Hilmar Schmiedl-Neuburg

Veröffentlicht: 30.08.2024

 

Y trauert um Dr. Sonja Witte, die im Juni 2024 nach kurzer, schwerer Krankheit verstarb. Sonja Witte begleitete die Zeitschrift Y als Mitglied im wissenschaftlichen Beirat seit der Zeitschriftsgründung in 2021.
 

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Dr. Sonja Witte (1979-2024) war langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Kulturwissenschaft der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin und Koordinatorin des Masterstudiengangs Kulturwissenschaften – Psychoanalyse und Kultur. Sie vertrat mehrmals ab WS 2022/23 die dortige Professur für Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Kulturtheorie und Psychoanalyse. Daneben nahm sie Lehraufträge an den Universitäten Bielefeld, Oldenburg und Bremen wahr. In Forschung und Lehre befasste sie sich mit Fragen der Kritischen Theorie, der kulturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Subjekts-, Medien-, und Kulturtheorie sowie auch der Sexualitäts- und Geschlechterforschung.

Ihre Monographie Symptome der Kulturindustrie. Dynamiken des Spiels und des Unheimlichen in Filmtheorien und ästhetischem Material (2018) widmete sich der Kritik der Kulturindustrie und der Wissenschaftskritik, in der sie beide Kritiken nicht direkt, sondern umwegig, vermittels einer psychoanalytischen Untersuchung künstlerischen und filmwissenschaftlichen Materials, entwickelte. In den beiden Teilen der Arbeit kontrastierte Witte filmwissenschaftliche Texte, Filme und Kunstperformances miteinander, konstellierte so wissenschaftliche Texte Cesare Musattis, einem Vertreter der „Filmologie“, einer französischen Strömung der Filmtheorie Mitte des 20. Jahrhunderts, in der die welterschließende und vom kapitalistischen Arbeitsleben befreiende Funktion des Kinos betont wurde, mit Performances, Aktionskunst und Inszenierungen des spanischen Konzeptkünstlers Santiago Sierra und ließ experimentelle Foto-Filme der Berliner Künstlergruppe „Die tödliche Doris“ und Jean-Pierre Jeunets Film Die fabelhafte Welt der Amélie (2001) den Texten von Jean-Louis Baudry, einem Vertreter der „Apparatusdebatte“, einer Schule der Filmtheorie, die die Beschränkungen der Weltsicht durch das kapitalistisch formierte Kino betont, begegnen. Sie untersuchte dabei Filme, Aktionskunst und filmwissenschaftliche Texte als Produkte der Kulturindustrie bzw. der Wissenschaft. Dabei ging es Witte darum, das Unbewusste der diese Produkte produzierenden Kulturindustrie und Wissenschaft aufzudecken. Psychoanalytisch war dies nur umwegig, umkreisend möglich, indem statt der konkreten inhaltlichen Auseinandersetzungen in diesen Produkten der „Abhub“ (Freud/Adorno) dieser filmisch-filmwissenschaftlichen Debatten ihre Aufmerksamkeit fanden – das heißt, das scheinbar Nebensächliche, etwa stilistische Eigenheiten der Filme oder auffällige sprachliche Wendungen. Wie der Psychoanalytiker im scheinbar Unbedeutenden in den Äußerungen seines Patienten dessen Symptomatik und ihre Ursachen aufspürt, so las auch Witte die künstlerischen bzw. filmwissenschaftlichen Debatten symptomatisch auf ihre latenten Gehalte und unbewussten Motive hin.

Ihr Habilitationsprojekt stand unter dem Titel „Kulturelle Inszenierungen sexueller Grenzüberschreitungen und moralischer Grenzziehungen im Kontext von #MeToo“ und sollte wiederum am „Abhub der Erscheinungswelt“ Grenzüberschreitungen und Verschiebungen im Gebiet der Sexualmoral und Ästhetik reflektieren.

Daneben wirkte Sonja Witte als Mitherausgeberin verschiedener Werke: „Heil versprechen“ (Hg. gemeinsam mit Karin Harrasser, Insa Härtel, Karl-Josef Pazzini). Zeitschrift für Kulturwissenschaft, Heft 1/2020; Orte des Denkens – mediale Räume: Psychoanalytische Erkundungen (2013) (Hg. gemeinsam mit Insa Härtel, Christine Kirchhoff, Anna Tuschling et al.); Pop Kultur Diskurs. Zum Verhältnis von Gesellschaft, Kulturindustrie und Wissenschaft (2010) (Hg. gemeinsam mit Holger Adam, Jasar Aydin, Jonas Engelmann et al.) und Deutschlandwunder – Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur (2007) (Hg. als Gruppe kittkritik – Tobias Ebbrecht, Johanna M. Müller, Jean-Philippe Baeck et al.).

