Eine philosophische Analyse

Interview mit Thomas Polednitschek

Y – Z Atop Denk 2021, 1(10), 10.

Abstract: Interview mit Thomas Polednitschek durch Birgit Ehrenberg über Corona, die gesellschaftliche Krise und den beschädigten europäischen Traum von der Freiheit.

Veröffentlicht: 18.10.2021

Artikel als Download: pdfDer beschädigte europäische Traum von der Freiheit

 

Y: Lieber Herr Dr. Polednitschek, ich möchte mit Ihnen als Philosophischem Praktiker über die gesellschaftliche Krise sprechen, die Corona ausgelöst hat. Man kann regelrecht von einer Spaltung der Gesellschaft reden, wir befinden uns nahezu in einem Krieg der Ideologien. In diesem Zusammenhang sind vor allem die sogenannten „Querdenker“ zu nennen. Meine unmittelbare Assoziation dazu: Quer denken, anders denken, neu denken, das erscheint mir auf den ersten Blick als nichts Negatives. Ist es auch nicht. Ich habe mich über die Genese des Begriffs belesen: Der Kognitionswissenschaftler Edward de Bono hat 1967 die Bezeichnung „laterales Denken“ geprägt, auch nichtlineares Denken genannt. Daraus wurde umgangssprachlich Querdenken oder um die Ecke denken. Der von Ihnen so geschätzte Joseph Beuys hat gesagt „ich denke sowieso mit dem Knie“. Das passt dazu. Alternative Modi dessen, was wir klassischer-weise unter Denken verstehen, sind nicht per se gefährlich. Wann wird ein Denken, das anders ist, zur Gefahr?

Polednitschek: Vielleicht darf ich – sehr verkürzt – zunächst mit einem Sprachbild sagen, was für mich „Philosophische Praxis“ ist: Philosophische Praxis verwandelt den Nektar der philosophischen Tradition in Honig für ihre Gäste. Ich denke dabei an den von mir in der Tat sehr geschätzten Joseph Beuys, bei dem auf einer Blechdose zu lesen ist: „Gib mir Honig“. Der von Ihnen zitierte Satz macht Beuys für mich nicht zu einem „Querdenker“, sondern zu einem Denker, der schon in der Mitte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begriffen hat, dass das Kernproblem in der reflexiven Moderne nicht die unterdrückte, sondern die gelähmte Freiheit ist und sich deshalb vor allem für ein Denken stark gemacht hat, das Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts wieder in Bewegung setzt. Dies leistet für ihn nicht die spätmoderne Rationalität, sondern das Denken, das das „Knie“ erreicht.

Y: Was ist das Gefährliche an der Querdenker-Bewegung, wie sie die Corona-Krise hervorgebracht hat?

Polednitschek: Ich unterscheide seit einigen Jahren zwischen der „implosiven“ und der „explosiven Entpolitisierung“ in unserer postpolitischen Spätmoderne. Die Querdenker-Bewegung ist für mich darum eine weitere Facette der tendenziell gewaltbereiten explosiven Entpolitisierung, deren Kennzeichen es ist, dass das Ressentiment die Rationalität ablöst. Das Gefährliche an ihr ist, dass sie aus Gegnern Feinde macht. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen der spätmodernen Entpolitisierung ist der beschädigte europäische Traum von der Freiheit. Wenn der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin am Anfang dieses Jahrhunderts behauptet hat, dass im kulturellen Westen des 21. Jahrhunderts der europäische Traum von der Freiheit eine Zukunft hat, weil Freiheit hier mit dem zu tun hat, was er „Eingebundensein“ nennt und nicht der amerikanische Traum, der Freiheit mit „Unabhängigkeit“ gleichsetzt, dann muss ich als Philosophischer Praktiker sagen, dass 2021 in unserer Gesellschaft an die Stelle des „eingebundenen“ Subjekts flächendeckend das atomisierte und autarke , d. h. abgeschottete Individuum getreten ist. Ihm fehlt vielfach die „Freiheit der Ansprechbarkeit“, wie sie Jüngel bestimmt hat. Kurz: Ich spreche von dem spätmodernen Bourgeois. Er ist die Gegenfigur zu dem Citoyen, das ist der von Rousseau gedachte mündige Bürger unserer Zivilgesellschaft, für den die von mir vertretene Philosophische Praxis eintritt.

Y: Was ist für Sie das „klassische Denken“?

