zur politischen Theorie und Psychoanalyse rassistischer Grenzregime und kultureller Zoologiken
Lutz Goetzmann
Y – Z Atop Denk 2024, 4(1), 1.
Abstract: Rezension von Peer Zickgrafs (2023): Rassismus als Menschenzoo – Zur politischen Theorie und Psychoanalyse rassistischer Grenzregime und kultureller Zoologiken. Baden-Baden: Tectum Verlag. 232 Seiten.
Keywords: Rassismus, Menschenzoo, kulturelle Zoologik, politische Theorie und Psychoanalyse
Veröffentlicht: 30.01.2024
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Peer Zickgrafs politikwissenschaftliche Monografie Rassismus als Menschenzoo – Zur politischen Theorie und Psychoanalyse rassistischer Grenzregime und kultureller Zoologiken (2023) ermöglicht eine intellektuelle Erfahrung, die unseren Blick auf die politische und soziale Gegenwart tiefgreifend verändern kann. Ursprünglich als Dissertationsschrift angelegt, schlägt dieses erstaunliche Buch nicht nur hinsichtlich der wissenschaftlichen Argumentation, sondern auch mit seinem packenden und lebendigen Stil den Leser und die Leserin in den Bann. Die den politikwissenschaftlichen Ansatz ergänzende psychoanalytische Idee orientiert sich an Jacques Lacan, dem wichtigsten Analytiker seit Freud. Dieser beschreibt den Großen Anderen, der gleichsam einen „Tresor“ an wertvollen Ideen, aber auch an hegemonialen Ansprüchen, kruden Vorstellungen, Gesetzestexten und überflüssigem Wort-Plunder bildet; insofern ist der Große Andere ein „Tresor der Signifikanten“; er ist ein „unsichtbaren Behälter“, der ganz unterschiedlich befüllt werden kann – sowohl organisch-wachsend, quasi implizit oder auf eine gezielte, grobe und manipulative Weise (Zickgraf 2023, S. 178). Sein Inhalt bestimmt das Unbewusste des Subjekts bzw. dessen individuelle, sozial und politisch verfasste Subjektivität mit ihren unbewussten, vorbewussten, aber auch bewussten Anteilen (sofern es diesen gelingt, sich ins Bewusstsein einzuschmuggeln). Insofern wird das Subjekt, aber auch die Subjektivität ganzer, so auch kolonialer Gesellschaften durch den jeweils Großen Anderen bestimmt (ebd., S. 43). Lacan zieht hier eine symbolische Trajektorie zwischen dem Großen Anderen und dem Subjekt des Unbewussten. Diese wird durchkreuzt von der imaginären Achse, die sich zwischen dem imaginären Ich und dessen Spiegelbild erstreckt (z.B. Lacan 2014, S. 10). Mit Hilfe dieses Modells beschreibt Peer Zickgraf zunächst im Allgemeinen, dann anhand einer Anzahl frappierender Beispiele den, wie er sagt: „Rassismus als Menschenzoo“. – Dieser in seiner Griffigkeit verkürzte Terminus lässt sich vielleicht auf folgende Weise ausbuchstabieren: „Rassismus als Menschenzoo“ meint eine rassistische Geisteshaltung und ein ihr entsprechendes Verhalten, zu dessen Merkmalen die Errichtung faktischer oder imaginärer Menschenzoos gehört. Solche Rassisten stecken andere Menschen in ghettoförmige Sektoren, in denen sie eingesperrt und von der Gruppe bzw. Gesellschaft ausgeschlossen werden – wie es den Tieren in den Zoologischen Gärten widerfährt. Insofern versteht Peer Zickgraf „Rassismus als Menschenzoo“ als eine (Unter-)Kategorie des Rassismus im Rahmen allgemeiner Rassismustheorien (ebd., S. XV). Diesen „Menschenzoo“ grenzt Zickgraf ab von der „Zoopolis“, d.h. von einer Gemeinschaft, welche die erwähnten Menschenzoos aus ideologischen bzw. rassistischen Gründen einrichtet. Es gibt keinen Menschenzoo ohne Zoopolis, keine Zoopolis ohne Menschenzoo. Ein Gemeinwesen, d.h. eine Polis, die Menschenzoos errichtet, wandelt sich in eine Zoopolis. Die Zoopolis, so Zickgraf, ist „der ideologische Container für eine apokalyptische Welt der Blendung, für ideologische Götzen in Gestalt von Nationen, Rassismen und politischen Menschenzoos aller Art, die sich wie bleierne Nebel über die bedrohte Polis legen.“ (ebd., S. 196). Insofern ist die Zoopolis das typische Gefilde des Großen Anderen, welcher die (unbewusste) Subjektivität der Leute, die eine Polis bewohnen, bestimmt und infiziert: Der Große Andere einer solchen Gruppe enthält die Ideologie, welche bestimmte Mitglieder bzw. Nicht-Mitglieder dieser Gruppe (rassistisch) stigmatisiert und in einen Menschenzoo einsperrt (d.h. in ein Lager, in ein Ghetto, in einen Slum oder in ein deklassiertes Stadtviertel – aber auch in den Brennpunkt eines medialen Shitstorms). Gleichzeitig führt, so Zickgraf, die imaginäre Achse dazu, dass das imaginäre Ich der Rassisten durch das Spiegelbild der Eingesperrten und Ausgegrenzten ergänzt wird. Der Zoobesucher steht vor den Käfig-Gittern und spiegelt sich in der jenseitigen Animalität. Auf der realen Ebene erfüllt er sich dabei den Wunsch nach einem, wie Zickgraf sagt: „rassistischen Geniessen“, das vermutlich den Motor der Dialektik von Menschenzoo und Zoopolis bildet (ebd., S. 178).
