Michael Meyer zum Wischen
Veröffentlicht: 29.09.2023
Am 16. September 2023 verstarb Jean Allouch.
1939 geboren studierte er in Montpellier Psychologie und später an der Sorbonne in Paris Philosophie.
1963 traf er Jacques Lacan in seinem Seminar. Dieser wurde sein Analytiker.
Nach dem Tod Lacans gründete er die École lacanienne de psychanalyse, deren Website unter Lacan-Bibliothèque den Zugriff auf das Werk Lacans ermöglicht (Séminaires et Pas-tout Lacan) [www.ecole-lacanienne.net].
Nach Michael Turnheim (2009), Franz Kaltenbeck (2018), Charles Melman (2022), Moustafa Safouan (2020) und Gérard Pommier (2023) verlässt uns mit ihm erneut einer der wichtigen Theoretiker und Praktiker der Psychoanalyse nach Lacan.
Allouch hat in diesem Jahr einen Text geschrieben, den man als vorgezogenen Auto-Nekrolog lesen könnte.
Ich versuche, ihn zu übersetzen:
„Gleichermaßen trivial und unerwartet lenkt eine Bemerkung Jacques Lacans die Beobachtung darauf, dass jeder Psychoanalytiker sich gezwungen – ja, ‚gezwungen‘! – sieht, die Psychoanalyse neu zu erfinden. Mit ihren Debatten, Dissidenten und Spaltungen lässt die Geschichte der freudianischen Bewegung diese Wahrheit im klarsten Licht erscheinen.
Sie bestätigt sie sich gerade hier aufs Neue, wenn man in Folge der Artikel, der Interventionen und Bücher erfassen kann, dass sich nach und nach eine ganz eigene Form der Psychoanalyse herausgebildet hat.
Ich nehme keine Originalität in Anspruch; noch habe ich mich jemals anheischig gemacht, die Psychoanalyse neu zu erfinden. Die Neuerfindung hat sich ohne mein Wissen im Laufe eines Parcours abgezeichnet, der zuerst den Akzent auf das Drängen des Buchstabens setzte (1979, la translittération), später dann in der analytischen Übung eine geistige erkannte (2007) und sich schließlich in der überraschenden Hervorhebung zweier Analysen des Sexuellen bei Lacan fortführte, nämlich der des Bandes und des Objekts einerseits, des Ortes als alleinstehenden (celibataire) andererseits.
Bislang vernachlässigte Begriffe haben sich nun umso mehr als unverzichtbar für die Ausübung der Psychoanalyse aufgedrängt: der Wille, die Freiheit, die Ehre (der Stolz) (‚Was ist ein authentischer Irrer?‘ fragt sich Antonin Artaud und antwortet: ‚Ein Mensch, der es vorzieht eher verrückt zu werden als sich einer bestimmten überlegenen Idee der Ehre/des Stolzes zu verdingen.‘) Andere Begrifflichkeiten wurden neu unter die Lupe genommen: die Trauer, der Passage à l’acte, das Bild.
Diese Orientierung hatte gleichermaßen den Effekt, das Auftauchen eines neuen Feldes nicht zu übergehen, welches ebenfalls die Erotik befragt: Das Feld, das man als „gay“, „lesbisch“ oder „trans“ bezeichnet, kurz gesagt: „queer“. Es schien ausgeschlossen, eine große Anzahl fundierter Arbeiten zu vernachlässigen, die nicht zuletzt durchaus einiges davon in Frage stellen, was von nun an als ziemliches psychoanalytisches Vorurteil erscheint.“
Diese kritische Befragung der Psychoanalyse selbst, eine Art permanenter Durcharbeitung ihrer Grundlagen und Begriffe, war Allouchs Stärke. Mir war vor allem sein Opus magnum L’amour Lacan (2009) nahe, in dem er die verschiedenen Zugänge Lacans zur Liebe mit kreativer Frische durchdekliniert, aber auch sein wichtiges Buch zu Lacans Ur-Patientin Marguerite Anzieu Marguerite ou l’Aimée de Lacan (1990), das Trauer und Liebe als Grundbezüge der Psychoanalyse herausarbeitet. Sein gesamtes Werk findet sich auf der Website der École lacanienne. Erwähnt werden soll noch die von Bernhard Schwaiger trefflich übersetzte Schrift Ist die Psychoanalyse eine geistige Übung? Eine Antwort an Michel Foucault (Wien, Turia und Kant, 2021).
In seinen Improntus de Lacan (2009) hat er uns eine wunderbare Kollektion Lacan'scher Praxis und Klinik hinterlassen.
Vielleicht ist es diese besondere Verknüpfung seiner großen Kenntnis der Geschichte der Psychoanalyse, seines Humors und Tiefe seiner Gedanken, die Bezugnahme auf die Tradition, Kritik und Erfindung verband, die er uns hinterlässt und damit zu weiterer Ausarbeitung anregt.
Unvergessen wird mir bleiben, wie Jean Allouch in einem Seminar traditionelle französische Chansons anstimmte und so seinen Gedanken und Worten Körper gab.
Dies wird mir persönlich in besonderer Erinnerung bleiben. Ein Text, den er mir für Y zur Übersetzung gab, zu Lacan und Foucault, wird in der kommenden Zeit publiziert werden.
So wird es weitergehen, auch wenn Y mit Jean Allouch ein bedeutendes Mitglied seines Beirats verliert.
Autor:in: Michael Meyer zum Wischen, Dr. med., ist seit 1998 in psychoanalytischen Praxen, derzeit in Hamburg tätig.