist es! ist also keinesfalls gleichzusetzen mit so ist es, dem status quo, denn der Ausruf gibt Anstoß für etwas Neues. Das satori kann somit auch nicht bewusst herbeigeführt werden, es folgt keinem Verlaufsmuster, sondern ereignet sich zufällig. Der Begriff Zufall kann hier durchaus wörtlich genommen werden: es fällt einem etwas zu. Etwas dem kausalen Verlauf Jenseitiges fällt von außen ein: ein Einfall, ein Geistesblitz.

Obwohl das satori eine punktuelle Erfahrung beschreibt, die nicht herbeigeführt werden kann, bleibt zu betonen, dass es dennoch im Zen-Buddhismus durch jahrelange Praktiken – z.B. durch regelmäßige und ausgiebige Meditation – vorbereitet wird. Das ist kein Widerspruch, denn die Kontingenz des satori ist nicht als eine von jedem Zusammenhang befreite zu verstehen, im Gegenteil, es handelt sich hier um eine Intervention ins Gefüge etablierten Sinns. Kreatives Schaffen braucht Routinen und Gewohnheiten, und sei es, um mit ihnen zu brechen. Auch wenn dieser Zufall – als Einfall verstanden – ein Bruch ist, so ist er doch nicht zufällig im Sinne von arbiträr. Eine Idee muss sich in die Begehrens- und Schaffensgeschichte des Subjekts auf sinnfällige Weise einfügen. Entsprechend berichten Autor*innen und Künstler*innen, dass im Einfall Erkennen und Wiedererkennen zwei Seiten derselben Figur sind1. Erkennen ist zugleich Wiedererkennen, das Neue fühlt sich richtig an, weil es sich bekannt anfühlt. Man ist doppelt getroffen: vom Geistesblitz und von der Partikularität des Einfalls. Dieses Wissen ist nicht deduktiv, sondern intuitiv. Das ist es!

Wie vom punctum wird man vom satori getroffen, allerdings von einer Einsicht. An dieser Stelle wird die doppelte Struktur des Das ist es! sichtbar, die es für Barthes immer hat. Könnte in der Darstellung Barthes ausführlicher Auseinandersetzung mit der Fotografie der Eindruck entstanden sein, dass der Ausruf vor allem auf der Seite der Rezeption zu verorten ist, wird hier deutlich, dass das Wiedererkennen – des Objekts a – immer auch ein Erkennen ist, eine Einsicht, die aus festgefahrenen Spuren ausbricht und somit Raum für etwas Neues öffnet. Auf die psychoanalytische Sitzung übertragen ist dies auch der Grund, weshalb das Sprechen in der Analyse, obwohl es um etwas Unsagbares kreist, sich dennoch fortbewegt, Sinnzusammenhänge verändern und Leiden zu lindern vermag.

 

1.3. Der Wechsel des Objekts in sich – Die Bewegung des Begehrens

Bei der Frage, wie über das Begehren aus der Wiederholung Neues entstehen kann – das Begehren also produktiv wird – berühren sich Lacan und Barthes. In Die helle Kammer verweist Barthes auf Lacans Unterscheidung von Automaton und Tyche, die dieser einführt, um Wiederkehr und Wiederholung von einander abzusetzen (Barthes 2016, S. 12). Der Anspruch, so Lacan, ist durch die Figur des Automaton bestimmt, der Wiederkehr des ewig Gleichen. Dagegen verlange das Begehren nach immer Neuem, die Wiederholung wird hier zu einem „Spiel, dass sich das Neue zu eigen macht“ (Lacan 2015, S. 67). Dieses Spiel ist letztlich durch den Mangel und die Frustration strukturiert, die hier allerdings zum produktiven Zug wird: Da das Objekt des Begehrens stets verfehlt wird, fügt es sich keiner kausalen Befriedigungsrelation, sondern richtet sich stets neu aus. Letztlich ist es das Das ist es nicht!, das die Wiederholung des Begehrens von der Wiederkehr des Anspruchs und das begehrende Subjekt von einer reinen Bedürfnis-Befriedigungsmaschine unterscheidet. An anderer Stelle formuliert Lacan diese Neuausrichtung des Begehrens wir folgt:

„Das Begehren [ist] nichts anderes als die Metonymie des Diskurses des Anspruchs. Es ist der Wechsel als solcher. Ich bestehe darauf — dieses im eigentlichen Sinne metonymische Verhältnis eines Signifikanten zum anderen, das wir Begehren nennen, ist nicht das neue Objekt, auch nicht das Objekt von früher, es ist der Wechsel des Objekts in sich selbst“ (Lacan 2016, S. 350).