Polednitschek: Das „klassische Denken“ ist für mich als Philosophischer Praktiker das Denken, dessen „Begriffsperson“, ich beziehe mich hier auf Deleuze und Guattari, der Freund ist. Von diesem Denken lebt seit dem antiken Griechenland die Philosophie. Beispiel für einen Denker, der sich für dieses Denken in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts stark gemacht hat, ist zweifellos Joseph Beuys, an dessen 100. Geburtstag in diesem Jahr vielerorts erinnert wird. Nur spricht Beuys nicht vom „Freund“, sondern von dem „Künstler“, ohne den es keine „soziale Plastik“ gibt. Diese soziale Plastik gibt es für ihn da, wo der Ursprungsort des Denkens der „Wärmepol“ ist, der für ihn zum Bewegungsprinzip des Denkens wird. Mit dem Wärmepol des Denkens etabliert Beuys in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neue „Immanenzebene“ des Denkens, die – so Deleuze und Guattari – der spätmoderne Rationalismus nicht mehr kennt. Ich könnte auch mit Deleuze und Guattari sagen: Der spätmoderne Rationalismus kennt nicht den dem Denken immanenten, vorbegrifflichen „Logos“, der der Begriffsbildung eine Richtung gibt. Eben dieser Logos setzt bei Beuys das gelähmte Seelenleben in Bewegung. Der irrationale Hass treibt die „beschädigten“ Menschen an, die vom „Wärmepol“ des Denkens vollständig abgeschnitten sind! Mit Beuys wird verstehbar: Der Hass ist keine Sache der Gefühlsverrohung, sondern des beschädigten Denkens.

Y: Wie denken Querdenker? Kann man das, was in ihnen vorgeht überhaupt „Denken“ nennen?

Polednitschek: Das Denken der Querdenker ist kein Denken, weil Denken für mich als Philosophischer Praktiker – in Anlehnung an Habermas – das „kommunikative Handeln“ ist, das die Verständigung sucht. Querdenker stehen dagegen für den Abbruch der kommunikativen Verständigung, weil bei ihnen die Ansprechbarkeit durch die Aggression ersetzt wird. Es ist die Feindlichkeit, die das Denken der Querdenker korrumpiert. Man könnte auch von dem Ressentiment sprechen oder von dem offenen Hass des „verriegelten“ Individuums, der an die Stelle der Wut tritt, wie sie das politisch denkende und handelnde Subjekt empfindet, das politische Gegner kennt, aber keine Feinde, die vernichtet werden sollen. Meiner 37-jährigen beruflichen Erfahrung nach hat der Hass in den letzten Jahrzehnten immer mehr die Wut abgelöst und dies ist kein Zufall. Denn wütend wird das Subjekt, das getrennt von den anderen untrennbar mit den anderen verbunden ist, wie es Petra von Morstein beschrieben hat. Wütend sind z. B. die Gewerkschafter, die gegen eine drohende Betriebsschließung gemeinsam auf die Straße gehen. Voller Hass ist dagegen das entpolitisierte Individuum, für das gerade nicht mehr der „Bezug“ existiert, der für Hannah Arendt das Proprium des Politischen ausmacht. Bei den Querdenkern tritt an die Stelle des in einen sozialen oder politischen Körper eingebundenen Subjekts das entpolitisierte Ego, das keinen Ort mehr hat, wo seine eigenen Interessen in ein Kollektivinteresse transformiert werden. Das kann man schon bei Arendt nachlesen in ihrem „Klassiker“ Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.

Y: Waltet bei den Querdenkern denn eine Vernunft, wenn auch eine krude? Die Querdenker verbreiten Verschwörungstheorien, das mutet an, als gäbe es hier zumindest eine Theorie.

Polednitschek: Die sogenannten Querdenker sind für mich der Spiegel einer „großen Regression“ im kulturellen Westen, durch die der erreichte Stand von Freiheit und Vernunft rückgängig gemacht wird. An die Stelle der diskursiven Vernunft treten bei ihnen Verschwörungserzählungen, die im Gegensatz zu Theorien keine intelligible Dignität besitzen. Mit ihren Verschwörungserzählungen unterstellen sie allerdings sich selbst eine Einsicht, die sich der diskursiven Vernunft verschließt. Die Freiheit handlungsstarker und – wie ich hinzufügen möchte – kooperativer Subjekte, Isaiah Berlins „positive Freiheit“, regrediert bei den Querdenkern zu der beschädigten Freiheit subjektmüder Egos, deren Kennzeichen es ist, dass eben der Hass die Wut abgelöst hat. Was die „Subjektmüdigkeit“ betrifft: Dazu sind für mich immer noch die brillanten Minima Moralia von Adorno das unübertroffene Buch. In Adornos Ethik ist das leere Zentrum das im Faschismus und spätmodernen Kapitalismus liquidierte Subjekt, das zu dem subjektmüden Ego unserer Tage in eine bedrückende Nähe rückt.