Bevor Zickgraf auf die Gegenwart zu sprechen kommt, arbeitet er das Motiv des Menschenzoos bei Proust und Musil – im Paris der Belle Époque wie im kaiserlichen Österreich heraus, das vor dem Abgrund des Weltkriegs steht, heraus. Musil schreibt in seinem Mann ohne Eigenschaften:
"Es ist ein Grundzug der Kultur, dass der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste misstraut, also dass nicht nur ein Germane einen Juden, sondern auch ein Fußballspieler einen Klavierspieler für ein unbegreifliches und minderwertiges Wesen hält. Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung: ohne den Papst hätte es keinen Luther gegeben und ohne Heiden keinen Papst, darum ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die tiefste Anlehnung des Menschen in dessen Ablehnung besteht" (Musil 1992, S. 26).
Auch hier werden die Effekte sowohl auf der symbolischen wie imaginären Achse überdeutlich, welche sich ebenso in der Bestimmung des Anderen als minderwertiges „Subjekt“ zeigt, wie dass der Andere die imaginäre Ergänzung des Ichs bildet: ohne Juden keine Germanen, ohne Heiden kein Papst, ohne Kolonien kein Imperialismus, ohne Homosexualität keine Heterosexualität – usw... Es brauchte die Menschen aus den Kolonien, die in Europa zur Schau gestellt wurden, um die Identität der Europäer über das Exotische und Erregend-Infame der kolonialen Alterität zu konstituieren. Jedenfalls sind die „Völkerschauen“ das erste von mehreren Beispielen, anhand derer Peer Zickgraf seine Theorie des Rassismus als Menschenzoo exemplifiziert (ebd., S. 8). Die imperiale Gesellschaft qualifiziert sich durch diesen Akt der Präsentation als eine Zoopolis, deren Bürger und Bürginnen gleichsam auf das Wilde blicken, das sie nicht sind und dass das eigene Fremde, Triebhafte und Unheimliche darstellt. Insofern liessen sich die Völkerschauen als analoge Phänomene zur Erfindung der Freud'schen Psychoanalyse interpretieren.
Dann aber geht es weiter im Text: Wir besuchen Wladimir Putin und seinen „Meisterphilosophen“ Alexander Dugin. Deren ‚Russische Welt‘ („Russki Mir“) fungiert als eine typische Zoopolis, die sich als eine Erlösungsfantasie aufführt. Hier dient der „schmutzige Westen“ als Menschenzoo, der – quasi als verruchtes Zoogelände - mittels diverser Eroberungskriege inkorporiert – und wahrscheinlich auch vernichtet werden soll. Die ‚heile Russische Welt‘ ist dann eine Welt „frei von Homosexualität, Atheismus, Kosmopolitismus, Kunst, Atheismus“ (ebd., S. 116). Hier zeigt sich sehr schön das Oszillierende dieser – im Grunde unangenehmen – Begrifflichkeiten: Aus russischer Sicht ist der Westen ein Menschenzoo voller verwahrloster und moralisch korrupter Individuen. Aus westlicher Sicht ist das heutige Russland ein Menschenzoo, deren Bewohner einer lügenhaften Propaganda und physischer Gewalt unterzogen sind: es sind charakterlose, jedenfalls lethargischer Jasager, denen der Untergang anderer Völker egal ist. Die Dialektik aus Menschenzoo und Zoopolis kreiert eine verstörende Kippfigur, je nach der politischen oder soziokulturellen Perspektive.
