Rezension von Maximilian Thiemes: Noch einmal zurück nach Reims. Beiträge zur Politisierung von Scham
Amelie Uhlig
Y – Z Atop Denk 2024, 4(11), 1.
Abstract: In seinem Werk Noch einmal zurück nach Reims. Beiträge zur Politisierung von Scham beleuchtet Maximilian Thieme Didier Eribons autobiografischen Roman Rückkehr nach Reims im Hinblick auf den politischen und gesellschaftsrelevanten Mechanismus der Scham im Kontext der Klassenflucht. Scham wird hier als Gefühl, welches Zugang zur Kritik der bestehenden Gesellschaftsordnung ermöglicht, eingeführt. Neben Eribon werden Bourdieu, Foucault und Kafka herangezogen, um dieses Phänomen aus verschiedenen Perspektiven zu illustrieren und fruchtbar zu machen.
Keywords: Klassenflucht, Scham, Gesellschaft, Urteil, Eribon, Ernaux, Bourdieu, Kafka
Copyright: Amelie Uhlig | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.11.2024
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Im Jahr 2016 fand Didier Eribons autobiografisches Werk Rückkehr nach Reims durch seine Übersetzung auch im deutschsprachigen Raum weite Beachtung. Der Autor verbindet in diesem Roman Ereignisse aus seinem Leben mit soziologischen Überlegungen. Es geht um die eigene Klassenflucht und die daraus resultierende Entfremdung von seiner Familie. Eribon ist nicht der erste, der sich dieser Methode bedient. Vor ihm hatte Annie Ernaux bereits mehrere Romane dieser Art geschrieben und veröffentlicht. Sowohl Eribon als auch Ernaux thematisieren ihre Herkunft, ihr Aufwachsen in Arbeiterfamilien und den später folgenden Bruch mit diesem Teil ihrer Biografien. Der besagte Bruch ermöglicht einen Übergang in das intellektuelle Milieu, von welchem aus sowohl Eribon als auch Ernaux ihre Werke verfassen. Ernaux bezeichnet sich, aufgrund des Aufarbeitens der eigenen Biografie und deren Beleuchtung und Analyse mit soziologischen Theorien, als ‚Ethnologin ihrer Selbst‘. Dabei spielt das eigene affektive, gefühlsmäßige Erleben eine tragende Rolle. Eribon will diese Emotionen, genau wie Ernaux, nicht als unwissenschaftlich verneinen und wehrt sich dagegen, bestimmte Empfindungen außerhalb ihres gesellschaftlichen Kontextes zu betrachten und somit als bloße Affekte zu vereinzeln (vgl. Thieme 2024, S. 24). Darunter auch das Gefühl der Scham.
Da die Rückkehr zur eigenen Herkunft eine nie endende Aufgabe ist (ebd., S. 7), kehrt Maximilian Thieme zu Eribon und seiner Rückkehr nach Reims zurück mit dem Anspruch, die Scham als gesellschaftsrelevantes Phänomen zu beleuchten und ihren Mechanismus im Kontext der Klassenflucht darzulegen. Diese Analyse der Scham als politisches Instrument findet in engem Bezug auf Eribons Flucht statt, bedient sich jedoch auch der Werke von Foucault, Bourdieu, Kafka und Deleuze. Es finden sich drei zentrale Punkte in der erneuten Rückkehr: der:die Klassenflüchtige; die Scham, die er:sie empfindet; und die Urteile, die über ihn:sie von der Gesellschaft gefällt werden. Jedoch bleibt Thieme nicht bei der bloßen Analyse der gesellschaftlichen Mechanismen, die Scham hervorrufen, stehen, sondern geht darüber hinaus und entwickelt Strategien zur Widersetzung und Kritik an den Strukturen und Urteilen, welche dieses Gefühl hervorrufen. Dieser Bogen kann nur über eine Dekonstruktion dieses Gefühls und seiner Strukturen und Wirkungen vollzogen werden. Die Scham ist demnach eine dieser Empfindungen, die nicht als bloße Gefühle individualisiert werden dürfen. Vielmehr muss sie tiefergehend im Hinblick auf ihre wissenschaftspolitischen Dimensionen erkannt und untersucht werden.