Y: Warum kommen so viele Querdenker aus der Anthroposophie?

Polednitschek: Vielleicht sind anthroposophisch orientierte Menschen deshalb gefährdet, weil die Anthroposophie – auf das Ganze gesehen – für ein gnostizierendes Denken steht, für das die „höhere Einsicht“ mehr zählt als die diskursive Vernunft. Wo sich das „esoterische“ Denken als Wahrnehmungsorgan gegenüber dem Denken als Reflexionsorgan verselbstständigt, ist dieses Denken nicht ungefährdet, sich irrationalen Verschwörungserzählungen anzuschließen. Auch Beuys favorisiert das Denken als Wahrnehmungsorgan, aber für ihn nicht als exklusives Erkenntnisorgan, sondern als Korrektiv und Kompensation einer spätmodernen Rationalität, die die Reflexion, das Nachdenken, mit dem Denken gleichsetzt. Die von mir vertretene Philosophische Praxis unterscheidet sich von der Philosophie als Wissenschaft, weil sie ihren Gästen nicht wie die diskursive Vernunft der akademischen Philosophie vorrangig als Argumentationssubjekt begegnet, sondern als die Person, die mit allen Lebensäußerungen und Handlungen ein Gesprächspartner ist. Für die Begegnung von Person zu Person im dialogischen Denken ist in meiner Philosophischen Praxis die „auditive Vernunft“ das Wahrnehmungsorgan. Dieser Vernunft entspricht bei Heidegger das „Vernehmen“.

Y: Mir kommt es vor, als wären Querdenker persönlich beleidigt, dass gerade sie von der Pandemie und ihren Folgen betroffen sind, dass sie nicht mehr alles tun können, was sie tun wollen und in ihrem Radius eingeschränkt sind. Das ist doch wie eine narzisstische Kränkung – oder?

Polednitschek: Das ist jetzt eine psychologische Betrachtungsweise, die ich als Philosophischer Praktiker nicht so gern einnehmen möchte. Wie gesagt: Für mich kommt bei den Querdenkern vielmehr die explosive Entpolitisierung des spätmodernen Bourgeois zum Zuge, welche sich einem Ressentiment verdankt, das vor allem das staatliche Handeln von vornherein unter Verdacht stellt. Stichwort: „Merkel-Diktatur“.

Y: Es ist vor allem die Freiheit, die die Querdenker einfordern. Was für eine Vorstellung von Freiheit haben Querdenker?

Polednitschek: Ich habe den Eindruck, dass in unseren Tagen die Freiheit vor allem mit dem zur Verfügung stehenden individuellen Freiraum verwechselt wird. Dem entspricht die sog. „negative Freiheit“, wie sie bei Isaiah Berlin von der „positiven Freiheit“ unterschieden wird. „Negative Freiheit“ meint hier: ohne die Einmischung „von außen“, die den zur Verfügung stehenden eigenen Freiraum liquidiert. Querdenker können in den staatlich verordneten Einschränkungen ihrer Freizügigkeit in der Corona-Pandemie nur den staatlichen Zwang erkennen, der ihre jeweilige persönliche Freiheit dorthin zu reisen, wohin sie wollen, durch Einmischung „von außen“ unzulässig verhindert. Sie sind „rebellisch“ und wollen die Befreiung von diesem Zwang. Das unterscheidet diese Rebellen – auch hier finde ich Hannah Arendt wichtig! – allemal von dem Revoutionär, dem es nicht – wie bei den Querdenkern – um die Befreiung von unterstellter staatlicher Repression geht, sondern um die neue Freiheit, die es davor nicht gab. Beispiel ist sicherlich die Französische Revolution. Die öffentlich lautstark auftretenden Querdenker aus dem Jahr 2021 sind Menschen, die ihre Rebellion mit dem Querdenken verwechseln und – auf eine abstoßende Weise – ihren Aufstand mit dem Widerstand im Nationalsozialismus gleichsetzen.