Ein weiteres Musterexemplar (mit Proust: ein „Spezimen der Zoologie“) ist Donald Trump, dessen Aufstieg zum „populistischen Erlöser“ (ebd., S. 131) packend nachgezeichnet wird. Hier verknüpft Zickgraf biographische Details, v.a. hinsichtlich schwerster narzisstischer Verletzungen mit dieser vertrackten Dialektik aus Zoopolis („Make America great again“) und Menschenzoo („Drecklochländer“). Mit Robert Pfaller zeigt er, dass das Vakuum, das in einer Gesellschaft durch den allgegenwärtigen Abbau sozialer Solidarität entsteht, mit Menschenzoos „gefüllt“ wird, sobald rassistische, z.B. islamophobe oder antisemitische Ideologien „inthronisiert“ und gesellschaftsfähig werden. Dass sich solche Ideologien ohne weiteres auswechseln lassen, kann man heute, in den Zeiten eines eskalierenden und unfassbar brutalen Nahostkonflikt, leider bestens beobachten: Einmal ist die Öffentlichkeit antisemitisch, dann wieder islamophob. Im Grunde geht es aber um die zoopolitische Struktur, die durch den Großen Anderen bestimmt wird. Dessen Signifikanten sind, so scheint es mir, oft austauschbarer, als einem lieb sein könnte – solange nur das rassistische Geniessen gewährleistet bleibt. – Bei den weiteren Darstellungen von solchen Musterbeispielen der Zoologie lernt der Leser oder die Leserin auch ganz interessante Details kennen, die ein entlarvendes Licht auf die Problematik der Zoopolis und ihrer abgründigen Gärten werfen. Im Kapitel über Brasiliens Ex-Präsidenten, Jaime Bolsonaro, erwähnt Zickgraf, dass Brasilien ein Land sei, dessen „Gründungsmythos“ auf sein äußerst begehrtes Holz zurückginge: Der Name leitet sich von „Brasilholz“ („pau brasil“) ab. Früher wurde dieses Holz zu glühenden Kohlen (portugiesisch: „brasa“) weiterverarbeitet und nach Europa verschifft wurde, um im unersättlichen Rachen der europäischen Industrie zu landen (ebd., S. 148). Wir wissen heute alle, dass sich diese Kampfzone […] inzwischen bis zum Ökozid ausgeweitet hat, wo die Natur in unseren Augen jede Dignität verloren zu haben scheint. So geriert sich die kapitalistische Zoopolis sich als eine doppelte Diebin: Sie fällt die sauerstoffspendenden Bäume und verdirbt den Äther, die Atmosphäre mit dem tödlichen Rauch ihrer Industrien.
Aber das Wertvollste, vielleicht aber auch das Abgründige dieser Denkfiguren, die Peer Zickgraf so eindrücklich präsentiert, besteht darin, dass sich diese nicht nur auf die Untaten eines Putin und dessen offenkundigen rechtspopulistischen Unsinn anwenden lassen, sondern auch auf die jeweils eigene, individuelle Position, auf die eigene, individuelle Subjektivität. Im Grunde bestimmt der jeweils große Andere, auf welcher Seite des Zauns oder der Mauer jemand faktisch oder imaginär steht: auf der Seite des Menschenzoos oder auf der Seite der Zoopolis. Wenn ich Peer Zickgrafs Überlegungen richtig interpretiere, handelt es sich um eine „ewige“ Auseinandersetzung, welche gesellschaftliche Gruppe oder ideologische Bubble in der Lage ist, den unsichtbaren Behälter, die Schatzkammer und den Tresor des Großen Anderen mit ihren eigenen Signifikanten zu befüllen. Es empfiehlt sich, hier eine wache Selbstreflexion zu bewahren hinsichtlich der Mechanismen, die uns unversehens zu Bewohnern eines Menschenzoos oder einer Zoopolis machen. Peer Zickgrafs wichtige politikwissenschaftliche und psychoanalytische Arbeit verstehe ich als eine Anleitung, hier kühlen Kopf zu bewahren und weder eigenen noch fremden Rassismen auf den besagten Leim zu gehen.
Literaturverzeichnis
Lacan, Jacques (2014): Die Objektbeziehung. Das Seminar, Buch IV. Wien/Berlin: Turia + Kant.
Musil, Robert (2023): Der Mann ohne Eigenschaften. München: Anaconda Verlag.
Autor:in: Lutz Götzmann, Prof. Dr. med. Psychoanalytiker (SGPsa/IPV), ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Berlin tätig und hat seit 2014 eine apl. Professur an der Universität zu Lübeck inne.