Rezension von Thérèse Gräffs: Bist du bei Sinnen oder philosophierst du noch? Die Logotherapie Viktor Frankls und der Wert der Sinnfrage (2024)
Hilmar Schmiedl-Neuburg
Y – Z Atop Denk 2024, 4(12), 1.
Abstract: Rezension von Thérèse Gräffs Bist du bei Sinnen oder philosophierst du noch? Die Logotherapie Viktor Frankls und der Wert der Sinnfrage (2024).
Keywords: Logotherapie, Existenzanalyse, Frankl, Phänomenologie, Scheler
Copyright: Hilmar Schmiedl-Neuburg | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.12.2024
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Die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls (1905-1997) ist eine der zentralen Schulen der existentiellen Therapie, in deren Mittelpunkt die Sinnausrichtung des Menschen, seine Freiheit und Verantwortung stehen.1 Sie wurde als dritte Wiener Richtung der Psychotherapie bezeichnet und stellte als existentielle Therapie im Unterschied zur Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers das Problem der Sinnlosigkeit und des existentiellen Leids und den korrespondieren Willen zum Sinn des Menschen in ihren Mittelpunkt.2
Thérèse Gräff unternimmt in ihrer Schrift Bist du bei Sinnen oder philosophierst du noch? Die Logotherapie Viktor Frankls und der Wert der Sinnfrage (2024), erschienen bei Traugott Bautz, den Versuch einer phänomenologischen und existenzphilosophischen Fundierung der franklschen Logotherapie und Existenzanalyse; ein Versuch, dem es nicht lediglich um eine Rekonstruktion historischer Beeinflussungsverhältnisse geht, sondern zum einen um eine systematische philosophische Verankerung und Fundierung der existentiellen Therapie Viktor Frankls in den phänomenologischen Diskursen des 20. Jahrhunderts, und zum anderen um die Möglichkeit, diese philosophischen Diskurse vermittels der Logotherapie lebens- und alltagspraktisch werden zu lassen.
In ihrer Einleitung skizziert Gräff dieses Anliegen der Arbeit sowie das grundsätzliche Projekt der Logotherapie vor dem Hintergrund der gegenwärtigen digitalen und kapitalistischen Gesellschaft und ihrer sie reflektierenden Diskurse und verweist neben dem individuellen auch auf das gesellschaftliche Potential der logotherapeutischen Perspektive.
Daran anschließend zeichnet Gräff, vor dem Hintergrund der nihilistischen und reduktionistischen Herausforderungen der Gegenwart und dem Problem der hieraus erwachsenden noogenen Neurosen, im ersten Teil „Logotherapie und Existenzanalyse: Eine erste Einfühlung“ ein konzises Porträt der Logotherapie und der Existenzanalyse, in welchem diese beiden Aspekte3 der franklschen Theorie und Therapie aneinander konturiert werden und, neben den Aufgaben und möglichen Anwendungsbereichen dieser existentiellen Therapieform, auch bereits das (alltags)phänomenologische Profil ihres therapeutischen Denkens und Vorgehens aufgezeigt wird. Die Analyse des logotherapeutischen Existenzbegriffs widmet sich dabei besonders seinen Verwebungen mit den Figuren der Transzendenz, der Freiheit und der Verantwortung, sowie den Fragen des Lebens, die dieses an den Menschen stellt.
Der zweite Teil „Körper, Psyche und Geist im Gespräch“ fokussiert sich, dabei die obigen Untersuchungen zur Existenz fortführend, auf philosophisch-anthropologische Fragen und zwar besonders auf die Untersuchung des Verhältnisses von Körper, Psyche und Geist in den philosophischen Anthropologien Viktor Frankls und des Phänomenologen Max Schelers (1874-1928), welcher Frankl in vielerlei Hinsicht beeinflusste. In einem ersten Schritt rekonstruiert Gräff eingehend und systematisch die sogenannte Dimensionalontologie der Logotherapie Frankls und vermisst in diesem Rahmen die differierenden Seinsdimensionen von Körper, Psyche und Geist, das Person-Sein, einschließlich der dem Geist eigenen, Freiheit fundierenden Vollzugsweisen der Selbstdistanzierung und der Selbsttranszendenz, ebenso wie den psychophysischen Parallelismus von Psyche und Körper und den psychophysisch-noetischen Antagonismus zwischen Psyche/Körper und Geist als auch die diese mannigfaltige Einheit des Menschseins beherrschenden Gesetzmäßigkeiten. Hieran schließt sich in einem zweiten Schritt eine detaillierte Analyse der philosophischen Wurzeln der franklschen Dimensionalontologie in der philosophischen Anthropologie Max Schelers, insbesondere in dessen Werk Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), an. Gräff skizziert hier Schelers vier Wesensstufen der organischen Welt, von der Stufe des Lebens und des Dranges bis hin zur Intelligenz, und kontrastiert diese mit dessen Auffassung des Geistes, der geistigen Person, die für Scheler diesem Psychophysikum entgegengesetzt ist.4 In einem Schlussabschnitt werden sodann Schelers Überlegungen zu den vier Wesensstufen und zu Geist und Person mit den entsprechenden Gedanken Frankls zum Psychophysikum, sowie zu Geist und Person, zu freiheitsgründender Weltoffenheit, Gegenstandsfähigkeit, Selbsttranszendenz und -distanzierung verglichen, die philosophische Fundierung und Verwurzelung der franklschen Überlegungen in der phänomenologisch-philosophischen Anthropologie Schelers herausgearbeitet und die Figur des Personseins aus den Perspektiven beider Denker beleuchtet.