Y: Was haben die Querdenker für ein Selbstverständnis von sich als Bürger?

Polednitschek: Die Querdenker erleben sich m. E. vor allem als die Bürger eines autoritären Staates, dessen Opfer sie sind. Insofern sind sie die Staatsbürger, die sich gerade von dem Bürger unserer Zivilgesellschaft unterscheiden, die sich die öffentlichen Angelegenheiten zu ihrem persönlichen Anliegen machen. Dabei scheuen sich Querdenker offensichtlich nicht, wie ein „Wolf im Schafspelz“ aufzutreten. Dies hat sich jetzt bei der Flutkatastrophe in Westdeutschland gezeigt. Hier gaben sie sich als Bürger unserer Zivilgesellschaft aus, um so Mitmenschen in Not auf ihre Seite zu ziehen. Dies ist ihnen offensichtlich nicht gelungen.

Y: Welche Vorstellung vom Staat?

Polednitschek: Querdenker sind mit einem starken antietatistischen Affekt ausgestattet. Der Staat ist für sie eine Zwangsjacke, die sie abwerfen möchten. Wie gesagt: Auffällig ist, dass Querdenker in den staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie keinerlei gute Gründe erkennen können, sondern von der „Hermeneutik des Verdachts“ vollständig „besetzt“ sind. Für mich ist hier – letztinstanzlich – ein gnostizierendes Denken wirksam, das schon in der Spätantike zwischen den „Mächten der Finsternis“ und den „Kindern des Lichts“ unterscheidet. Darum tauchen Angela Merkel und der Virologe Christian Drosten auf einer Demonstration mit Querdenkern – unerträglich – in Sträflingskleidern auf! Menschen, die sich von der diskursiven Vernunft verabschiedet haben und allein irrationalen Verschwörungserzählungen folgen, reklamieren für sich – dem spätantiken Gnostiker nicht unähnlich – eine höhere Einsicht als diese den in ihren Augen von „den Medien“ korrumpierten Mitmenschen zur Verfügung steht. Schon Hans Jonas hat in seiner großartigen Studie über die spätantike Gnosis gezeigt, dass das Kennzeichen der Gnostiker die „Entpolitisierung“ ist, für mich allerdings eine „implosive Entpolitisierung“, die sie von der spätmodernen „explosiven Entpolitisierung“ deutlich unterscheidet.

Y: Mir ist aufgefallen, dass auch ganz normale Menschen, die ich wahrlich nicht als Querdenker bezeichnen würde, echte existenzielle Probleme damit haben, ein Jahr lang nicht durch die Weltgeschichte gurken zu können, nicht im Winter in den Bergen Ski zu fahren, nicht im Sommer im Süden zu brutzeln und auch auf Shopping-Touren in der Innenstadt verzichten zu müssen. Was ist los mit diesen Menschen? Die halten sich vielleicht an die Regeln, aber sie empören sich auch. Warum ist das für sie eine Krise, in ihrem eigenen Zimmer bleiben zu müssen? Mir kommt Blaise Pascal in den Sinn, er hat im 17. Jahrhundert gesagt, dass das ganze Unglück der Menschen allein daher rührt, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Was ist das Selbstverständnis von Menschen, für die Reisen und Kaufen wie ein echter Trieb sind? Ich reise und kaufe, also bin ich?

Polednitschek: Erstmal: Pascal kannte zweifellos noch nicht das Internet. Heute gilt das Gegenteil von dem, was er gesagt hat. Das ganze Unglück vieler Menschen ist, dass sie nur noch in ihrem Zimmer vor dem Rechner sitzen. Bei internetsüchtigen jungen Menschen schärft sich meiner Erfahrung nach dieses Problem noch einmal an! Bei der Begleitung von Gästen meiner Praxis in den letzten Jahren – auch und gerade während der Corona-Pandemie – habe ich deshalb immer wieder die Bedeutung des öffentlichen Raumes für die Psychohygiene zum Thema gemacht. Gerade Aristoteles ist da mein Bündnispartner gewesen. Der öffentliche Raum ist allerdings für das seelische Wohlbefinden nicht wichtig, wo er für den homo consumens nur der Marktplatz ist, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Dann: Viele Menschen verwechseln das unmittelbare Leben mit dem wahren Leben. Das ist m. E. der Grund für die trotzige Reiselust unserer Mitmenschen. Empörung ist da, wo das unmittelbare Leben nicht möglich ist, eine Reaktion, die der von Kindern nicht unähnlich ist. Philosophische Praxis setzt dagegen auf eine Unterbrechung des unmittelbaren Lebens, weil für sie die bewusste Lebensführung der „Seelenschlüssel“ zu einem guten Leben ist. Übrigens: Die Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren und wahren Leben verdanke ich Alain Badiou.

