Autorengespräch mit Nico Graack zu seinem Buch: Wenn ich groß bin, möcht‘ ich auch mal Spießer werden. Reflexionen von der Tankstelle (2023)
Y – Z Atop Denk 2024, 4(3), 3.
Interviewee: Nico Graack
Interviewer:in: Hilmar Schmiedl-Neuburg
Abstract: Wir leben in der Katastrophe – so meint zumindest Nico Graack. In seinem Buch (2023) Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden. Reflexionen von der Tankstelle (Berlin: IPPK-Verlag) (ISBN: 9783949634017) reflektiert er die Folgen dieses Umstandes in einer Mischung aus Reisebericht, philosophischem Essay und politischer Analyse. Über die Hintergründe des Buches, das Verhältnis von Wissenschaft, alternativen Subkulturen und Politik und einiges mehr sprechen hier Hilmar Schmiedl-Neuburg und Nico Graack. Das Gespräch fand statt im Rahmen der Buchvorstellung und Lesung des Werks in der Art Gallery Susanne Rikus in Berlin am 21.07.2023.
Keywords: Autorengespräch, Klimakatastrophe, Kritische Theorie, Adorno, Žižek, Reisebericht, Aktivismus
Copyright: Nico Graack, Hilmar Schmiedl-Neuburg | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.03.2024
Artikel als Download: Autorengespräch mit Nico Graack
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Lieber Nico, ich freue mich, dich hier bei dieser Lesung begrüßen zu dürfen. Nico Graack ist freier Autor, sowohl philosophisch wie journalistisch, studiert Philosophie und Informatik, lebt zurzeit in Prag und hat große Zeiten, auch während seines Studiums, damit verbracht, durch Europa, gerade das südliche Europa, zu reisen. Und zwar nicht so, wie man es sich vielleicht gemeinhin vorstellt, denn der Untertitel des Buches Reflexionen von der Tankstelle beschreibt nicht zuletzt auch die Art des Reisens, das ein Reisen als Trampen ist. Auf diese Weise sind An- und Einsichten zu erhalten, die bei anderen Weisen des Reisens nicht möglich sind.
Nico Graack ist darüber hinaus auch in verschiedenen aktivistischen Kontexten tätig, insbesondere in der Klimaschutzbewegung. Ebenfalls hat er in verschiedenen Zeitschriften publiziert, zum einen auch in unserer Institutszeitschrift, wenn ich das sagen darf, der Y – Zeitschrift für atopisches Denken. Zum anderen publiziert er in der analyse&kritik und der Jacobin und versucht auf diese Weise, sich schriftstellerisch, aktivistisch zu engagieren und eben gleichzeitig diesen Aktivismus in philosophischer Weise zu durchdenken und zu begleiten.
Das Buch, über das wir heute sprechen werden, Wenn ich groß bin, möcht‘ ich auch mal Spießer werden. Reflexionen von der Tankstelle, beschreibt in gewisser Weise diese Verbindung von Philosophie, Politik, Aktivismus, Reisebericht auf eine aphoristische Art, in der sich Adorno und Žižek, Che Guevara und viele andere begegnen und nicht zuletzt Nico Graack selbst zur Sprache kommt. Insofern freue ich mich sehr, dass wir die Gelegenheit zu diesem Gespräch haben und lieber Nico, magst du zu Anfang ein paar Worte sagen zu dem Buch, wie es dazu gekommen ist oder auch, was es mit diesem Titel auf sich hat?
Nico Graack: Erstmal möchte ich die Formalia erledigen, ich möchte mich auch ganz herzlich bedanken, also bei Susanne Rikus, dass wir hier sein dürfen und bei euch vor allem auch, dass ihr mir überhaupt die Gelegenheit gegeben habt, im IPPK-Verlag zu publizieren – da die Verlagssuche wirklich ein pain in the ass ist, also das kann man sich nicht vorstellen. Das ist anstrengend – aber ihr habt einfach sofort gesagt, „Wir machen das“, das fand ich super schön. Dafür möchte ich danke sagen, das bedeutet mir viel.