Unter ihren zahlreichen wissenschaftlichen Fachaufsätzen und Beiträgen in Sammelbänden geben Titel wie „Ware Bilder – Zum Unheimlichen des Unbewussten in der Kulturindustrie“, „Zum Unheimlichen von Baudrys Begriff des filmischen Realitätseindrucks“, „Vom Klassenkampf zum ‚Kinderschänder‘ – Anmerkungen zu wechselnden Vorzeichen von kindlicher Unschuld und Störgeräuschen“, „‚Nebeneinander von Vorgarten und Gaskammer‘ – Wenn Denken haltlos wird“, „Umtüten. Anmerkung zu einem psychoanalytisch-kulturtheoretischen Verfahren“, „Am ‚allergischen Punkt des Sexus‘ – Überlegungen zu Ekel, Lust und Sexualmoral“, „Wohlwollende Analytiker und nonkonformistische Gesellschaftskritiker im Kino. Eine Interpretation zeitgenössischer Massenkulturtheorie“, „Das unheimlich Verführerische der Kulturindustrie – Von der Wahrheit der Suggestion und dem Glück manipuliert zu sein“, „Die Katharsis der deutschen Nation in ‚Das Wunder von Bern‘ – Wie die Versöhnung der Generationen und Geschlechter die Vergangenheit überwältigt“, „Geld gegen Strich – Wenn in der Kunst der Körper zur Ware wird“, „Im Spiegel der Unschuld – Über das Liebesleben im postnazistischen Deutschland“, „Illusion, Wahrheit, Wirklichkeit: Religion als Symptom – Psychoanalytisches Miniaturbild des Materialismus“ und Vorträge wie „‚The revelations have come thick and fast …‘ Anmerkungen zu möglichen Schwierigkeiten, #MeToo zu erforschen“, „In Gedanken (k)ein Kinderspiel. Zu unbewussten Dynamiken spielerischer Momente in Kunst und Theorie (anhand Cesare Musattis Filmtheorie und Aktionen des Künstlers Santiago Sierra)“, „Theoretisch heilsam. H. Rosas Resonanztheorie als Beispiel wissenschaftlicher Heilsversprechen“, „Guck Dich glücklich! Der unbewusste Wunsch zwischen Ton und Bild in der Kulturindustrie oder das Versprechen der fabelhaften Welt der Amélie“, „Robert Doisneau auf der Mauer, auf der Lauer – Anmerkung zum Moment der Maßlosigkeit des infantilen Sexuellen im entblößenden Lachen“, „Im Spiegel der Unschuld: Sexualmoral im Postnazismus. Von ‚Kinderschändern‘, ‚Unzucht‘, ‚kindlicher Reinheit‘ und anderen Symptomen“, „On Loosing One’s Mind between Image and Sound – Looking from Adorno’s Critique of Culture Industry at Meaning of Sound in Psychoanalytic Film Theory“ einen Eindruck ihres vielseitigen, neugierigen, zum Denken anregenden, kritischen und einsichtsvollen wissenschaftlichen Werkes.

Sonja Witte war zudem eine sehr engagierte und von ihren Studierenden hochgeschätzte akademische Lehrerin. Lehrveranstaltungen wie „Psychoanalytische Wissenschafts- und Erkenntnistheorie/Theorien des Subjekts“, „Sprache/Stimme/Literatur, Kindheit und Sexualität – Theorien und aktuelle Debatten“, „Phantasma, Ideologie, Subjekt – Adornos ‚Aspekte des neuen Rechtsradikalismus‘ aus kulturwissenschaftlicher Perspektive“, „Im Netz: Sexualität und Neue Medien“, „Technik/Körper/Psyche – Vom Prothesengott zum Google Glass – Kulturtheoretische Perspektiven auf Schnittstellen zwischen Körper und Technik“, „Psychoanalytische Subjekttheorie“, „Psychoanalytische Gesellschafts- und Kulturanalyse“, „Von der Phantasmagorie des Warenfetischs zum Autoritären Charakter“, „Dinge und Eigenarten des Alltagslebens – Alltägliche (Re-)Produktion, Kunst und unbewusste Prozesse“, „Theorien und Fälle Neuer Medien: Übertragung, Begehren, Erinnerung“, „Zwischen Trieb, Wunsch und Moral: Gesellschaftliche Bilder infantiler Sexualität aus psychoanalytischer und ideologiekritischer Sicht“, „Mensch und Maschine im Kino – Über die Macht der Wirkung des kinematographischen Apparates. Eine Einführung in technikzentrierte Filmtheorien“, „Verführung zur Unterwerfung – Zum Verhältnis von Institution und Subjekt am Beispiel (unbewusster) Prozesse in der totalen Institution Napola und deren intergenerationellem Weiterwirken“ zeigen die Vielfalt ihres Wirkens in der universitären Lehre.

Sonja Witte studierte von 1999-2006 Kulturwissenschaft, Soziologie und Philosophie an der Universität Bremen und wurde dort 2016, gefördert durch ein Promotionsstipendium der Hans-Böckler-Stiftung, summa cum laude zum Dr. phil. promoviert. Darüber hinaus absolvierte sie von 2020-2023 ein BSc- und Masterstudium der Psychologie an der IPU Berlin und war in Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeutin.

Wir verlieren mit Sonja Witte eine menschlich wie fachlich hochgeschätzte Kollegin, die wir in ehrendem Andenken bewahren. Im Namen der Zeitschrift Y möchten wir ihrer Familie und ihren Freunden unser tiefes Beileid ausdrücken.