Die folgenden beiden Teile fokussieren, nach diesen grundlegenden strukturellen und existentiell-anthropologischen Gedanken, die Praxis und das Handeln in der Logotherapie. Der dritte Teil „Die logotherapeutische Ethik“ konzentriert sich dazu auf die Rolle der Werte und des Sinns in der Logotherapie, als dem, was das Handeln orientiert und ausrichtet, und bei einer Arbeit an Werten und Sinn in der Therapie zu einer Neuausrichtung des Handelns und Lebens des Menschen führen kann. Nach einer Besprechung des ethischen Selbstverständnisses und der logotherapeutischen Auffassung von Sinn und Werten, dem Gewissen als dem Organ der Wertintuition und dem intuitiven Charakter des Guten analysiert Gräff die philosophische Gründung und Einbettung der franklschen Handlungstheorie, Werttheorie und Ethik. Im Vordergrund steht hier nochmals Frankls Rezeption der Philosophie Max Schelers, nun allerdings vornehmlich seiner materialen Wertethik5 einschließlich seiner zugehörigen phänomenologischen Überlegungen zur Rangordnung der Werte, ihrem urphänomenalen Charakter und zum Wertfühlen, etwa hinsichtlich der Wertfühlung in Schmerz und Leid und der Liebe als höchstem Wert. Diese Gedanken komplementierend und philosophisch einbettend, untersucht Gräff des Weiteren, mit einem abgrenzenden Seitenblick zu Immanuel Kant (1724-1804), eingehend die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Phänomenologien Max Schelers und Edmund Husserls (1859-1938) hinsichtlich ihrer Gedanken zur Wertnehmung, Wertfühlung und Wertphänomenologie, zum Korrelationsapriori von Noesis und Noemata und ihrer Auffassung der Intentionalität und der Transzendenz und verflicht diese mit den Gedanken Frankls zur Rolle der Werte und des Wertstrebens in der Logotherapie. Auf diese Weise erschließt Gräff auch die Wertphänomenologie Husserls als bis dato unerschlossenes Potential für die Logotherapie.
Der vierte Teil „Ein Dialog über die Freiheit“ setzt mit einem existenzphilosophischen Schwerpunkt auf der Thematik der Freiheit und einem erneuten Anschluss an Husserl diese ethischen Überlegungen fort. Nach einer Skizze der logotherapeutischen Auffassung von Freiheit als einer Freiheit von Bedingtheiten und einer Freiheit für Sinn- und Wertverwirklichung folgt eine Analyse der phänomenologischen Methode des Freiwerdens und der Rolle der Freiheit in der Phänomenologie Husserls, in deren Rahmen, mit Seitenblicken auf Eugen Fink (1905-1975) und Martin Heidegger (1889-1976), die natürliche Einstellung, Weltglaube, Horizontwahrnehmung, Intentionalität und besonders die Epoché und deren Habitualisierung verhandelt werden. Die Kontrastierung und der Dialog der Gedanken Husserls und anderer phänomenologischer und existenzphilosophischer Denker mit den entsprechenden logotherapeutischen Auffassungen Frankls zu Determiniertheit und Freiheit, zu Perspektivität und leiblicher Positionierung, zu Verantwortung und Epoché, zu Vernünftigkeit und Irrationalität sind dabei in die Analyse der husserlschen Überlegungen integriert. Ein dritter Abschnitt unternimmt es sodann, die phänomenologische Epoché existentiell für die Alltagspraxis fruchtbar zu machen, indem mit Hilfe Edith Steins (1891-1942) die Phänomenologie und die logotherapeutischen Gedanken Frankls weiter verflochten und die Bedeutung der Habitualisierung des Ungewohnten und der Verantwortung des Menschen thematisiert werden.