Nun zum Buch. Du hast schon viel dazu gesagt, wie es entstanden ist: auf den Trampreisen. Das stellt man sich vielleicht so abenteuerlich vor, aber 80% der Zeit ist man am warten – man sitzt irgendwo rum und raucht Zigaretten und wartet drauf, dass einen der Nächste mitnimmt. In dieser Lage, in dieser Langeweile – das ist für mich ein sehr positiver Begriff – in dieser Langeweile, habe ich halt geschrieben. Und irgendwann, dann nach fünf, sechs Jahren, kam die Idee auf, diese Texte als Sammlung zu publizieren, und zwar anders zu publizieren als in zusammenhängenden, kohärenten Artikeln. Viele Themen werden gestreift, du hast gesagt „Klimakatastrophe“ – das ist vielleicht der apokalyptische Untergrund des Ganzen, in dem wir uns jetzt denkerisch und handelnd befinden, aber letzten Endes geht es um alle Sachen, die mir durch den Kopf gegangen sind. Und mit dem Titel Wenn ich groß bin, möcht‘ ich auch mal Spießer werden, der ist ja von so einer alten Werbung, ich weiß gar nicht mehr, für eine Bausparversicherung oder so, das ist auf jeden Fall ein Werbeslogan, der irgendwie hängengeblieben ist. Und darin drückt sich ein Problem aus, vielleicht sogar das Anfangsproblem. Das wandelt sich dann sicherlich später, ich meine, in diesem Buch sind Texte von sechs, sieben Jahren versammelt, aber es ist eins der Kernprobleme.
In der Zeit, in der ich angefangen habe zu reisen, mit 16 oder 17 oder so, da war ich natürlich inspiriert, du hast jetzt einige Namen genannt, von so Revoluzzern vor mir und kam mir dabei natürlich auch ganz besonders aufrührerisch vor, jetzt hier so ohne Geld und ohne Schuhe und so durch Europa zu trampen. Aber in dem Titel drückt sich vielleicht ein gewisses Unbehagen aus, das ich in der philosophischen Lektüre formuliert fand: Das ist eigentlich eine alte Diagnose, schon von vor 30 Jahren, Frederic Jameson und solche Leute, dass die Strukturen der, ich sage mal im weitesten Sinne, Postmoderne, der Neuen Sozialen Bewegungen in den 60ern, also der Hippies und Punks, die mich natürlich auch irgendwie ästhetisch inspirierten, dass diese Strukturen des Zusammenlebens schon die neuen Herrschaftsstrukturen sind. Netzwerkstrukturen von Organisationen oder auch das Aufbegehren gegen Triebhemmungen – Das ist im Prinzip Jamesons Diagnose, dass der Kapitalismus selber postmodern geworden ist.
Und dann stellte sich für mich die Frage – oder wurde mein Revoluzzer Dasein beschädigt von dieser Einsicht: Wenn der Kapitalismus selber schon nicht mehr spießig ist, was ist dann noch für Protest möglich? Gegen die Ungerechtigkeiten und vor allem natürlich gegen die drohende Katastrophe, die ich durchaus als Katastrophe unseres Wirtschaftssystems begreife. Das ist ein politisches Problem. Aber wenn man sich die Unspießigkeit gewissermaßen auch nicht mehr erlauben kann, muss man dann zurück dazu, ein positiver Spießer zu sein? Das ist im Prinzip das Problem, was sich in diesem Werbeslogan kondensiert.
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Was ja in gewisser Weise dann auch selber die Ironie widerspiegelt, dass es ein Werbeslogan ist, jetzt allerdings in sein Gegenteil gewendet; und damit vielleicht auch die Frage bringt nach diesen Formen des Reisens oder diesen Formen des In-der-Welt-Seins – also den Ästhetiken des Punks, des Hippietums und ihren gegenwärtigen Wiedergeburten. Hast du den Eindruck, dass das alles sozusagen gänzlich überholt ist oder gibt es etwas darin, was, auch im und unbeschadet des Wissens um seine marktwirtschaftliche Verwertung, gleichwohl in seinem es Durchleben transformierend ist? Dass da etwas mit einem geschieht, was wir im eigenen Leib erfahren können, in diesen Reisen und in diesen Formen des mit sich selbst und anderen Umgehens? Gibt es, anders gefragt, etwas Richtiges im Falschen?
