Das Lebenswerte inmitten der Katastrophe
Nico Graack
Y – Z Atop Denk 2024, 4(2), 3.
Abstract: Vor einiger Zeit wurde ich gefragt, wofür es sich denn angesichts von so viel Katastrophe noch zu leben lohnt. Wenn die Lage so schlimm ist, wie ich behaupte, wofür dann das Ganze? Ich möchte darauf noch einmal eine verspätete Antwort geben und dann kurz begründen, warum die Antwort völlig egal ist. Sich nicht der Hoffnung hinzugeben – wozu die Frage implizit auffordert – ist zumindest der Versuch, unter heutigen und kommenden Bedingungen handlungsfähig zu bleiben.
Keywords: Hoffnung, Faschismus, Klimakatastrophe, Krieg, Ideologiekritik, großer Anderer
Veröffentlicht: 29.02.2024
Artikel als Download: Die Sache mit der Hoffnung
Vor einiger Zeit gab ich mit dem IPPK in Berlin eine Lesung meines dort veröffentlichten Buches (Graack 2023). Ich fand mich schnell mehr schlecht als recht in der Rolle eines ‚Apostels der Katastrophe‘: Die Polykrise, an deren Kern die Klimakatastrophe wütet, sollte voll anerkannt werden. Was das genau bedeutet und wo man dieser Anerkennung in der Praxis und Theorie wie ausweicht – das war das zugrundeliegende Thema der sich anschließenden Diskussion. In der Rolle des Apostels musste natürlich jedes Zugeständnis, jede Hoffnung als Versöhnung mit dem Lauf der Katastrophe erscheinen. Die Lage kann nie als zu schlimm eingeschätzt werden. Das ist das erste Axiom der Hoffnungslosigkeit, für die ich in dieser Debatte das Wort ergriff. Darauf wurde mir die Frage gestellt, wofür es sich denn angesichts von so viel Katastrophe noch zu leben lohnt. Darauf möchte ich verspätet noch einmal antworten.
Aber zuerst zum Hintergrund. Die empirische Lage ist zweifelsohne auf unserer Seite. Am unmittelbaren Horizont unserer historischen Situation stehen Hunger, Krieg und Faschismus. Unter den zahlreichen Klima- und Umweltkatastrophen des Jahres 2023, von Ölkatastrophen vor den Philippinen, gigantischen Bränden über den Globus verteilt (das Symbolbild des Jahres: Die Freiheitsstatue New Yorks in dichten, gelben Rauch gehüllt), Jahrhundert-Flut in Libyen und zahlreichen Stürmen, wollen wir nur die nächstgelegenen herausgreifen: Die apokalyptischen Fluten in Slowenien und Griechenland.
In beiden Ländern sind große Flächen der Lebensmittelproduktion auf absehbare Zeit verloren. In Griechenland war vor allem die thessalische Ebene betroffen: „Hier wurden 70 Prozent der Zuckerrüben, über 50 Prozent der Birnen, Mandeln und Tomaten produziert. Ein Drittel des in Griechenland geernteten Weizens, der Hülsenfrüchte, der Baumwollernte sowie der Fleischproduktion kamen aus dieser Gegend.“ (Höhler 2023). Und da ist von Bränden noch keine Rede. Es braucht wenig Phantasie, um sich die Szenarien für ganz Europa bei heftiger werdenden Fluten vorzustellen.
Zeitgleich sitzt mein guter Freund Volodymyr bereits seit Monaten im Schützengraben. Völlig zerrüttet vom kürzlichen Verlust zweier Freunde leistet er absolut Unmenschliches, ohne Aussicht auf Urlaub, in Blut, Schlamm und Kälte, mit einer verzweifelt wartenden Ehefrau in Kyiv. Die Aussichten stehen auf Tod – das weiß er auch. Trump hat bereits unmissverständlich klargemacht, wohin der Wind weht, wenn er die Wahl gewinnt:
„Bei einem Treffen, erzählte Trump, sei er einst vom Präsidenten eines Nato-Staats, der nicht genug Geld für die Verteidigung ausgebe, gefragt worden, ob die USA ihn im Falle eines russischen Angriffs schützen würden. ‚Nein, ich würde euch nicht beschützen‘, habe Trump geantwortet, er würde Russland vielmehr ‚sogar dazu ermutigen, zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen.“ (Pickert 2024)
Der Kommandant der österreichischen Garde Markus Reisner hat in irgendeinem seiner unzähligen Auftritte gesagt, dass Russland mit Europa im Krieg sei – nur Europa wolle das nicht wahrhaben. Ohne die Unterstützung der USA wird der Oligarchen-Faschismus, die neue heilige Front gegen Schwulenrechte, Klimaschutz und anderen „Satanismus“, den NATO-Bündnisfall testen wollen. Bisher trennt uns davon ein weiteres faschistisches Wahlergebnis – und vor allem Ukrainer:innen wie Volodymyr, die auch für uns den Kopf hinhalten.