Der fünfte Teil „Über Beziehung zu Anderen“ öffnet nun die obigen existenzphilosophischen Untersuchungen philosophisch und therapeutisch zum Anderen der zwischenmenschlichen Begegnung wie der therapeutischen Beziehung hin. Im ersten Abschnitt behandelt Gräff die logotherapeutischen Grundgedanken zur Haltung der Begegnung und zur personalen Begegnung im Zwischen von Ich und Anderen und lotet die zentrale Bedeutung der Dimension des Geistes für diese aus. Eine besondere Aufmerksamkeit kommt in diesem Kontext der Person, der Liebe, der Öffnung und der Selbsttranszendenz zu. Diese Untersuchungen werden dann im nächsten Schritt, nach einigen einführenden und vergleichenden Hinweisen zu dem Existenzphilosophen Karl Jaspers (1883-1969), mit der Dialogphilosophie Martin Bubers (1878-1965) in ein Gespräch gebracht, indem dessen Einsichten zur Ich-Es- und, kontrastiv, zur Ich-Du-Beziehung, zum Zwischen, zur Andersheit sowie zur Unmittelbarkeit und zeitlichen Gegenwärtigkeit der Ich-Du-Beziehung analysiert und mit Frankls logotherapeutischen Gedanken zu personaler Begegnung und therapeutischer Beziehung verflochten werden. Eine besondere Aufmerksamkeit finden in diesem Kontext schließlich auch Frankls Überlegungen zur Liebe, welche aus seinen begegnungs- und beziehungsphänomenologischen Gedanken erwachsen. Diese Analysen werden durch weitere phänomenologische Überlegungen zur Alteritätsphilosophie Emmanuel Lévinas' (1906-1995) und zu Kitarō Nishidas (1870-1945) reiner Erfahrung ergänzt, die mit Bubers Ich-Du-Beziehung verglichen werden. Abschließend führt Gräff in einem weiteren Abschnitt unter dem Gesichtspunkt des intersubjektiven Ethos des Ausklammerns und anhand einer Rekonstruktion der praktischen Epoché bei Natalie Depraz (1964-), die Gedanken der letzten beiden Teile zu Freiheit, Epoché und zwischenmenschlicher Begegnung zusammen und weist diese in ihrer Fruchtbarkeit für die Logotherapie ebenso wie für lebensweltlich-praktische ethisch-relationale und politische Problemstellungen auf.
Die Arbeit wird von einem die Bedeutung des Werks Viktor Frankls und dessen Akzentuierung des Willens zum Sinn, der Trotzmacht des Geistes, der Freiheit, der Begegnung und der Verantwortlichkeit betonenden Schlusswort zusammengefasst und beschlossen.
Die dergestalt in die Tiefe der franklschen Logotherapie und ihrer phänomenologischen, existenzphilosophischen und philosophisch-anthropologischen Verwandten gehende Schrift Gräffs zeichnet sich in vielerlei Hinsicht aus, zuvörderst durch ihr bedeutsames Anliegen einer systematischen philosophischen Fundierung der franklschen Logotherapie und Existenzanalyse in den phänomenologischen Diskursen des 20. Jahrhunderts, und die dadurch eröffnete Möglichkeit, diese philosophischen Diskurse vermittels der Logotherapie individuell lebens- und alltagspraktisch und, so vermittelt, auch gesellschaftlich wirksam werden zu lassen. Kritisch besonders hervorzuheben sind in diesem Projekt die zuverlässigen, sehr kenntnisreichen, systematisch klaren Analysen und Rekonstruktionen nicht nur der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls selbst, sondern auch der komplexen philosophischen Gedanken Max Schelers, Edmund Husserls, Edith Steins, Martin Bubers, Karl Jaspers', Emmanuel Lévinas', Kitarō Nishidas, Natalie Depraz', aber auch Gilles Deleuzes, Eugen Finks, Martin Heideggers, Jan Patočkas, Erich Fromms, Nicolai Hartmanns, Alfried Längles et al., wobei Gräff sich wohl bewandert in der für diese Fragen und Denker relevanten Forschungsliteratur erweist. Bestechend ist in diesem Zusammenhang besonders die Vielzahl der hinzugezogenen philosophischen Gesprächspartner, wobei die Breite dieser Rezeption durch die Tiefe der philosophischen Durchdringung der einzelnen Ansätze trefflich ergänzt wird. Ebenfalls gekonnt, einsichtsvoll und kenntnisreich gelingt Gräff die Vergleichung und Verflechtung dieser verschiedenen Ansätze miteinander zum