Nico Graack: Als guter Adornit würde ich natürlich sagen: Nein, auf gar keinen Fall. Aber trotzdem möchte ich die Zeit nicht missen, in solchen Communities zu leben. Diese ganzen alternativen Lebensformen, wie du sagst, die Wiedergeburten dieser Hippie-/Punk-Ästhetik, ob jetzt das solidarische Landwirtschaften oder Hausbesetzung oder wie auch immer – das sind durchaus Räume, in denen man eine gewisse Distanz zu der Welt um sich herum und damit auch einen Raum für kritische Reflexion gewinnen kann. Aber ich glaube eben nur, falls sich das dann reflexiv wieder auf diese Position zurückwendet – wenn nicht, naja, man sieht ja: Sehr viel von diesen Lebensformen ist jetzt schon inkorporiert bei irgendwelchen Silicon Valley Unternehmen und deren flat hierarchies und dem ganzen Blödsinn.
Aber ja, wahrscheinlich ist es, wie du sagst, vielleicht muss man da durchgehen … natürlich. Es kann jetzt nicht die Lösung sein, sich von vornherein gewissermaßen der permissiven Autorität, der wir jetzt herausgeliefert sind, zu unterwerfen.
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Diese Freiräume, von denen du sprichst, die haben ja auch zu diesem Buch geführt. Und wenn man es anschaut, wirkt es auch so, dass eben sehr viel Inspiration – er ist ja schon anwesend hier im Gespräch – von Adorno herkommt. Aber gleichzeitig fließt auch sehr viel Inspiration von Žižek und Lacan. Aus durchaus unterschiedlichen Theoriepositionen also, mit deren Hilfe du sowohl deine eigenen Erfahrungen auf diesen Reisen, aber auch deine Beobachtungen der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Zusammenhänge im Globalen und im Kleinen näher analysierst. Was reizt dich gerade an diesen beiden Hauptbezugspunkten, an Adorno auf der einen und an Žižek auf der anderen Seite?
Nico Graack: Was mich an Žižek reizt, fangen wir vielleicht damit an – weil ich mir gar nicht so sicher bin, wie viel theoretischer Bezugspunkt Adorno noch für mich ist, ob das nicht vielleicht eher in den ersten ein, zwei Jahren noch so war. Fangen wir also mit Žižek an. Was mich an seiner Art zu denken reizt, ist ein Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge, der nach Symptomen sucht – gewissermaßen nach symptomatischen Brennpunkten, also soziale Konflikte oder was auch immer, die sich dann aber immer verstehen lassen als Ausdruck eines tiefergehenden Konflikts. Das ist im Prinzip ja ein altes marxistisches Erbe.
Was mich daran reizt, ist, dass in dem aktuellen Theorieklima, das eben geprägt ist durch den Poststrukturalismus und Ähnliches und durch die Kritik, die bloß keine absoluten Standpunkte einzunehmen wagt – diese Angst davor, dass, wenn ich feste Standpunkte einnähme, dies dann eigentlich schon die Vorstufe des Totalitarismus sei: Wir müssten uns daher vor allen solchen Absolutheiten hüten. Was mich nun an Žižek reizt, ist, dass er zwar – vielleicht auch wieder ähnlich, wie wir das schon zuvor hatten – durch diese Positionen hindurchgegangen ist, aber jetzt doch wieder behauptet, wir brauchen so etwas wie einen absoluten Standpunkt. Das ist für ihn natürlich im Endeffekt der Klassenkampfstandpunkt im klassischen Sinne, aber angereichert durch diese ganze Kritik am orthodoxen Marxismus, die wir seit den 60ern erlebt haben. Das heißt, er will nicht wieder dahinter zurück.
Und sein Manövrieren zwischen: „Doch, wir brauchen klare Ansagen!“ auf der einen und „Die klassischen Arten des Sprechens sind dogmatisch“ auf der anderen Seite, das ist etwas, was mich an Žižek reizt. Wir brauchen einen Bezug auf ein Absolutes – auch in einem wissenschaftstheoretischen Sinne, wenn wir auf die Klimakatastrophe kommen. Denn da gibt es ja so einen weit verbreiteten Skeptizismus: „Ja, aber naja, das sind ja alles Prognosen und so und wie sicher ist denn überhaupt dieser wissenschaftliche Prozess und das ist ja vielleicht auch nur westliche Kultur, die das so sieht“. Dem gegenüber doch zu sagen: „Nein, es gibt absolute Wissensansprüche, und die kann man verteidigen“. Das ist das, was mich an Žižek reizt, dass er dies versucht, ohne zurückzufallen hinter die ganzen Kritiken, die wir seit den 60ern hatten.