Mit dieser Aussage versucht Lacan, Freuds Ausführungen über die künstlerische Produktion als Sublimierung kritisch zu erweitern. Während Freud dem Künstler attestiert, dass er „das rätselhafte Vermögen“ besitze, seine Fantasien in Kunstwerken zu materialisieren, also ohne Verdrängung zu veräußern und somit eine Ersatzbefriedigung der beschnittenen Libido zu erschaffen (Freud 2001, S. 359), weist Lacan darauf hin, dass diese „Kommerzialisierung“ der Begierden nicht auf den Grund der Frage vorstößt, was diesen antreibt. (Lacan 2016, S. 349). Lacan lenkt den Fokus weg von der Sublimierung und fragt am Beispiel des Künstlers nach dem Begehren. Seine These ist, dass für das Begehren entscheidend nicht das neue Objekt ist oder das verlorene Objekt, sondern die Bewegung, der Wechsel des Objekts in sich. Während Freud Fantasie und Sublimierung in eine Ökonomie der seelischen Vorgänge sortiert, um sie nicht als „bloß dynamisch“ zu fassen (Freud 2001. S. 358), ist für Lacan gerade die Dynamik des Begehrens entscheidend. Das Kunstwerk, so könnte man mit Lacan sagen, mag eine Kommerzialisierung der Begierden ermöglichen, es ist aber gleichzeitig nur Nebenprodukt eines Künstler*innen-Begehrens, dass durch den Wechsel des Objekts bestimmt wird. Dennoch, so könnte man die Konsequenz aus Lacans Kommentar auf Freud ziehen, unterscheidet sich genau am Werk das Künstler*innen-Begehren vom Begehren, da es hier produktiv wird. Die Bewegung des Künstler*innen-Begehrens bringt Neues nicht nur als Intervention in das Gefüge bestehenden Sinns hervor, sondern nimmt als Objekt Form an. Das Kunstwerk selbst fiele damit jedoch in den Bereich des Anspruchs, nämlich den Anspruch der Künstlerin auf Deutung, Anerkennung, Zustimmung – all jenes also, was auf der Ebene der Rezeption der Produktion nachgelagert ist.

Liest man Barthes Das ist es! und Lacans Das ist es nicht! als zwei Seiten einer Gedankenfigur, so lässt sich eine dialektisch-produktive Begehrensdynamik formulieren. Diese Dynamik ist produktiv da bestehende Strukturen durch Neues erweitert werden. Dieses Neue ist dabei zwar kontingent jedoch nicht arbiträr, da das Erkennen des Neuen immer ein Wiedererkennen eines nie besessenen verlorenen Objekts ist, das sich weder fassen noch artikulieren lässt, sondern sich als Unaussprechliches bemerkbar macht. Das Kunstwerk, das hier nicht diskreditiert, sondern als ein Element einer tiefer liegenden Begehrensstruktur aufgefasst werden soll, legt eine Spur dieser Dynamik in der Welt. Das Kunstwerk ist ein rätselhaftes ästhetisches Angebot, das aus der Unauffälligkeit der Lebenswelt hervortritt und sich somit wiederum dem Urteil der Betrachterin stellt, und zwar in Form einer ästhetischen Aussage: „So ist es“ (Blumenberg 2018, S. 499). Das ist es! mag die Betrachter*in zustimmend rufen. Oder aber: Das ist es nicht!

 

2. Is This It?

Ein solch rätselhaftes Angebot ist der Kunstfilm A Voyage of Growth and Discovery (2010) von Michael Smith und Mike Kelley, der im Folgenden untersucht werden soll. Obwohl sich eine Begehrensdynamik künstlerischen Schaffens nicht schlicht auf der Darstellungsebene von Kunstwerken ablesen lässt, da diese ja selbst als Produkte aus ihr hervorgehen, so können dennoch psychische Mechanismen in diesen wirken oder hier verhandelt werden, die das Schaffen selbst bewegen. Es versteht sich von selbst, dass Rezeptions-, Produktions- und Darstellungsebene von künstlerischen Arbeiten, obschon analytisch getrennt, in der Praxis nicht fein säuberlich auseinander zu halten sind. Die Künstlerin, die etwas zur Darstellung bringt, ist nicht nur Produzentin, sondern immer auch die den Blick der Anderen antizipierende Betrachterin des eigenen Werks.

