Michael Meyer zum Wischen und Lutz Götzmann

Veröffentlicht: 25.01.2022

 

Das Verhältnis der Psychoanalyse zur Medizin war seit ihrer Begründung durch den Arzt Sigmund Freud ein spannungsreiches und widersprüchliches. Zugleich aber erscheinen beide miteinander auch untrennbar verwoben. Freud entwickelte die damals neue „Talking cure“ im Hören auf seine Patient*innen und konnte in ihren Symptomen bisher Ungehörtes und Unerhörtes entdecken. Die psychoanalytische Kur ist seit dieser Zeit „Ohr“ für das unsägliche und oft bisher ungesagte Leiden derer, die zu den Analytiker*innen kommen. „Dort, wo es leidet, spricht es“ (Lacan).

Insofern spricht Freud vom Kranken, da die Analysant*innen an etwas kranken, das vergeblich Gehör suchte und vom Bewusstsein abgewiesen wurde.

Diese Kunst eines „Austauschs von Worten“ (Freud) bleibt einerseits der ärztlichen Kunst verwandt, wird allerdings bereits vom Gründer der Psychoanalyse von der Medizin auch abgegrenzt. Freud warnte davor, die Psychoanalyse dürfe nicht im Lehrbuch der Psychiatrie verschwinden.

Interessanter Weise gibt es bei Freud aber einige Metaphern, die Analyse und Medizin in Berührung bringen (z.B. die sogenannte „Chirurgen-Metapher“), und er spricht immer wieder vom „Arzt“, der die Kur leite. Freud war und blieb Naturwissenschaftler, als Arzt, der keine andere als die naturwissenschaftliche „Weltanschauung“ für nötig hielt. Das ist der eigentliche Schnittpunkt, so scheint es, zwischen Freuds Psychoanalyse und Medizin: die naturwissenschaftliche Weltanschauung. All das wird kein Zufall sein.

In der Nachfolge Freuds waren viele derjenigen, die die Psychoanalyse weiter voranbrachten: Ärztinnen und Ärzte: Erwähnt werden können Sandor Ferenczi, Georg Groddeck, Michael Balint, Paul Schilder, Frieda Fromm-Reichmann, Donald W. Winnicott, Winfrid Bion, Herbert Rosenfeld, Francoise Dolto, Lucien Israel und nicht zuletzt Jacques Lacan. Gerade diesen Kliniker*innen und ihren oft avancierten Theorien verdankt die Psychoanalyse Möglichkeiten der psychoanalytischen Arbeit mit oft schwer leidenden Analysant*innen, im Bereich von Psychose-Erkrankungen, Borderline-Störungen und der Psychosomatik.

Wir sind davon überzeugt, dass die psychoanalytische Theorie und Praxis ohne den ärztlichen Zugang zum menschlichen Leiden ihr zentrale Moment verlieren würde; andererseits haben wir erhebliche Bedenken gegenüber einer physiokratischen Medikalisierung der Psychoanalyse und ihrer Ausbildungsformate. Man könnte zum einen das Verhältnis von Psychoanalyse und Medizin mit Lacan auch als „non-rapport“ verstehen: das heißt als etwas, für das es keine unmittelbare und vorgegebene „Passung“ gibt – dass es aber Möglichkeiten geben könnte, die Kluft zwischen beiden zu überbrücken. Dabei könnte der leidende (genießende) und sprechende Körper das rätselhafte Objekt sein, an dem beide sich abarbeiten. Aber geht es nicht, zum anderen, noch einen Schritt weiter: Sind nicht die Psychoanalyse wie auch die Medizin in sich gespalten? Tragen nicht beide Professionen (durchaus im Sinne der Bekenntnisse) denselben Widerspruch in sich: Naturwissenschaftlich (empirisch-objektiv) und geisteswissenschaftlich (konjektural-subjektiv) zu sein, so, wie der Arzt und Naturwissenschaftler Freud von der Kunst des Vermutens und Erratens sprach? Spricht man nicht auch von der ärztlichen Kunst? Ist die Kunst der Psychoanalyse eine andere als die der ärztlichen Medizin? Wäre es dann nicht dieser beidseitige Riss, der die unmögliche Passung ergäbe?

Auf Grund dieser Fragen möchten wir im Rahmen von Y und des IPPK ein Forschungsprojekt zu „Psychoanalyse und ärztliche Kunst“ lancieren, wir meinen damit: Forschung im Sinne von „Erkunden, Vermuten, Erraten“, mit welcher Methodik auch immer – und sind offen für die Beiträge aller, die sich z.B. für folgende Fragen interessieren:

1) Was ist der Unterschied zwischen der psychoanalytischen und der medizinischen Klinik? Wo liegen die Unterschiede, wo berühren sie sich? Wie kann man die Differenz theoretisieren? Was lässt sich zur „présentation des malades“ sagen? Wie können wir Erfahrungen aus Balint-Gruppen, Supervisionen und Intervisionen aufschreiben, austauschen, theoretisieren?

2) Welche Texte zum Verhältnis von Medizin und Psychoanalyse finden wir in der Geschichte der Psychoanalyse und können wir nutzen, etwas dazu auszuarbeiten? Dazu gehört auch die Biografieforschung von Ärzt*innen, die Analytiker*innen wurden. Wie gingen sie damit um? Welche Ärzt*innen sind Laienanalytiker*innen?

3) Welche theoretischen Ansätze gibt es, das Verhältnis von Psychoanalyse und Medizin zu konzeptualisieren? Und welche Ansätze gibt es, welche die geisteswissenschaftlichen, künstlerischen oder auch spirituellen Strömungen in der Medizin wie in der Psychoanalyse konzeptualisieren? Heute wird die Laienanalyse aus der Psychoanalyse ausgeschlossen, so wie die Psychoanalyse in einer zunehmend techno- und physiokratischen Medizin bedroht ist.

Liebe Leserinnen und Leser, wir begreifen unsere Gedanken als Anstoß, über das Verhältnis von Psychoanalyse und Medizin und über die ärztliche und analytische Identität nachzudenken, als call for papers, um die Tradition einer ärztlichen Psychoanalyse – als Technik, Kunst und naturwissenschaftliche Methode – weiterzuentwickeln, d.h. die das Psychoanalytische in der Medizin und das Medizinische in der Psychoanalyse, deren gegenseitige Durchdringung und Immanenz mit Verve und Leidenschaft verficht.

 

Autor:in: Michael Meyer zum Wischen, Dr. med., ist seit 1998 in psychoanalytischen Praxen tätig.

Autor:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa / IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.