An Adorno reizt mich vielleicht auf eine gewisse Art und Weise etwas ganz Ähnliches. Das erste Werk, was mich von ihm begleitet hat, war natürlich die Dialektik der Aufklärung, wie bei allen wahrscheinlich, die Adorno zu lesen anfangen. Und diese These, dass unsere Zivilisation – der Freiheitsgedanke der Aufklärung, sage ich mal – nicht fundamental von außen bedroht ist. Der Faschismus war nicht irgendwie die Barbarei, die von außen wieder hereingebrochen ist, sondern das ureigene Produkt der Aufklärung. Und trotzdem ist das, was wir dem entgegensetzen können, nur eine radikalisierte Aufklärung. Das finde ich einen spannenden Gedanken. Sich trotzdem nicht von den aufklärerischen Idealen abzuwenden und zu sagen – diese vulgär-marxistische Kritik: „Ja, Menschenrechte und so, das ist alles nur Verkleidung von Klasseninteressen.“ Nein, da ist was dran. Und man kann den Begriff quasi nur über sich selbst hinaustreiben. Das ist eine direkte Verbindung zwischen Žižek und Adorno.
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Was in gewisser Weise ja mit dem zusammenpasst, was wir gerade besprachen, nämlich in Bezug auf die Lebensstile, auch dort zu sehen, was muss über sich hinausgetrieben werden, ohne dahinter zurückzufallen.
Worin sich Adorno natürlich auch bemerkbar macht, ist gleichermaßen im Schreiben selbst. Dein Werk ist aphoristisch geschrieben, in einzelnen Passagen, die sich jeweils schlaglichtartig einem Phänomen, einem Thema annehmen. Doch im Duktus wird immer wieder auch stilistisch Adorno zitiert. Was hat es mit dieser Art zu schreiben auf sich?
Nico Graack: Das hast du mich schon mal gefragt (lacht) und ich habe immer noch keine gute Antwort. Ich würde vielleicht sagen, gerade in den früheren Aphorismen kopiere ich etwas von Adornos Stil, etwa in den Wortwendungen und so, es gibt auch diese Gags und diesen kritischen Theoriegenerator, oder diese Wettbewerbe, wie weit hinten kann man das Reflexivpronomen im Satz anbringen und so. Hiervon kopiere ich durchaus Sachen. Aber das hat sich immer eher auch wie eine gewisse Satire angefühlt. Also ich würde sagen, dieses Zitat des Stils hat durchaus satirische Intentionen. Ganz einfach, weil ich etwas an Adornos Denken für absolut unverzichtbar halte, um heute Kritische Theorie zu betreiben und die Katastrophe zu verstehen, in der wir uns befinden, und gleichsam aber doch der Meinung bin, man kann nicht so ein grimmiger alter Glatzkopf sein wie Adorno; man kann nicht immer so bierernst dabei sein. Auch wenn Adorno wunderbare ironische Passagen hat, gar keine Frage. Aber irgendwas in Adorno ist doch stets extrem ernst. Vielleicht ist das Zitat seines Stils auch die alte Leier von der Wiederholung von etwas, was einst Tragödie war und sich jetzt als Komödie wiederholen muss.
Aber eine gute Antwort habe ich immer noch nicht. Ich habe da viel drüber nachgedacht, nachdem du mich das das letzte Mal gefragt hast. Erstmal, ganz unmittelbar, ist es natürlich einfach etwas, was entstanden ist. Ich habe, ganz einfach gesagt, viel Adorno gelesen und dieser Stil ist da irgendwie so reingeflossen. Aber es sollte nie eine Identifikation damit sein. Und ich würde die Relation am ehesten als Satire bezeichnen.