 

2.1. A Voyage of Growth and Discovery – Michael Smith and Mike Kelley

Im Jahr 2009 begibt sich der Künstler Michael Smith mit einer kleinen Crew auf eine Reise zum Burning-Man-Festival in die Wüste Nevadas. Das Festival, das seit 1991 alljährlich eine temporäre Stadt in der Black Rock Desert errichtet, bezieht seinen Namen von seinem festlichen Höhepunkt: der symbolischen Verbrennung einer überlebensgroßen, hölzernen Menschenfigur am letzten Tag des mehrtägigen Events. Larry Harvey, Mitbegründer von Burning Man, formulierte 2004 zehn Prinzipien, die der Veranstaltung als ideologische Stütze dienen sollen: 1. radical inclusion; 2. gifting; 3. decommodification; 4. radical selfreliance; 5. radical self-expression; 6. communal effort; 7. civic responsibility; 8. leaving no trace; 9. participation; 10. immediacy. Einst als alternative Underground-Veranstaltung für Künstler und Freigeister gefeiert, ist das Festival in den letzten Jahren zunehmend in Kritik geraten, weil es seinen revolutionären Geist der Social-Media-verträglichen Konsumtionskultur von Influencern, Celebrities und einer hedonistische Silicon-Valley-Elite geopfert habe (Bowman 2019). Obwohl eine der von Harvey formulierten Grundsätze decommodification ist, kann man der Veranstaltung vorwerfen, dass sie genau die kapitalistische Ordnung fördert, die sie zu untergraben versucht. Einerseits führt das Diktum der Veranstalter, keine Spuren in der Wüste zu hinterlassen, eher zu einer Hyper-Kommodifizierung, weil es den Kreislauf der Konsumtion jedes Jahr aufs Neue füttert, andererseits wird die radical self-expression selbst zur Ware. Der hedonistische Geist des Festivals bedient die kindliche Sehnsucht seiner Besucher nach reiner Triebbefriedigung und so erscheint es passend, dass Michael Smith als seine Kunstfigur Baby IKKI unterwegs ist, die er vor mehr als dreißig Jahren entwickelt hat. Der große, haarige Mann taumelt in Babykleidung über das Festivalgelände und bleibt dabei durchgängig in character, er verhält sich wie ein präinguales Kleinkind. Das Kamerateam dokumentiert, wie er mit den bunt verkleideten Neo-Teilzeit-Hippies der kalifornischen Technik-Branche interagiert, welche teils irritiert, manchmal amüsiert reagieren, ihn größtenteils jedoch einfach ignorieren. Das große Kleinkind fällt unter den Besuchern, die sich selbst als Burner bezeichnen, überhaupt nicht auf. Nicht an Baby IKKIs Seite ist Mike Kelley, der zwar zusammen mit Michaels Smith das Konzept entwickelt, aber selber nicht für die Dreharbeiten vor Ort ist, jedoch im Anschluss das entstandene Material für den Schnitt ordnet. Er ist es auch, der Michael Smith zufolge vorschlägt, dem Film ein Exzerpt der Tonspur einer Video-Arbeit von James Broughton hinzuzufügen. Ab Minute 36 des Films sehen wir Baby IKKI, der auf dem Festivalgelände ein aufblasbares, mit farbigem Sand gefülltes Schwimmbecken entdeckt hat, selbstvergessen spielen. Plötzlich beginnt eine sanfte Melodie zu spielen und wir hören eine Frauenstimme aus dem Off wiederholt folgende Verse aufsagen:

This is really it
This is all there is
And it’s perfect as it is
There is nowhere to go but here
There is nothing here but now
There is nothing now but this
And this is it