Y: Ist der Umgang mit Corona sinnbildlich dafür, wie wir als moderne Menschen generell mit Krisen umgehen?

Polednitschek: „Corona“ hat für mich als Philosophischer Praktiker vor allem sichtbar gemacht, was auch ohne „Corona“ schon galt: Das Thema vieler Menschen ist heute die Überforderung! Auf diese Überforderung reagieren Menschen entweder depressiv oder aggressiv, wie z. B. vor ein paar Monaten in den Niederlanden viele junge Menschen, die auf eine destruktive Weise auf der Straße unterwegs waren, um gegen die Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte im Zuge der Pandemiebekämpfung zu protestieren. Als ich vor 37 Jahren anfing, Menschen zu begleiten, war ihr Thema nicht die Überforderung, sondern deren verinnerlichte Unterdrückung in der einfachen Moderne. Sie verfügten noch über vormoderne „Restbestände“ der Religion und Tradition in ihrem Seelenleben, die für sie eine normative Bindewirkung hatten. Überfordert ist in der reflexiven Moderne das atomisierte und autarke Individuum des extremen Individualismus, dem die Bildung fehlt, die Menschen zu ich-starken Subjekten macht. Das Kennzeichen des gebildeten Menschen ist schon bei dem platonischen Sokrates die Festigkeit, die die „Schwingungsfähigkeit“ mitbringt, welche allemal der Härte fehlt.

Y: Was ist in Corona-Zeiten die größte Gefährdung für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Polednitschek: Erlauben Sie mir, dass ich Margaret Thatcher zitiere, die für die Durchsetzung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik steht: „And, you know, there's no such thing as society.“ Es bedarf für Thatcher nicht des Sinns für das soziale Ganze, weil es diese soziale Ganze gar nicht gibt. Was ich sagen möchte: In „Corona-Zeiten“ ist die größte Gefährdung unseres gesellschaftlichen Zusammenhangs, was auch ohne Corona in einer vom Neoliberalismus imprägnierten Gesellschaft den Zusammenhalt gefährdet: Eine Gesellschaft, wo vielfach in den letzten 40 Jahren der mögliche „Wärmecharakter im Denken“, wie Beuys ihn nennt, durch Masons „neoliberales Selbst“ und dessen erkalteten, je eigenen „Willen zur Macht“, den Nietzsche meint, abgelöst wurde. Das Kennzeichen der vom Willen zur entfesselten Selbstausdehnung korrumpierten Mitmenschen ist die nicht blockierte Aggressivität. Auf deutschen Autobahnen kann man diesem Mitmenschen besonders häufig begegnen.

Y: In was für einer Gesellschaft leben wir? Ich finde, wir leben in einer Art metaphysischer Obdachlosigkeit. Welche Rolle kann hier die Philosophische Praxis einnehmen? Welche Philosophen können uns an diesem Punkt der Geschichte der „Trost der Philosophie“ sein? Sie setzen auf Kant, auf seinen Begriff vom guten Willen und von der Tugend.

Polednitschek: Meine Erfahrung ist, dass das Thema meiner Mitmenschen nicht die von Ihnen angesprochene „metaphysische Obdachlosigkeit“ ist, sondern vielmehr eine von der geteilten Erinnerung entkoppelte Freiheit. Diese Menschen sind die Töchter und Söhne des objektiven Geistes einer Spätmoderne, die meint, ihrer eigenen Wurzeln nicht mehr zu bedürfen, wie eben des Erbes Jerusalems, dessen Eigenes für meinen Lehrer, den 2019 verstorbenen Religionsphilosophen Metz, die „anamnetische“, also „erinnerungsbegabte“ Vernunft ist. Es ist meine Erfahrung als Philosophischer Praktiker, dass es vor allem der Verlust eben dieser Vernunft ist, der es Menschen heute schwer macht, das Subjekt zu sein, das gleichursprünglich bei sich und beim anderen ist. Vielleicht ist dies der andere Name für Bildung: Erinnerung. Auf jeden Fall will die von mir vertretene Philosophische Praxis ihre Gäste im Interesse von deren Zukunftsfähigkeit immer wieder an die Inhalte des Kollektivgedächtnis unserer Kultur erinnern.

