Psychoanalytische Gedanken eines Zahnarztes

Rolf Steinberg

Y – Z Atop Denk 2024, 4(1), 3.

Abstract: Ungefähr 20 Prozent der Patient:innen in Zahnarztpraxen weisen psychische Probleme im Zusammenhang mit ihren Zähnen auf. In dem folgenden Artikel schildert ein Zahnmediziner seine Erfahrungen mit verschiedenen Bedeutungen der Zähne, insbesondere der Frontzähne und der Zahnfarbe und setzt diese Erfahrungen in einen psychoanalytischen, v.a. lacanianischen Kontext. Der Zahnverlust kann nicht nur als Kastration oder sogar Verstümmelung erlebt werden, sondern als primärer Verlust, im Grund als eine Aktualisierung des Verlustes von Objekt a. Entsprechend versuchen viele Patient:innen, diese Extraktion zu vermeiden oder leiden stark darunter. Als zweites Beispiel wird die Manipulation der Zahnfarbe als Versuch gesehen, subjektive Mängel im unbewussten Körperbild auszugleichen. Im Zusammenhang mit der Schönheitschirurgie wird die Dialektik von phantasmatischer Reparatur und der Unerträglichkeit des primordialen Verlustes hergestellt.

Keywords: Zahnmedizin, Kastration, Frontzähne, Zahnfarbe, Objekt a, unbewusstes Körperbild, Schönheitschirurgie

Veröffentlicht: 30.01.2024

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1. Psychische Probleme in der Zahnmedizin

Als Zahnarzt, der seit mittlerweile 36 Jahren praktiziert, ist es mir bestens vertraut, dass in der Zahnmedizin psychologische und psychosomatische Aspekte zum Alltag gehören. Ungefähr jeder fünfte Patient in der Zahnarztpraxis leidet an psychischen Problemen, die sich im Zusammenhang mit Zahnproblemen äußern (Schmiedel 2014, o.S.). Das betrifft nicht nur die gemeinhin bekannte Angst vor dem Zahnarzt, der in einer unkontrollierbaren und furchteinflößenden Weise Schmerzen bereiten könnte, oder dessen Geräte und Hände in den Mund von sexuell traumatisierten Patient:innen eindringen. Ich denke auch an die Zahnschmerzen am sogenannten „gesunden“ Zahn, der also kein Loch oder Defekt hat, ich denke an das Gefühl des Zungenbrennens, das vielleicht konversionsneurotische Ursachen hat oder an das nächtliche Zähneknirschen (Bruxismus) als Ausdruck von Angst oder Ärger. Als ätiologisch bedeutsame psychologische Faktoren werden auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Perfektionismus angenommen. Hier sind die Zähne tatsächlich ein „Spiegelbild der Seele“, wie es in einer wehrmedizinischen Fachzeitschrift heißt (Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2009/2, o.S.). Die physiologischen Folgen dieser psychosomatischen, durch die Abfuhr von negativen Affekten entstehenden Krankheit beschreibt Schmiedel folgendermaßen:

„Die beim Bruxismus auftretenden Maximalkräfte von 300 bis 400 Kilogramm pro Quadratzentimeter allein reichen schon aus, um die Zähne, den Zahnhalteapparat und die beteiligten knöchernen Strukturen wie z. B. die Kiefergelenke dauerhaft zu schädigen. Eine damit oft einhergehende reduzierte Speichelproduktion bei Stresspatienten mit der Folge einer Verschiebung des ursprünglich neutralen pH-Wertes führt auf Dauer zur Kariesbildung, das bei diesem Personenkreis fehlende Immunglobulin A wird unter anderem für die Entstehung von Gingivitiden verantwortlich gemacht und der zeitgleiche Anstieg von Interleukin-1-Beta führt zu Knochenzerstörung und fördert somit in letzter Konsequenz die Entstehung von Parodontitis und Parodontose. Langjährige evidenzbasierte Studien belegen eindrucksvoll, dass eine solche Parodontose keine auf die Mundhöhle beschränkte Einzelerkrankung darstellt, sondern wechselseitig auch in anderen Bereichen des Körpers direkt oder indirekt zu krankhaften Veränderungen führen kann.“ (Schmiedel 2014, o.S.)

Aber auch die vermeintlich ‚normale‘ zahnmedizinische Behandlung ist ein Drahtseilakt. Der Patient kommt mit Schmerzen in die Behandlung, die er in den allermeisten Fällen durch mangelnde Pflege selbst verschuldet hat. Aus Angst vor einer schmerzhaften Behandlung hat er oder sie diesen Besuch möglichst lange herausgezögert – als klassisches Vermeidungsverhalten und ‚Vogel-Strauß-Politik‘. Erst heftige, nicht mehr zu negierende Schmerzen zwingen ihn zu dem Gang nach Canossa, in diesem Fall in die Zahnarztpraxis.