Nach der vierten Wiederholung klingt die Stimme aus, indem sie immer leiser werdend flüstert: „This is it. This is it. This is it.“ Das Exzerpt entstammt Broughtons Kurzfilm This Is It aus dem Jahr 1971. Der Dichter und Filmemacher, der Teil der San Francisco Renaissance-Gruppe war, inszeniert in dem 9-minütige Film einen Garten als idealen, unberührten Naturzustand, in dem alles einfach nur ist, was es ist, bis Gott aus einem Akt der Eitelkeit beschließt, mit dem Menschen ein Wesen zu erschaffen, das ihm ähnelt. Die Kamera folgt Broughtons 2-jährigem Sohn, der in diesem Szenario als Adam auftritt. Zunächst spielt der kleine Junge wie Baby IKKI auf dem Burning Man Festival selbstvergessen im Jetzt. Eine weibliche Stimme – der Abspann verrät, dass es sich hierbei um die Stimme des roten Balles handeln soll, der eines der Hauptmotive des Videos ausmacht – beschwört das distanzlose Sein des kindlichen Menschen in der Gegenwart, das This is it! als ideale Form des In-der-Welt-Seins. „There is nowhere to go, but here“ ermahnt die Stimme noch, als sich die Stimme Gottes einblendet um zu fragen „So? What is it? Is this it, here, now?“ Worauf sich der Junge Schuhe und einen roten Cowboyhut anzieht, den Ball unter den Arm klemmt und den Garten verlässt, um in den Bereich der Zivilisation einzutreten. Wie Babby IKKI ist auch Adam noch in einer brabbelnden Vorsprachlichkeit zu Hause. Erst als er das Gelände verlässt, wird er in Form eines STOP-Verkehrsschilds mit der Sprache als Gesetz konfrontiert.2

Beide, Adam und Baby IKKI, können ihre Bedürfnisse nur durch primitive Laute als Ansprüche geltend machen. Die atmosphärische Färbung der Filme könnte jedoch unterschiedlicher nicht sein. Broughtons Version lässt sich noch als vom Zen inspirierte Botschaft lesen, wenn auch in westlicher Deutung. Diesem zivilisationskritischen Lebe im Jetzt kann man allerdings mit Marcuse (2007) vorwerfen, dass genau dadurch eine Verflachung stattfindet, die ihr das entfremdende Moment nimmt, das es braucht, um eine gesellschaftskritische Dimension in der Kunst zu öffnen. Das This is it! wird hier zur absoluten Tautologie, da es auf nichts jenseits seiner selbst verweist. Ganz im Gegensatz zum satori will es keinen Sprung ins Unbekannte wagen, sondern ermahnt, im Jetzt zu bleiben. Die korrekte Übersetzung wäre also vielleicht nicht Das ist es! sondern Das ist alles, was sich ja auch schon in der nächsten Zeile bestätigt: „this is all there is“ flüstert der Ball.

Michaels Smith und Mike Kelleys Version hingegen hat jede idyllische Note verloren. Baby IKKI wirkt auf dem Festivalgelände unter den tausenden von Besuchern verloren. Er watschelt weitgehend unbeachtet und scheinbar orientierungslos über das Gelände und zeigt auf Situationen, Dinge, Menschen. Bei der Betrachterin stellt sich ein Gefühl der Verlorenheit ein, wenn sie Baby IKKI so über das Festival-Gelände stolpern sieht. Dieser Eindruck erreicht seinen Höhepunkt, wenn das dem Broughton-Film entnommene Voice-Over eingeblendet wird. Das This is it! wird zu einer düster beschwörenden Mahnung, das „this is all there is“ scheint sich beinahe in eine Frage zu verkehren: This is it? – das ist alles? Wie lässt sich diese düstere Färbung des von Broughton ursprünglich als idyllische Selbstbesinnung gedachten Textes erklären?

 

2.2. This Is All There Is – Das Erlöschen des Begehrens

Der Garten Eden, den Broughton inszeniert, hat mit dem Burning-Man-Festival nicht viel zu tun. Während das Baby Adam als einziger Protagonist in seiner kindlichen Unschuld verweilt, sieht sich Baby IKKI mit tausenden Festival-Besuchern konfrontiert, die im Gegensatz zu ihm den vorsprachlichen Zustand längst hinter sich gelassen haben. Dennoch verhalten sich diese Besucher in ihrem Triebverhalten wie Kleinkinder. In diesem Garten Eden, fernab von den Gesetzen des Alltags, so das Versprechen, ist jeder Wunsch erfüllbar. Hier klingt Freud an, der dem „Lusttier“ Mensch zugesteht, dass er sich angesichts der von Versagung (Frustration) bestimmten Realität mit der Phantasie einen „Naturschutzpark“ erschafft, in dem das Lustprinzip uneingeschränkt regiert: „Alles darf darin wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose, selbst das Schädliche“ (Freud 2001, S. 356).