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Und gleichzeitig bricht in dem Fragmentarischen etwas auf, was in gewisser Weise auch etwas aussagt über die Zeit, in der wir leben, und wie wir vielleicht auch mit dieser umgehen können; nicht zuletzt auch bezüglich der Probleme, um die es in dem Buch geht. Ich fand sehr interessant, dass du eben sagtest: Das Tragische wiederhole sich jetzt als Komödie. Eine Eigenart der Komödie ist ja, dass sie einen guten Ausgang hat – im Gegensatz zur Tragödie, bei der dies nicht der Fall ist. Adorno und der Frankfurter Schule brachte ihr tragisches Denken von Seiten Lukács‘ das Schlagwort vom Grand Hotel Abgrund ein, weil zwar einerseits der Blick in den Abgrund gerichtet ist, andererseits dies gleichsam aus einer nobel-komfortablen Resignation heraus geschieht. Auch dein Buch schaut in den Abgrund, sowohl in den der Klimakatastrophe, aber auch in die Abgründe gesellschaftlicher, kapitalistischer Verhältnisse und all der Folgen, die diese für uns psychisch, sozial, ökonomisch und politisch haben, wie auch für den gesamten Planeten. Wie steht es hier um Resignation und Aktivismus?
Du hast ja gesagt, die Klimakatastrophe ist in gewisser Weise der Basso continuo deines Werkes. Und gleichzeitig werden auch zahlreiche andere soziale Themen angespielt in dessen Lauf. Könntest du vielleicht etwas mehr zu diesen sagen, was deine Erfahrungen in diesen Reisen, deine theoretischen Reflektionen, und auch deine Aktivismen, deine politischen Aktivismen in verschiedenen Kontexten betrifft? Wie spielen sich diese Fragen in diesen verschiedenen Themen aus? Und welche Themen würdest du als die Leitmotive deines Werkes sehen, die immer wieder unterschiedlich durchgespielt werden?
Nico Graack: Auch wenn ich relativ wenig über direkte aktivistische Erfahrungen geschrieben habe – es gibt zwar Passagen aus dem Hambacher Forst und so, aber direkte, auf Erlebnisse bezogene Passagen gibt es da wenig – würde ich doch sagen, dass eines der Leitmotive immer die strategische Frage ist. Wie kann die Klimabewegung, als deren Teil ich mich begreife, wie können wir strategische Erfolge erzielen? Und dafür braucht es natürlich auch eine theoretische Analyse. Da kommt beides zusammen. Eigentlich die alte Lebensfrage des „Was tun?“. Das ist sicherlich eines der Hauptmotive. Und darum herum orientieren sich vielleicht die anderen Hauptstränge, die dann mit den Theorien Lacans und Žižeks zu tun haben, oder mit der Phänomenologie, die ja in der Öko-Phänomenologie aktuell eine eigene Sparte hat, die versucht, die Klimakatastrophe zu durchdringen. Meistens sind das dann doch sehr theoretische, enge Kommentare zu einzelnen Problemen oder Beobachtungen, die an einzelne solcher Probleme geknüpft werden. Und doch glaube ich, ist die Auseinandersetzung mit diesen Theorien immer unter der Leitfrage: Was können wir daraus jetzt strategisch für unsere Position hier und jetzt lernen? Also auch in einem ganz naiven, ganz handfesten politischen Sinne: Was sollen wir tun?
Dazu kommen natürlich die eher, wie du sie auch genannt hast, ethnographischen Reiseberichte. Und selbst wenn ich dann beschreibe – etwa Leute, mit denen ich zusammengelebt habe oder die Orte, an denen ich gelebt habe, immer irgendwelche alternativen Hippie-Höhlen – dann geschieht auch das mit dem Interesse: Was tun? Also sollen wir jetzt alle anfangen, solidarische Landwirtschaften zu gründen und irgendwelche Permakulturhöfe zu betreiben? Ein praktisches Interesse letzten Endes, auch wenn es im Einzelnen dann sehr theoretisch wird.
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Wenn es žu der Frage „Was tun?“ kommt, gilt es natürlich auch zu sehen: Wo ist alles etwas zu tun? Und das Buch ist ja nicht monothematisch an der Klimakatastrophe ausgerichtet, sondern zeigt eben auch, dass die Klimakatastrophe mit den verschiedensten anderen sozialen Fragen innigst verflochten ist. Wie siehst du das Verhältnis, strategisch, aber vielleicht auch grundsätzlich, zwischen diesen verschiedenen gesellschaftlichen Fragen?