Zwecke einer philosophischen Fundierung der Logotherapie; ein Unterfangen, das durch die Klarheit des Stils, die sinnvolle methodische Vorgehensweise und die konsequente Gliederung der Schrift weiter unterstützt wird. Sie vollbringt es in ihrer Arbeit auf vorzügliche Weise, ihr Vorhaben, die existenzphilosophisch-phänomenologischen Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse auszuloten und zu vermessen, einzulösen. Mit dieser interdisziplinären Grundlagenarbeit leistet Gräff so einen wichtigen Beitrag zur philosophischen und besonders phänomenologischen Fundierung logotherapeutischen wie insgesamt existentialtherapeutischen Arbeitens und darüberhinaus erhält auch die philosophische phänomenologische Forschung durch diesen Dialog mit klinisch-therapeutischen Fragestellungen neue, wertvolle Impulse.6
1 Bei den anderen drei existentiellen Therapieschulen handelt es sich um die Daseinsanalyse nach Medard Boss und Ludwig Binswanger, die britische Existential Therapy nach Emmy van Deurzen und die amerikanische Existential Analysis und Existential-Humanistic Therapy nach Rollo May, James Bugenthal und Irvin Yalom. Die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls selbst wurde besonders von Elisabeth Lukas in Frankls Sinne fortgeführt und von Alfried Längle mit neuen Akzenten und Gedanken weiterentwickelt.
2 Zu den Hauptwerken Viktor Frankls zählen Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse (1946), … trotzdem Ja zum Leben sagen (1946), Der unbewusste Gott: Psychotherapie und Religion (1948), Theorie und Therapie der Neurosen. Einführung in Logotherapie und Existenzanalyse (1956), Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie (1972), Das Leiden am sinnlosen Leben (1978), Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn (1979), Die Sinnfrage in der Psychotherapie (1981), Logotherapie und Existenzanalyse (1987).
3 Die Existenzanalyse Frankls untersucht vor dem Hintergrund philosophischer Anthropologie und existenzphilosophischer Existenzverständnisse die spezifische Seinsart des Menschen und seiner Dimensionen von Körper und Psyche sowie Geist, während seine Logotherapie die sich in der Existenzanalyse zeigendeSinnorientierung und Freiheit des menschlichen Geistes therapeutisch zur Heilung des noogenen Leidens des Menschen an der Sinnlosigkeit nutzt.
4 Frankl vertritt die interessante Auffassung einer Einheit von Körper und Psyche, die er Psychophysikum nennt, setzt diesem dann aber den von der Psyche unterschiedenen Geist des Menschen als Widerpart entgegen. Dies ist auch der Grund, da die Logotherapie therapeutisch am Geist und dessen Sinnorientierung unddamit am λόγος ansetzt, weswegen Frankl von Logotherapie und nicht von Psychotherapie spricht.
5 Vgl. hierzu Max Schelers Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik: Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus (1913/1916).
6 Abschließend sei bemerkt, dass Gräff in ihrer Schrift 12 Abbildungen verschiedener ihrer eigenen, zumeist abstrakten, malerischen Kunstwerke, hptsl. Acryl, Lack oder Aquarell auf Leinwand, integriert hat, welche den Text ebenso anregend wie stimmig komplementieren
Rezensiertes Werk
Gräff, Thérèse (2024): Bist du bei Sinnen oder philosophierst du noch? Die Logotherapie Viktor Frankls und der Wert der Sinnfrage. (Reihe: libri virides). Nordhausen: Verlag Traugott Bautz. 205 Seiten.
Autor:in: PD Dr. Hilmar Schmiedl-Neuburg, ist Privatdozent am Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Faculty am Department of Philosophy der University of Massachusetts Boston. Zu seinen beruflichen Stationen gehören Vertretungsprofessuren, Gastdozenturen und Fellowships in Kiel, Hamburg, Wien, Berlin, Prag, Boston und Harvard in den Gebieten Philosophie bzw. Psychotherapie. Er ist Dozent am John-Rittmeister-Institut für Psychoanalyse, Kiel, und Gestalttherapeut in freier Praxis.
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