Warum löst sich dieses Versprechen für Baby IKKI nicht ein? Auch hier ist Lacans Unterscheidung zwischen Anspruch und Begehren entscheidend. Der Hedonist geht davon aus, dass sein Anspruch Befriedigung finden kann. Sein This is it! verweist auf das Zelebrieren des Jetzt, das allerdings nicht, wie noch bei Broughton, aus der Besinnung auf das Wesentliche besteht, sondern als Erzählung der Freiheit und radikalen Selbst-Expression als Ware konsumiert wird. Im Spätkapitalismus wird die Erzählung einer Besinnung auf das Ursprüngliche, wie wir sie aus den 1970er Jahre kennen, an den Konsum gekoppelt. Das lässt sich gut an dem vor einiger Zeit ubiquitären Hashtag YOLO ablesen. Das Kürzel, das für You Only Live Once steht, mahnt daran, nicht das Jetzt, sondern im Jetzt zu genießen, ohne dabei auf mögliche Spätfolgen zu achten. Mit Lacan gelesen, lässt der hedonistische Anspruch, der auf sorglose Befriedigung der Wünsche zielt, allerdings einen wesentlichen Aspekt außer Acht: Das Begehren. Dieses realisiert sich in den Trieben, die jedoch niemals befriedigt werden können, da sie im Gegensatz zu biologischen Bedürfnissen „nicht auf ein Objekt zielen, sondern dieses vielmehr umkreisen“ (Evans 2017, S. 287). Die Figur des Baby IKKI ist deshalb so gut gewählt, weil sie den Burnern spiegelt, dass das, was sie in der temporären Utopie zu leben hoffen, dem durch die Sprache gespaltenen Subjekt unerreichbar ist. Darüber hinaus ist diese Spaltung in Michael Smiths Darstellung selbst angelegt, indem dieser als erwachsener Mann in der Rolle seiner Kunstfigur gleichzeitig den Zustand vor und nach dem Erlernen der Sprache verkörpert. Da jedoch das Begehren nach Lacan sprachlich strukturiert ist, es also ohne Sprache gar kein Begehren geben kann, da die Verdrängung fehlt, könnte man die düstere Färbung, die Broughtons Zeilen in A Voyage of Growth and Discovery erhalten also darauf zurückführen, dass das This is it! als This is all there is! gleichzeitig einem Zustand vor dem Begehren (Baby IKKI) und einem Erlöschen des Begehrens (Burner) gleichkäme, was aus psychoanalytischer Sicht ein Zustand der Depression wäre. „Befriedigung begräbt das Begehren“ erklärt Bruce Fink dieses Paradox. Und führt aus:

„Wenn Utopie ein ‚Ort‘ ist, wo es kein Verlangen nach irgendetwas gibt, dann gäbe es auch dort kein Begehren, keinen Grund oder keine Ursache für das Begehren. Wie David Byrne singt: Heaven is a place where nothing ever happens“ (Fink 2016, S. 69).

Die Metonymie des Begehrens, das sich in immer wechselnden Partialtrieben manifestiert, mag zwar über eine Leerstelle – den Mangel – die Ansprüche bewegen, dennoch ist diese Bewegung letztlich eine des Lebens. Wer nichts mehr begehrt, versinkt in der Depression, die oft eher als untoter, denn als lebender Zustand empfunden wird. Dazu muss dieser nicht einmal im Suizid münden, denn sich selbst zu töten bedeutet, etwas zu begehren, und sei es den eigenen Tod. Das Versprechen des Burning-Man-Festivals, man befände sich in einem temporären utopischen Raum aller Wünsche, die in der Realität unterdrückt werden müssen, übersieht, dass das Begehren ständig sein Objekt wechselt, es verkennt dass „die Eigenart des menschlichen Verhaltens die dialektische Unruhe der Aktionen, der Begehren und der Werte ist“, die sich unaufhörlich wandeln und oft sogar in ihr Gegenteil verkehren (Fink S. 138). Wo jedoch die Dialektik des Begehrens keinen Platz hat, so Fink, gibt es auch keine Infragestellung und kein Staunen: „ich kann meine Vergangenheit, meine Motive oder auch meine Gedanken und Träume nicht in Zweifel ziehen.