Nico Graack: Ich würde noch strategisch antworten wollen und sogar sagen – jetzt ganz aktuell, das ist vielleicht auch ein Horizont, der dann das Buch überschreitet: Den Kampf um den Signifikanten – um das jetzt mal in dieser Theoriesprache zu sagen – den Kampf um den Signifikanten „Klima“, diesen Kampf halte ich für verloren. Ich glaube, dieser Begriff oder Signifikant ist kulturkämpferisch verbrannt. Aktuell, so meine ich, stehen die Zeichen auf Faschismus in Deutschland. Ich glaube, da können wir in näherer Zeit nichts erreichen, wenn wir uns für das Klima einsetzen. Deswegen würde ich sagen, wenn du nach den Verbindungen fragst, zwischen der Klimakatastrophe und den verschiedenen sozialen Krisen: Wenn wir überhaupt noch was tun können, dann können wir das nur, ohne direkt über das Klima zu sprechen. Dann können wir dies nur mit den richtigen sozialen Fragen verknüpfen.
Das sind zum Beispiel – das ist ja die Kampagne Debt for Climate, in der ich gerade aktiv bin – natürlich ökologische, aber eben auch soziale Kämpfe, in Südamerika, in Afrika, in den Postkolonien. Dort wo Öl und Gas gefördert wird, wo Leute aus ihren Dörfern geprügelt werden. Da muss man gar nicht über das Klima sprechen, das ist vielleicht das Gute daran, denn da geht es um ganz handfeste Probleme – da geht es auch um Rassismus und solche Dinge.
Um jetzt abstrakter die Verbindung zu beschreiben, zwischen Klima und sozialen Fragen, hier ist natürlich die Klimafrage die drängendste Frage. Da kommt mir auch der Anfang von Camus' Mythos des Sisyphos in den Sinn. Es gibt eine grundlegende Frage, und alle anderen Fragen machen nur Sinn, wenn wir diese beantwortet haben. Bei Camus ist es der Selbstmord: Lohnt sich das Leben oder nicht? Und erst dann können wir fragen, wie viele Kategorien der Geist hat und so weiter. Ich glaube, ganz ähnlich ist es im Politischen mit der Klimakatastrophe. Es macht alles andere keinen Sinn, wenn wir hier keine Lösungen finden. Und doch, auch wenn das quasi der Grundantagonismus ist, sind die Felder, auf denen wir tatsächlich aktuell noch kämpfen können, aber die sozialen Fragen. Und die Klimafrage zieht sich dann nur so als Grundtonus durch diese sozialen Kämpfe, die wir führen. Genauso bei der Wasserfrage – das wird eine der drängendsten Fragen auch in Europa in den nächsten zehn Jahren. Aber da muss man gar nicht über das Klima reden, da redet man einfach darüber, dass wir was zu trinken haben. Und da geht es dann um soziale Kompromisse, um Verteilungsfragen. Ich meine, auch die Stadt Berlin hat jetzt gerade einen Plan vorgelegt, wie Wasser rationiert werden wird, wenn es dann dazu kommt. Spanien musste jetzt schon im April Wasser rationieren. Das hat ganz handfeste soziale Dimensionen. Wer bekommt Wasser und wer nicht, das ist die Frage. Dann reden wir über Wasser und nicht über das Klima.
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Und dies passt durchaus zur Lacanschen Theorie, in der gerade das Abwesende ja häufig das ist, was das Entscheidende ist.
Nico Graack: Genau.
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): In dieser Frage: Was ist zu tun? Wo siehst du nicht zuletzt dieses Buch? Ist dies auch ein, vielleicht kleiner, Schachzug im Sinne des: Was ist zu tun?
Nico Graack: Da bin ich pessimistischer (lacht).
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Nun, vielleicht im Sinne von: Was ist die Rolle der Reflexion in dem aktivistischen Prozess?
Nico Graack: Das ist eine Frage, mit der ich mich viel auseinandersetze, auch ganz persönlich. Auf der einen Seite opfere ich sehr viel Zeit dafür, Philosophie zu studieren und Texte zu schreiben und zu lesen. Auf der anderen Seite sehe ich aber, dass man in der Politgruppe gerade eigentlich 24/7 Arbeit hätte. Und warum nehme ich mir die Zeit? Das ist auch eine ganz existenzielle Frage. Und in den letzten Jahren habe ich da verschiedene Antworten gegeben. Aktuell, glaube ich, kann ich nur sagen: Ich weiß es nicht. Ich bin skeptisch über die Rolle der Reflexion. Ich glaube, man darf sich als Intellektueller nicht überhöhen. Ich glaube nicht, dass die Akteure sozialer Auseinandersetzung irgendwie Anleitung bräuchten von Leuten, die in Unis sitzen. Und doch – ohne dass ich es auf den Begriff bringen könnte – scheint es mir unabdingbar, das zu tun, auch wenn der Einfluss von Kritischer Theorie auf die tatsächlichen politischen Kämpfe nie irgendwie kausal oder monokausal ist. Man kann jetzt z.B. nicht sagen, in einem starken Sinne sagen, Foucaults Werk habe die Gefängnisproteste hervorgerufen. Das glaube ich nicht. Und trotzdem scheint es mir unmöglich, zum Beispiel die Neuen Sozialen Bewegungen der 60er und 70er zu denken, ohne die zugehörige theoretische Auseinandersetzung.
