aktuelle Berichte aus Lviv
Barbara Ruettner
Y – Z Atop Denk 2023, 3(8), 1.
Abstract: Im Rahmen der montäglichen Vortragsreihe des IPPK fand am 4. Juli 2023 ein von Prof. Dr. med. Lutz Götzmann und Barbara Rüttner organisiertes Live-Gespräch (online) mit Prof. Dr. med. Roman Kechur, Professor für Psychosomatische Medizin an der Universität Lviv, und Dzvinka Kechur, Psychoanalytikerin/IPV, über die Lage der Psychoanalyse und der Psychoanalytiker:innen in der Ukraine sowie über den gegenwärtigen Krieg aus analytischer Sicht statt. Anschließend an das Eingangsgespräch fand ein offenes Gespräch mit den Anwesenden statt.
Übersetzer:in: Olga Grytska
Keywords: Ukraine, Krieg, Psychoanalyse, psychoanalytische Praxis, Bion
Veröffentlicht: 30.08.2023
Artikel als Download: Die Ukraine als psychoanalytisches Feld
Y: Ich möchte mich zunächst herzlich bei Dzvinka und Roman dafür bedanken, dass Ihr uns einen Einblick in Euer aktuelles Leben in Lviv gewährt. Ich möchte mit folgenden eher allgemeinen Fragen beginnen: Wie ist denn die aktuelle Situation in Lviv und wie wirkt sich der Krieg auf den Alltag aus?
Dzvinka Kechur: Guten Abend, ich freue mich sehr, alle zu sehen! Ich glaube, dass wir aktuell eine relativ ruhige Situation haben – es gab seit einigen Tagen keinen Luftalarm mehr. Das bedeutet, dass wir einige Nächte lang ruhig schlafen können und ein Gefühl der Zuversicht im Hinblick auf das Leben, auf die Arbeit haben können. Allerdings ist diese Ruhe für uns, für alle Ukrainer:innen an verschiedenen Orten im Land, ein Anlass zur Sorge. Denn, je länger sie andauert, umso mehr steigt die Erwartung eines Angriffs. Dabei muss ich anmerken, dass unsere Situation natürlich nicht so angespannt ist wie die der Menschen, die im Osten oder sogar Kyjiv wohnen.
Die Sorge, die ich zuletzt hatte, ist vielmehr eine dauerhafte Grundanspannung. Neulich, während eines Angriffs auf andere Orte, flog über unserem Haus eine Drohne, die eine eindeutige Bedrohung unseres eigenen Lebens bedeutete. In dieser Nacht bin ich von einem Knall aufgewacht – glücklicherweise war eine Rakete abgeschossen worden. Da wir aber im obersten Stockwerk wohnen, habe ich danach noch lange das Geräusch – das Summen der ‚Mopeds‘, wie sie bei uns genannt werden, gehört. Das ist wirklich ein schreckliches Gefühl, weil Du Dich wie gefangen fühlst – Du kannst nirgendwo mehr fliehen, es ist zu spät zum Fliehen und es bleibt Dir nichts anderes übrig, als zuhause oder an einem anderen sicheren Ort mit dieser Angst umzugehen.
Deutlich intensivere Erlebnisse haben unsere Patient:innen, mit denen wir online arbeiten und die zum Beispiel in Dnipro, in Kharkiv oder in Kyjiv wohnen. Im Vergleich zu denen haben wir also eine relativ bequeme Situation. Ich glaube, wenn Sie jetzt als Tourist:innen in unsere schöne altertümliche Stadt kämen, wären Sie überrascht. Denn die Stadt blüht, sie lebt, sie ist mit Menschen gefüllt, auch mit Tourist:innen, die Restaurants sind geöffnet, Menschen unterhalten sich, alles ist im Betrieb – es scheint so, als deutete nichts darauf hin, dass in dem Land Krieg herrscht. Jeden einzelnen Tag aber findet im Stadtzentrum eine Beerdigungsprozession statt. Sie beginnt bei der Jesuitenkirche St. Peter und Paul, die sich im Zentrum der Stadt befindet, und es ist ein ziemlich langer Weg bis zur Bestattungsstätte unserer Kämpfer:innen. Entlang dieses Weges wird alles still – Menschen, denen die Prozession begegnet, gehen auf die Knie und senken den Kopf. Diese Prozession führt zum Marsfeld, das nicht weit von unserem Haus liegt. Jeden Abend gehen Roman und ich daran vorbei, wenn wir einen Abendspaziergang machen, und wundern uns darüber, wie schnell es wächst. Das ist sehr schmerzhaft und sehr beängstigend.