Möglicherweise spielt hier auch ein Phänomen eine Rolle, das der israelische Psychoanalytiker Durban als Angst vor dem „unmöglichen Objekt“ bezeichnet hat und welches ein Phänomen darstellt, das klinischerseits auch bei frühtraumatisierten Patient:innen mit einem Herzinfarkt beobachtet werden konnte (vgl. Durban 2018; Petersen et al. 2020). Der Zahnarzt wird zum „unmöglichen Objekt“, weil nicht nur die Schmerzen, sondern unbewussterweise ein traumatisierendes Verhalten befürchtet wird. So wurde beobachtet, dass diese sexuell, physisch oder emotional traumatisierten Patient:innen mit Herzinfarkt befürchteten, dass das Objekt gleichzeitig hilfreich und schädigend, ja sogar vernichtend sein könnte (so dass es vermieden werden muss, d.h. unmöglich wird). Hier kann die Situation auf dem Zahnarztstuhl tatsächlich als eine Reaktualisierung früher Traumata erlebt und deswegen vermieden werden – zum Nachteil des Zahnstatus. Überhaupt nicht selten, wird der Zahnarzt oder die Zahnärztin generell für die Quälerei der Behandlung verantwortlich gemacht und als Sadist erlebt, der Lust am Quälen empfinde. Dann findet sich der Zahnarzt plötzlich auf der bösen Seite, wenn Spaltungen im Rahmen einer „paranoidschizoiden Position“ denn schon stattfinden müssen, um andere, gute Objekte zu bewahren. Ich versuche mit diesen Streiflichtern zu verdeutlichen, dass das Spektrum vom frühen Trauma bis zur konversionsneurotischen, in diesem Sinne hysterischen Symptomatik reicht. Natürlich sind sehr viele Patienten auch in einen Vertrauensverlust gebracht worden durch die jahrelangen – ja, man muss sagen: Lügen, es tue nicht weh und die Behandlung sei gleich fertig. Diese beschönigenden Fehlinformationen wurden zwar in den achtziger Jahren aufgegeben. Aber auch heute noch wird von vielen Eltern die Angst vor dem Zahnarzt schon im frühen Kindesalter eingepflanzt. Die Kinder wissen noch gar nicht, was es für eine Situation ist, und schon wird diese mit einer über die Generationen tradierten Angst besetzt. Und so merkt man als Behandler, dass es oft zwei Stimmen sind, die aus den Patient:innen sprechen: Die eine, vernünftige Stimme sagt: „Die Behandlung muss sein, ich werde die Termine einhalten und mit einer Verbesserung der Situation zufrieden sein“. Die andere Stimme, die der Emotionen spricht: „Geh nicht zum Zahnarzt, so schlimm sind die Schmerzen noch nicht“ oder „Wahrscheinlich tut es schrecklich weh.“

 

2. Die Extraktion der Frontzähne: Kastration – Verstümmelung – Verlust

Ich möchte mich aber im Folgenden auf die Psychologie der Frontzähne konzentrieren: Es handelt sich im Grunde, analytisch gesprochen, um hochheikle Partialobjekte, die eine lange evolutionäre Geschichte haben, die sich für Verschiebungen aus verschiedenen, z.B. genitalen Regionen anbieten, zu einer Verstümmelung des Spiegelbildes führen und nicht zuletzt – darauf möchte ich hinaus – Substitute für verlorene Objekte sein können. Manchmal berichten mir Patient:innen über einen ganz bestimmten, wiederkehrenden Traum, der meistens dann auftritt, wenn sie sich in einer Situation der Schwäche befinden. Der Traum hat als Hauptmotiv, dass sie alle Frontzähne verloren hätten, und damit ihre ganze Aggression, ihre Vitalität, ihre Fähigkeit, sich zu wehren, verloren ging. Der tatsächliche, nicht geträumte und befürchtete Verlust, zeigt die Brisanz diese Träume. Der Verlust reißt eine Lücke in das phantasmatische Körperbild, die den Abgrund ins Reale eröffnet – wie der Schorf im Traum von Irmas Injektion, den Freud berichtete: Die Lücke ist wie der diphtherische Schorf – die Lücke ist das Reale, das den imaginären Schorf durchwirkt oder durchsetzt. Als weiteres Beispiel: Wiederholt habe ich die Erfahrung gemacht, dass Patient:innen, deren Frontzähne definitiv nicht mehr zu retten waren, unbedingt einen provisorischen Zahnersatz wünschten, damit keine Lücke im Gebiss sichtbar wird. Der Termin zur Extraktion wird dann verpasst und wieder und wieder verschoben. Im Extremfall wird dann noch eine Extraktion umgangen, wenn die erweichten Zähne abbrechen. Ich bin als Zahnarzt, wenn es um die Extraktion auch nur eines Frontzahnes geht, mittlerweile dazu übergegangen, keinen Termin mehr festzusetzen, sondern die Patient:innen zu bitten, selbst einen Termin zur Extraktion zu vereinbaren, wenn sie sich bereit dazu fühlen. Ich glaube, dass es auch außerordentlich sinnvoll ist, das subjektive Erleben, insbesondere das Gefühl der Depotenzierung (sozusagen der Kastration), der Verletzung und existentiellen Verstümmelung behutsam anzusprechen und vielleicht sogar eine psychologische Beratung oder Therapie zu empfehlen; gut möglich, dass in deren Verlauf die Sache mit der Lücke – oder, wie Lacan sagen würde, mit dem Loch – mit dem Loch im Symbolischen oder dem Loch des Realen – durchgearbeitet und besser verstanden werden kann (vgl. Nemitz 2013).