Y: Wie könnte das Konzept einer Corona-Ethik aussehen?

Polednitschek: Die von mir in der Pandemie gegenüber meinen Gästen stark gemachte Corona-Ethik basiert auf der Erfahrung mit den von mir während der Pandemie begleiteten Menschen. Meine Erfahrung ist, dass die Gäste weniger den emotionalen und mentalen Herausforderungen gewachsen und in dieser schwierigen Zeit mit den staatlichen Maßnahmen im Zuge der Pandemiebekämpfung tendenziell seelisch überfordert waren, die sich an Kants „habitus libertatis“ nur eingeschränkt anschließen konnten. Mit diesem Habitus meint Kant in meiner „Übersetzung“ als Praktiker die Charakter- oder Ich-Stärke, die er in seiner „Metaphysik der Sitten“ „Tugend“ nennt. Sie wird für Philosophische Praxis durch die Bildung erworben, die mit der Ausbildung des Menschen zum Menschen deckungsgleich ist. Für mich ist ein Beispiel für Kants „habitus libertatis“ die beeindruckende Hilfsbereitschaft bei der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und NRW, als sehr viele Menschen gehandelt haben – und die Opfer dieser Katastrophe nicht sich selbst überließen! Kants zur Haltung gewordene Freiheit ist die Ich-Stärke des Subjekts, das grundsätzlich auch als Bürger unserer Zivilgesellschaft im öffentlichen Raum Verantwortung übernimmt, weil es auch hier getrennt von den anderen untrennbar mit den anderen verbunden ist. Das atomisierte und autarke Ego unserer Tage ist das „ungebildete“ Individuum und die Herausforderung, vor der nicht nur Philosophische Praxis heute steht. Die Philosophische Praxis am Anfang des 21. Jahrhunderts ist die Alternative zu einer Psychotherapie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die eben die Bildung immer schon voraussetzte, die meiner Erfahrung nach 2021 nicht mehr vorausgesetzt werden kann.

Y: Was wird man in, sagen wir, zwei oder drei Generationen von dieser Pandemie-Zeit halten? Ich muss hier immer wieder an Brechts Gedicht An die Nachgeborenen denken, mit den Schlussversen: Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht. Aber vielleicht passt das eher zur Öko-Krise...

Polednitschek: Ich habe während der Corona-Pandemie den Eindruck gewonnen, dass diese Zeit von vielen Menschen in unserer Gesellschaft – trotz mancher Gegenerfahrung – mit viel Mut, Disziplin und Verantwortungsbewusstsein bewältigt worden ist. Das könnte in Erinnerung bleiben.

 

Die Fragen für Y stellte Birgit Ehrenberg.


 

Biographische Information

 Polednitschek

Thomas Polednitschek, geboren 1953, studierte Philosophie, Katholische Theologie und Psychologie in Bonn, Münster und München. Nach Promotion zum Dr. theol. bei J. B. Metz absolvierte er eine Ausbildung zum Philosophischen Praktiker bei Gerd B. Achenbach. Seit 1984 praktiziert er als (Psychologischer) Psychotherapeut, seit 2001 als Philosophischer Praktiker. Er lebt und arbeitet heute in Albersloh bei Münster. Foto: Privatbesitz.

  

 Ehrenberg

Birgit Ehrenberg, geboren 1962, ist studierte Philosophin und Literaturwissenschaftlerin und hat das Handwerk des Journalismus in der Axel-Springer-Akademie gelernt. Sie begleitet und unterstützt Menschen mit ihrer Expertise in existenziellen Fragen zur Liebe und ist seit vielen Jahren erfolgreiche Autorin von Texten und Büchern zum Thema. 2018 ist von ihr im Rowohlt Verlag das Buch Was passiert mit der Liebe, wenn der Partner zum Pflegefall wird? erschienen. Ab Wintersemester 2021/2022 unterrichtet sie als Lehrbeauftragte an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Soziale Arbeit und Journalismus. Foto: Raimar von Wienskowski.