Y: Wir können uns die Situation nicht vorstellen und dennoch habt Ihr das sehr bildlich für uns beschrieben, dafür danke ich Euch sehr. Das ist alles sehr schrecklich und diese ständige Bedrohung habt Ihr uns eindrücklich geschildert. Dzvinka und Roman, Ihr arbeitet weiterhin in Vollzeit. Darum möchte ich gerne fragen, inwieweit beziehungsweise wie oder ob sich die äußerliche Bedrohung auf die therapeutische Arbeit auswirkt.
Roman Kechur: Vorweg möchte ich Sie gerne alle grüßen und mich für die Einladung bedanken! Ich werde nicht lange erzählen, ich werde eine Geschichte erzählen. Einer meiner Patienten ist ein in Kyjiv wohnhafter Anwalt, ein sehr erfolgreicher Anwalt, ein gestatteter junger Mann. Seit ungefähr drei Jahren arbeiten wir einmal die Woche miteinander online, meistens sprechen wir über seine intimen Sorgen. Vor zwei bis drei Wochen schrieb er mir, dass er nicht bei der Sitzung dabei sein könne. Es war neun Uhr morgens, er wäre der erste Patient gewesen. Ich fragte ihn, weshalb. Er antwortete: „Ich habe kaum geschlafen, ich war mit meinen Kindern in der Nacht in einem Luftschutzraum und bin deshalb nicht in der Verfassung“. Ich sagte: „Dann nächste Woche wieder um diese Uhrzeit“. Er sagte: „Gut“.
Einige Tage später – ein anderer Patient, ein Gestalttherapeut aus Kyjiv, der die Therapie bei mir für sich selbst macht – er fragte: „Erinnern Sie sich noch an die Rakete, die vor ein paar Tagen in ein Gebäude in Kyjiv eingeschlagen ist? Es sind einige Menschen umgekommen“. Ich sagte: „Ja, ich habe davon gelesen“. Er sagte: „In diesem Gebäude lebten Bekannte von mir – eine Familie, ich kannte sie gut. Sie sind dabei gestorben“. Offensichtlich spreche ich mit ihm seitdem nicht mehr über seine Kindheit, über seine intimen Sorgen, sondern wir sprechen bereits seit einigen Wochen nur über diesen Vorfall.
Nachdem wieder einige Tage vergangen waren, war es wieder Zeit für eine Sitzung mit dem zuerst genannten Patienten, mit dem Anwalt. Und er erzählte mir die folgende Geschichte: „Erinnern Sie sich noch an die Rakete, die vor ein paar Tagen in ein Gebäude in Kyjiv eingeschlagen ist, als einige Menschen umgekommen sind?“. Ich sagte: „Ja, ich habe davon gelesen“. Er sagte: „Ich habe es aus dem Fenster beobachtet. Das war 300 bis 400 Meter von meinem Gebäude entfernt“. Unmittelbar danach war er runter in den Keller gegangen, um Schutz zu suchen.
Das ist eine Geschichte von zwei Therapiepatienten – zwei Menschen, die einander nicht kennen, deren Leben sich nicht überschneiden, die in einer 5 Millionen-Stadt leben – und sie verbindet sie miteinander. Dadurch sind für mich jetzt beide miteinander verlinkt. Ich habe diese Geschichte herangeführt, um nicht lange irgendwelche theoretischen Modelle zu erläutern.
Y: Vielen Dank! Verstehe ich also richtig, dass der Krieg in der Therapie dann zum Thema wird, wenn er durch entsprechende Vorfälle zum aktuellen und akuten Thema wird? Ansonsten sprecht Ihr aber in der Regel weiterhin über die persönlichen Themen Eurer Patient:innen?
Roman Kechur: Der Krieg steht nicht immer im Mittelpunkt, aber er bleibt immer als Kontext bestehen. Das Thema ist also fortwährend präsent, aber in unterschiedlicher Intensität.
Y: Wir als Therapeut:innen kennen ja das Bion'sche Konzept des Containments. Spielt das Aushalten, das Halten, derzeit verstärkt eine Rolle in Eurer Arbeit? Schließlich erleben die Patient:innen Unerträgliches, Unaushaltbares. Dies alles bringen sie in die Therapie mit.