 

3. Die Zahnfarbe als Farbe des unbewussten Körperbildes

Aber es geht nicht nur um das Aufreißen einer Lücke, um Kastration und Verlust und Reaktualisierung des Verlustes, der ganz am Anfang der menschlichen Entwicklung steht, also um das, was Lacan in seinem Angst- Seminar den Verlust des Objekts a nannte (Lacan 2010, S. 267). Es geht auch um das Phantasma der Farbe, die dem Körperbild eigen ist. Wenn an einem Zahn eine Ecke abgebrochen ist und dieser Defekt im sichtbaren Bereich liegt, wird in der Regel sofort gefragt, ob dieser sich so restaurieren lasse, dass man den ästhetischen Eklat später nicht mehr sehen könne. Wenn nun eine kleine, minimale Differenz im Farbton erkennbar ist, sagen wir im Handspiegel, d.h. auf kürzestem Abstand, besteht oft die Angst der Patient:innen, dass dieser Defekt vom Gegenüber, und sei es auch aus einigen Metern Entfernung sofort erkannt werden könnte. Wenn eine sogenannte „Überkronung“ stattfinden soll, sind viele Patient:innen ohne weiteres bereit, finanziell dafür aufzukommen, dass ein Zahntechniker mit einer Kamera Aufnahmen der Ist-Situation macht und die entsprechenden Farbmuster nimmt, damit später bei der Modellierung der keramischen Masse die Farbe möglichst identisch mit der Farbe des ursprünglichen Originals ist. Es geht um den unbedingten Erhalt des unbewussten Körperbildes (vgl. Dolto 1985; Hamad 2020) im Sinne einer imaginären Vollkommenheit bzw. narzisstischen Unversehrtheit. Hier scheinen die Zähne privilegierte Partialobjekte zu sein, die für das gesamte Körperbild und dessen Intaktheit stehen. Es mag ja verständlich sein, dass das in der projektiven Vorstellung der Patient:innen taxierende, urteilende und verurteilende, sprich: entwertende Vis-à-vis über eine dunkle Stelle im Gebiss stolpern könnte. Aber nun habe ich sehr oft die Diskussion mit Patient:innen, die bei der Wahl der Zahnfarbe eine ein oder zwei Töne hellere Farbe wünschen. Natürlich versuche ich, von diesem Vorhaben abzuraten, weil sich sonst die Aufmerksamkeit gerade auf den unnatürlich hellen Zahnersatz richten würde. Aber ich erhalte dann Antworten wie: „Ich habe mir schon lange gewünscht, dass meine dunklen Zähne heller aussehen mögen – wie bei den Stars!“ – oder: „So habe ich doch besser die Chance, einen Mann kennenzulernen!“ – oder: „In meiner Jugend hatte ich nicht die Möglichkeit, aber nun habe ich das Geld, mir einen schönen Zahnersatz zu leisten. Eine oder zwei Kronen möchte ich mir heller machen zu lassen!“. Die Anklänge auf sexuelle Bezüge, das alte Spiel des Köders sind deutlich zu vernehmen. Es heißt, dass in manchen Kulturen helle, hellere, auch künstlich vergrößerte Frontzähne als Zeichen sexueller Attraktivität gelten. Und natürlich soll im Handspiegel das Ideal-Ich erscheinen, wenn die Patient:innen das ästhetische Ergebnis einer Behandlung zur Kenntnis nehmen wollen.