Warum ist aber gerade die Scham im Kontext einer Klassenflucht so zentral? Dies liegt an einer epistemologischen Besonderheit, die Klassenflüchtige innehaben. Thieme spricht in diesem Fall von einem ‚gespaltenen Habitus‘. Wie wir in der Gesellschaft verortet sind, sowohl sozial als auch ökonomisch, strukturiert zwangsweise unser In-der-Welt-Sein. Arbeiterkinder wachsen mit dem Habitus der Arbeiterklasse auf und mit weniger kulturellem Kapital als vom intellektuellen Milieu vorausgesetzt. Gleichzeitig studieren Eribon und Ernaux den Habitus der Intellektuellen, um bei dem Versuch, ihre Herkunft hinter sich zu lassen und sich neu zu verorten, nicht aufzufallen. Während sie sich bemühen, den Habitus der anderen zu kopieren, sind sie sich des Habitus ihrer Herkunft schmerzlich bewusst (ebd., S. 44). Dieses Phänomen wird auch im Feld der sozialen Epistemologie von Linda Alcoff (2007) aufgegriffen. Ähnlich wie Thieme geht sie darauf ein, dass die gesellschaftliche Stellung Einfluss auf uns als Individuen hat und damit auch auf das Wissen, welches wir besitzen. Wissen konstituiert sich demnach nicht nur aus voneinander unabhängigen, rational gewonnenen Fakten, sondern ist eine gesellschaftlich verortete Praxis, die unterschiedliche Realitäten hervorrufen kann. José Medina (2013) bezieht sich darauf, dass marginalisierte Gruppen oft epistemische Vorteile gegenüber dem sogenannten ‚Mainstream‘ besitzen, da sie von dem gesellschaftlich postulierten Standard abweichen und somit aus einer anderen Perspektive auf die Welt blicken können (S. 44). Thieme lässt hier Bourdieu mit einem ähnlichen Punkt zu Wort kommen. Letzterer bezeichnet die Klassenflucht und das Herausbrechen aus dem ursprünglichen Habitus als Bruch mit dem spontanen Einverständnis, in welchem wir uns mit unserer eigenen Existenz, unseren alltäglichen Denkens- und Lebensweisen befinden (vgl. Bourdieu 1987, S. 15). Durch diesen Perspektivwechsel wird das Gefühl der Scham erst ermöglicht. Es handelt sich dabei um die Unterwerfung eines Subjektes unter ein Urteil von außen. Die Klassenflüchtigen sind sich bewusst, wie das intellektuelle Milieu über ihre Klasse denkt. Gleichzeitig disziplinieren sie sich selbst, nicht als Arbeiter:innen wahrgenommen zu werden. So kann die Scham doppelt gelesen werden: Zum einen wird sich davor geschämt, die eigene Familie zurückgelassen zu haben, um sich in der neuen Umgebung zu assimilieren, womit gleichzeitig eine Komplizenschaft mit der urteilenden Herrschaft eingegangen wird, und andererseits wird sich der eigenen Herkunft geschämt, da man sich der Urteile, die über einen getroffen werden, bewusst ist. (vgl. Thieme 2024, S. 43 f.) Das Empfinden von Scham verweist somit auf eine hierarchisch in Klassen strukturierte Gesellschaft und gleichzeitig ermöglicht dieses Gefühl einen Zugang zur Gesellschaftskritik. Dafür muss allerdings erst einmal das vereinzelnde Denken, dass niemand die gleiche Scham empfindet, überwunden werden und somit auch die Privatisierung der eigenen Existenz (ebd., S. 52). Thieme verweist darauf, dass die Scham, welche von Klassenflüchtenden gefühlt wird, durch institutionelle und strukturelle Mechanismen der Gesellschaft hervorgerufen wird, welche keinesfalls nur vereinzelte Individuen treffen (ebd., S. 14).