Dzvinka Kechur: Ich habe den Eindruck, dass Containing etwas Basales ist – es befähigt uns, etwas möglichst lange auszuhalten, wenn wir zum Denken nicht in der Lage sind. Wenn wir uns nach Bion richten sollen, dann würde ich eher auf den Angriff auf Verbindungen verweisen. Es ist ein interessantes Phänomen, denn es entsteht der Eindruck, als würden wir zusammen mit unseren Patient:innen wirklich eine Art Dyade schaffen, eine wechselseitige Verbindung, die uns das gemeinsame Contaning ermöglicht. Ich weiß nicht, ob wir uns in diesem Kontext an etwas anderes halten können als Containing.
Zum Beispiel erinnere ich mich an Sitzungen mit einer Patientin aus Dnipro zu einem Zeitpunkt, als die Stadt unter starkem Beschuss war. Dabei ist wichtig zu wissen, dass wenn der Luftalarm ausgelöst wird, er in der gesamten Ukraine losgeht. Wir waren also weit voneinander entfernt und wir mussten uns beide verstecken, uns in Sicherheit bringen, sowohl sie als auch ich. Wir haben die Sitzungen danach fortgesetzt. Währenddessen informierte sie sich online über die Art, das Ziel und die Route der Rakete. Wenn die Rakete an Dnipro vorbei passierte, dann flog sie zu uns. Wir blieben während der gesamten Zeit in Kontakt, dann machte sie sich aber wiederum Sorgen um mich. So ging es fort, bis zu dem Zeitpunkt, in dem die Sitzung zu Ende war oder ein zweiter Alarm zur Aufhebung des Luftalarms ertönte. Dabei erinnere ich mich an Sitzungen, in denen ich vor Anspannung und Angst ein Gefühl von Kälte an meinem Haaransatz spürte. Ich weiß nicht, ob wir in solchen Situationen überhaupt denken können, wir können nur diese Verbindungen aufrechterhalten und dadurch einander versuchen zu bewahren – das ist eine Psychose.
Y: Ganz herzlichen Dank, dass Ihr uns einen solch beeindruckenden Einblick in Eure gegenwärtige Lebens- und Arbeitswelt in der Ukraine gegeben habt. Wir möchten Euch für die kommende Zeit viel Kraft und alles Gute wünschen und Euch unsere Solidarität versichern.
Interviewte:r: Dzvinka Kechur ist Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin der Ukrainischen Psychoanalytischen Gesellschaft (UPS), Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA), Ausbildungstherapeutin und Supervisorin der UCP (ECPP), USP, Gruppenpsychoanalytikerin der EAP. Sie ist am St. Paraskeva Medical Center, einer privaten psychoanalytischen Praxis in Lviv tätig. Außerdem ist sie derzeit beteiligt an dem internationalen fünfjährigen Ausbildungsprojekt zu Psychosomatischer Medizin und Psychoanalyse „Psychosomatische Medizin – die Kunst des Möglichen“ (2020-2025), das von der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatik betreut und zertifiziert wird.
Interviewte:r: Roman Kechur, MD. Ph.D, ist Leiter der Abteilung für Psychologie und Psychotherapie an der Ukrainischen Katholischen Universität, Psychiater, Psychoanalytiker, Lehrtherapeut und Supervisor der Ukrainischen Union der Psychotherapeuten und der Europäischen Konföderation der Psychoanalytischen Psychotherapien, Vorsitzender des Ausbildungsrates und des Sekretariats der Ukrainischen Union der Psychotherapeuten. Präsident der Ukrainischen Konföderation Psychoanalytischer Psychotherapeuten, Vorsitzender des Vorstands der Ukrainischen Psychotherapeuten-Universität.
Interviewer:in: Barbara Ruettner, Prof. Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Psychoanalytikerin SGPsa/IPA. Sie doziert und forscht als Professorin im Bereich der Analytischen Psychotherapie an der MSH Medical School Hamburg und leitet den Ausbildungsbereich der Analytischen Psychotherapie am HIP Hafencity Institut für Psychotherapie in Hamburg. Sie publizierte in den Bereichen der Immunologie, Neurologie und Psychosomatik.
Übersetzer:in: Olga Grytska, M.A., ist in der Ukraine geboren. In Deutschland absolvierte sie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel das Studium der Philosophie, Medien- und Musikwissenschaften. Sie ist als redaktionelle und wissenschaftliche Mitarbeiterin am IPPK tätig.