 

4. Das Phantasma der Zahnfarbe und der Verlust von Objekt a

Mit folgendem Beispiel, das in dieselbe Richtung geht, möchte ich meine Reflexionen beschließen: Eines Tages kam eine junge hübsche Patientin zu mir. Sie hatte absolut helle weiße Zähne. Wir arbeiten z.T. mit Farbskalen, die 72 Weißtöne unterscheiden, aber die Zähne dieser Patientin verfügten naturgegeben über den hellsten Weißton – sie waren ohne Makel. Die Patientin fragte mich, ob ich in der Lage sei, ihre Zähne durch Bleichen noch heller zu machen. Ich verneinte: Dies sei nicht möglich. Sie sagte, es sei wichtig für sie, noch hellere Zähne zu haben, um attraktiver zu sein. Sie zeigte sich enttäuscht von mir, stand auf und wechselte den Behandler. Ich denke, so werden Selbstunwertgefühle oder das Empfinden eines Mangels in eine Verbindung mit der Zahnfarbe gebracht, die letztendlich für die beschädigten Eigenschaften des unbewussten Körperbildes steht. Verkürzt gesagt: Die Farbe des unbewussten Körperbildes soll verändert werden, um den inneren, auf das Körperbild projizierten Mangel, also diese dunkle Stelle zu beheben. Ist diese dunkle Stelle nicht ein Phantasma des Realen, also der Lücke, des Verlustes von Objekt a, die ich bei der Extraktion der Frontalzähne angesprochen habe? Dann wäre die Aufhellung eine Art farbliche Abdichtung gegenüber der besagten Lücke, dem primordialen Verlust, der ganz am Anfang steht – und sich auf etwas bezieht (nämlich auf die imaginäre Einheit mit der Mutter), das in dieser Form nie vorhanden war.

Aber diese Suche ist wohl auch der Antrieb zu immer mehr und in der Anzahl übertriebenen Schönheitsoperationen oder dem Aufspritzen der Lippen mit Botox. Mit Argumenten lassen sich diese Patienten nicht zurückhalten und sehen manchmal nach viel zu vielen Eingriffen entstellt aus. Ihr Anblick vermittelt dann vielleicht einen Eindruck über die Tragödie des Verlustes, denen sie mit verzweifelten Maßnahmen auszugleichen versuchen.

 


Literaturverzeichnis

Dolto, Françoise (1985): Das unbewusste Bild des Körpers. Weinheim/Berlin: Quadriga.

Durban, J. (2018): „‚Dolor Perpetua‘ and the destruction of now: Trauma, time and impossible objects in early infancy“. Manuskript. Hamburg: Annual Conference of the German Psychoanalytic Society 30 Mai – 3. Juni 2018.

Hamad, Annemarie (2021): „Das unbewusste Körperbild. Eine Erfindung von Françoise Dolto in der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern“. In: Y – Zeitschrift für Atopisches Denken. https://www.ypsilon-psychoanalyse.de/lacaniana/44-francoisedolto-psychoanalytische-arbeit-mit-kindern?highlight=WyJkb2x0byJd [03.12.2024].

Lacan, Jacques (2010): Die Angst. Seminar, Buch X. Wien/Berlin: Turia + Kant.

Nemitz, Rolf (2013): „Das Symbol manifestiert sich als Mord am Ding“. In: Lacan entziffern. https://lacan-entziffern.de/todestrieb/das-symbol-manifestiert-sich-alsmord-am-ding-zur-genealogie-einer-metapher/ [26.11.2023].

Petersen, Anke, Ruettner, Barbara, Kaiser, Paul, Richardt, Gert u. Goetzmann, Lutz (2020): „‚Impossible objects‘ in a life-threatening crisis: A study of patients suffering from adverse childhood experiences and myocardial infarction“. In: International Journal of Applied Psychoanalytic Studies, S. 1–20.

Schmiedel, Wolfgang (2014): „Psychologie und Psychosomatik in der Zahn-Medizin: vom Kennen und Erkennen psychosomatischer Auffälligkeiten“. In: ZMKhttps://www.zmk-aktuell.de/fachgebiete/allgemeinezahnheilkunde/story/psychologie-und-psychosomatik-in-der-zahn-medizin-vomkennen-und-erkennen-psychosomatischer-auffaelligkeiten_997.html [26.11.2023].

o.N. (2009): „Die Zähne – das Spiegelbild der Psyche. Bruxismus als interdisziplinäre Herausforderung“. In: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 2009/2. https://wehrmed.de/zahnmedizin/die-zaehne-das-spiegelbild-der-psyche.html [03.01.2024].

 

Autor:in: Rolf Steinberg, Dr. med. dent., ist als Zahnarzt in Uetersen niedergelassen.