Deswegen scheint es mir in einem gewissen Sinne auch einfach eine Wette zu sein. Wir müssen das irgendwie tun. Wir müssen das tun und ich wette darauf, dass es irgendwelche Auswirkungen haben wird. Und sei es nur, dass sich Individuen, die an diesen Kämpfen partizipieren, orientieren und darüber klar werden: Was tun wir hier eigentlich gerade, wogegen kämpfen wir? Natürlich geht es dann im Einzelnen auch mal darum, okay, das ist jetzt ein Punkt, an dem wir in die Offensive gehen oder eben nicht und so weiter. Aber das halte ich eher für marginal. Es geht vielleicht mehr um eine großflächigere Orientierung, bei der es dann im Einzelnen schwer ist zu sagen, welche Rolle sie spielt. Ich wette darauf, dass sie eine spielt, aber ich kann es dir nicht erklären.
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Welche Rolle die Reflexion auch immer in diesen Kämpfen spielen mag – es sind ja strategische Kämpfe, die als solche auch Hoffnung versprechen. Und gleichzeitig haftet dem Buch häufig genug der Pessimismus an: Es ist bereits zu spät und es lässt sich nichts mehr tun.
Nico Graack: Da kommt mir, das ist ja einer der Hauptbezugspunkte, ein Gedanke von Žižek: dass entgegen einem falschen Optimismus es wichtig ist, einzusehen, wie schlimm die Lage ist und sich nicht zu beruhigen. Das sind genau die Debatten, die wir auch in den Politgruppen führen: Ja, wir können jetzt auch nicht immer so Trübsal blasen, wir brauchen doch irgendwelche positiven Visionen und so. Žižek erklärt das an irgendeiner Stelle mit einer retrospektiven Wende: Wenn man auf dem Standpunkt steht „Es ist schon zu spät“ – dann kann man sich fragen: Was hätten wir tun können, damit es nicht so weit kommt? Und das scheint mir ein viel produktiveres Mindset, als sich in irgendwelchen falschen Optimismen zu ergehen.
Gerade die Statistiken aus den letzten 14 Tagen, die sind absolut katastrophal. Wenn man sich die Oberflächentemperatur der Ozeane ansieht, dann sind das historische Werte, die wir noch nie hatten – wirklich katastrophal. Und ich glaube, dass es wichtig ist, da erstmal in eine Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Man kann das natürlich eine List nennen – Ist man dann wirklich hoffnungslos, nur weil man diese quasi strategisch nutzt, um in ein anderes Mindset zu gelangen, ist das nicht unauthentisch? Ich weiß es nicht, aber ich fühle mich ganz authentisch hoffnungslos. Also das, glaube ich, kann ich schon sagen (lacht).
Hilmar Schmiedl-Neuburg (IPPK-Verlag): Vielleicht ist es dem ähnlich, was wir vorhin zur Tragödie und Komödie sagten: Wenn die Komödie die Wiederholung der Tragödie ist, erhält sie etwas und hebt etwas in sich auf von der Tragödie. So bekommt dann vielleicht auch unser Bemühen, etwas im Angesicht der Katastrophe zu tun, etwas Tragikomisches.
Lieber Nico, es war sehr anregend, dass wir auf diese Weise die Gelegenheit hatten, einige Impressionen zu deinem vielschichtigen Buch zu sammeln und einige Hintergründe desselben auszuleuchten – vielen Dank!
Interviewee: Nico Graack studiert Philosophie und Informatik in Kiel und Prag. Er arbeitet als freier Autor und Journalist.
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Interviewer:in: PD Dr. Hilmar Schmiedl-Neuburg, ist Privatdozent am Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Faculty am Department of Philosophy der University of Massachusetts Boston.
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