 


1 Siri Hustvedt, beispielsweise, beschreibt ihren Schreibprozess wie folgt: „When I’m stuck in a book, my effort to discover what should happen in the narrative is very much like try ing to remember something that actually happened to me but that I can’t bring to light. I never feel there are a hundred possibilities. I feel there is one true event that must happen, and it must be recalled correctly and put in the book. Theright solution is purely a matter of my feeling. It feels right, and I go from there.“ (Hustvedt 2016, S. Hustvedts Beschreibung erinnert stark an das satori. Auch ihr Geist steckt fest (I’m stuck) und aus dieser Frustration kann sie sich nur durch einen Sprung ins Unbekannte befreien, dem one true event, das sich nicht herbeiführen lässt, sondern das ihr widerfahren muss. Wie das satori ist hier die Eingebung eine sehr persönliche, die sich nicht auf den zergliedernden Verstand reduzieren lässt, die sie aber intuitiv erkennt (it’s a pure matter of feeling), sobald sie sich einstellt.

2 Das Stop-Schild ist ein schönes Beispiel der symbolischen Ordnung als einer des Gesetzes. In Lacanianischem Vokabular haben wir es hier mit dem  Namen-des-Vaters zu tun, der das Gesetz in Form eines Verbots repräsentiert. Im Französischen zeigt sich dies, wie so oft bei Lacan, durch eine Ambiguität im Klang:  Nom-du-père ist homophon mit Non-du-père, dem Nein des Vaters.

 

Literaturverzeichnis

Barthes, Roland (2008): Die Vorbereitung des Romans: Vorlesung am Collège de France 1978–1979 und 1979–1980. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Barthes, Roland (2012): Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Barthes, Roland (2017): Die helle Kammer: Bemerkung zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Barthes, Roland (2018). Das Neutrum: Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Blumenberg, Hans (2018): Phänomenologische Schriften 1981–1988. Berlin: Suhrkamp.

Bowman, Emma (2019): Federal Clampdown On Burning Man Imperils Festival’s Free Spirit Ethos, Say Burners. https://www.npr.org/2019/07/14/737708644/federal-clampdown-on-burning-man-imperils-festivals-free-spirit-ethos-say-burner [27.12.20].

This Is It. USA 1971, Regie: James Broughton, 9min.

Evans, Dylan (2017): Wörterbuch der Lacan’schen Psychoanalyse. Wien: Turia + Kant.

Fink, Bruce (2016): Eine klinische Einführung in die Lacansche Psychoanalyse: Theorie und Technik. Wien: Verlag Turia + Kant.

Freud, Sigmund (2001): Fundamente: die Traumdeutung, drei Abhandlungen zur Sexualtheorie; Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Fischer.

Harvey, Larry (2004): The 10 Principles of Burning Man. https://burning-man.org/culture/philosophical-center/10-principles/ [27.12.20].

Hustvedt, Siri (2016): A Woman Looking at Men Looking at Women: Essays on Art, Sex, and the Mind. London: Sceptre.

A Voyage of Growth and Discovery. USA 2010, Regie: Mike Kelley and Michael Smith, 87 min.

Lacan, Jacques (2015): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse: Das Seminar, Buch XI (1964). Wien Berlin: Turia + Kant.

Lacan, Jacques (2016): Die Ethik der Psychoanalyse: Das Seminar, Buch VII (1959–1960). Wien Berlin: Verlag Turia + Kant.

Marcuse, Herbert (2007): One-Dimensional Man: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society. London: Routledge.

Nemitz, Rolf (2020): Jacques Lacan Seminar XIX, ... oder schlimmer (VI) Sitzung vom 9. Februar 1972. https://lacan-entziffern.de/seminar-19/jacques-lacan-seminar-xix-oder-schlimmer-vi-sitzung-vom-9-februar-1972/ [19. 12. 2020].

Wittgenstein, Ludwig (2016): Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.