Über die Gefahren des Faschismus in Deutschland braucht man hier nicht viel zu sagen. Die Abkehr vom US-Imperialismus und die Übernahme des Vasallenstatus im neuen russischen Imperialismus wird dann schnell gehen. Schon in den allerersten Verhaftungswellen wird die aktive Klimabewegung draufgehen. Zumal jene, die sich auf das Fundamentalphantasma jedes Bezugs auf die menschliche Gemeinschaft stützen und sich darin eine vernünftige Vorbereitung verhindern: Das, was Lacan den „großen Anderen“ nennt. Die tiefsitzende Überzeugung, dass irgendwie irgendwo doch jemand den Überblick behält und es sich schon alles richten wird. Dieses „es“ – das ist der große Andere. Ihn in seinen vielen Facetten und an den unerwarteten Orten aufzuspüren ist die Aufgabe der Ideologiekritik. Eingangs begegnete er uns in der allgemeinen Gestalt der ‚Hoffnung‘.
Soviel also zum apokalyptischen Grundtonus der Lesung, ergänzt um einige neuere Entwicklungen, die die jeweils letzten als harmlos dastehen lassen. Nun wurde mir also diese Frage nach dem Lebenswerten gestellt. Damals beantwortete ich sie halbironisch – jedenfalls schlecht. Ich kann heute eine ganz einfache Antwort geben, wofür es sich zu leben lohnt: Für lange Nächte mit den Liebsten, in denen man riesige Joints raucht und Videospiele spielt. Für schlecht belüftete Clubs, in denen man mit seinen Liebsten besoffen Rock’n’Roll spielt. Für Tanzeskapaden vor großen Lautsprechern mit seinen Liebsten, bei denen man sich von Unmengen Ketamin aus der Raumzeit schießen lässt. Für den Kaffee und die Kippe mit Mama, Papa, Oma oder Opa.
Die viel wichtigere Frage ist aber: Wen juckt’s? Das ist meine Antwort. Wie sehr muss man sich mit Achtsamkeit das Hirn verbrannt haben, um das ganz persönliche Glück zum Maßstab der Bewertung der Welt um einen herum zu machen? Oder anders ausgedrückt: Die Lage in der wir uns befinden ist absolut kein Spaß (man verzeihe mir daher die Drastik). Was auch immer deine Variante der Antwort auf die Frage ist – ob du dir wie ich das Hirn am liebsten vor dem PC zerlaufen lässt oder es dir meinetwegen in Ayurveda einlegst – nichts davon wird in Zukunft möglich sein (wenn es dir nicht ausreicht, dass der Großteil der Menschen auf diesem Planeten weder das eine noch das andere machen kann). Es geht doch gerade darum, die Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen jede:r sein ganz persönliches – und darin immer bescheuertes – Glück verwirklichen kann. Die implizite Botschaft der Frage: Man kann doch nicht alles so schwarzmalen.
Wenn wir uns also, weil wir das so angenehmer oder das Leben sonst nicht lebenswert finden, in Hoffnung selber lobotomieren – dann werden wir aus dieser Trance eines Tages im Schützengraben aufwachen, auf dem Dach eines gefluteten Hauses beim verzweifelten Blick auf den leeren Netzwerkbalkens des Displays vor uns oder in der Schlange vor dem letzten Laden, der die Essensmarken noch annimmt. Und wir werden uns fragen, wie wir denn dorthin gekommen sind, das trifft doch sonst nur die anderen?!
Sich nicht der Hoffnung hinzugeben ist zumindest der Versuch, unter diesen Bedingungen handlungsfähig zu bleiben. Was genau nun das jeweils Lebenswerte ist, spielt doch gar keine Rolle. Als Aufforderung zur Hoffnung aber wird die Frage nach dem Lebenswerten zur Gefahr für ebenjenes.
Literaturverzeichnis
Graack, Nico (2023): Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden. Reflexionen von der Tankstelle. Berlin: IPPK-Verlag.
Höhler, Gerd (2023): „Nach Zugunglück und Waldbränden: Flutkatastrophe bringt Griechenland an seine Grenzen“. In: rnd (13.09.2023). https://www.rnd.de/politik/ueberschwemmungen-in-griechenland-flutkatastrophe-bringt-land-an-seine-grenzen-4L4CMIGZ4RCSRI62SSGY2RQHK4.html [24.02.2024]
Pickert, Bernd (2024): „Trump II wäre deutlich radikaler“. In: taz (12.02.2024). https://taz.de/Trumps-Aussagen-zur-Nato/!5988869/ [24.02.2024]
Autor:in: Nico Graack studiert Philosophie und Informatik in Kiel und Prag. Er arbeitet als freier Autor und Journalist.