Um diese Urteile greifbarer zu machen, zieht Thieme die Parallele zu Kafkas Der Prozess und die Absurdität des gegen Josef K. geführten Gerichtsprozesses. Josef K. begibt sich selbst zum Gericht, um zu erfahren, warum ihm der Prozess gemacht werden soll. Genauso versucht sich Eribon unter dem Standard des Bildungsbürgertums zu assimilieren und erfährt am eigenen Leibe, wie die Institutionen des Bildungswesens die Urteile und somit auch die gesellschaftliche Ordnung aufrechterhalten (ebd., S. 59). Mit dem Versuch der Assimilation unterwirft sich Eribon als Arbeiterkind, durch die Negierung seiner Herkunft, freiwillig den Urteilen, welche die gesellschaftliche Ordnung ausmachen. Denn diese Ordnung konstituiert sich durch die Gesamtheit der Urteilssprüche und deren unausgesetzte Wiederholung und Erneuerung. Er nimmt Teil an einem System, welches gegen ihn arbeitet. Um aus diesem System auszutreten, muss eine kulturelle Desidentifikation vorgenommen werden (ebd., S. 71). Ein Punkt wird dabei besonders betont: Die Klassenflucht vollzieht sich als exklusive Disjunktion: Die Möglichkeit Arbeiter:in und Intellektuelle:r zu sein besteht nicht. Jedenfalls wird dies so durch die gesellschaftlichen Urteile suggeriert. Doch diese Ordnung ist nicht notwendigerweise so, sondern kontingent (vgl. Foucault 2005, S. 222). Um die von der Scham ermöglichte Kritik in die Praxis umzusetzen, muss sich bewusst gemacht werden, dass sich eine Norm immer durch Abweichungen von ihr definiert. So kann eine mögliche Gegenkultur nicht aus einem kulturellen Vakuum entstehen, sondern ist durch ihre Opposition an den Mainstream gebunden. Es besteht eine Möglichkeit der Veränderung durch die Nichthinnahme der gefällten Urteile, des Widerstandes gegen diese und konkret im Falle der Klassenflucht: der unterlassenen Negierung des eigenen Ichs. Denn es ist sehr wohl möglich, Arbeiter:in und Intellektuelle:n in einer Person zu vereinen. Das alte Ich muss nicht dem Neuen weichen. Menschen können eine Vielzahl an Facetten enthalten. Gerade deshalb ist es wichtig, verschiedene Stimmen und Perspektiven im öffentlichen Diskurs zu Wort kommen zu lassen und die Gegenbewegung nicht nur als gegen den Mainstream gerichtet zu sehen, sondern auch als etwas positiv Schöpferisches, das alleine stehen kann.
Mit diesem Optimismus über die Möglichkeit einer Veränderung des bestehenden Systems und den daraus folgenden konkreten Handlungsmöglichkeiten schließt Thieme seine Observationen über die Scham als Zugang zu gesellschaftlicher Kritik.
Rezensiertes Werk
Thieme, Maximilian (2024): Noch einmal zurück nach Reims. Beiträge zur Politisierung der Scham. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz.
Literaturverzeichnis
Alcoff, Linda Martín (2007): „Epistemologies of Ignorance: Three Types“. In: Race and Epistemologies of Ignorance. Hg. von Nancy Tuana u. Shannon Sullivan. New York: State University of New York Press. S. 39-57.
Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. von Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2005): „Ist es also wichtig, zu denken?“. Übers. von Michael Bischoff. In: Schriften in vier Bänden. Bd. IV: 1980-1988. Hg. von Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 219-223.
Medina, José (2013): The Epistemology of Resistance. Gender and Racial Oppression, Epistemic Injustice, and Resistant Imaginations. Oxford: Oxford University Press.
Autor:in: Amelie Uhlig, M.A., studierte Philosophie in Leipzig, Paris und Berlin. Jetzt arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin.
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