Gedanken zu einer gestalttherapeutischen phänomenologischen Hermeneutik
Hilmar Schmiedl-Neuburg
Y – Z Atop Denk 2024, 4(10), 1.
Abstract: Der Aufsatz versucht, die Gestalttherapie als einen möglichen Ansatz in den Literatur- und Kulturwissenschaften zu erforschen. Dies geschieht explorativ am Beispiel des gestalt-therapeutischen Lesens von Texten. Diese Form der Textlektüre, in der im Kontakt mit den je gelesenen Texten diese mit Hilfe gestalttherapeutischer Haltungen, Prinzipien und Methoden erschlossen werden, kann dabei als Muster für den gestalttherapeutischen Zugang zu Werken der Kunst und Kultur schlechthin dienen.
Keywords: Gestalttherapie, Literaturinterpretation, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Phänomenologie, Hermeneutik
Copyright: Hilmar Schmiedl-Neuburg | Lizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Veröffentlicht: 30.10.2024
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1. Gestalt und Lesen – ein Vorkontakt
Im Mittelpunkt der Gestalttherapie, gleich ob als Therapieform oder als Lebensform, steht der Kontakt und das Wie des Kontakts zwischen zwei Menschen, einem Ich und einem Du in einem Hier und einem Jetzt und auch die verschiedenen gestalttherapeutischen Haltungen, Grundsätze und Interventionen lassen sich meist im Bezug auf das Kontaktphänomen verorten und verstehen1.
Doch was geschieht, wenn mein Gegenüber im Kontakt nicht ein Mensch, sondern das Werk eines Menschen, z. B. ein Buch bzw. ein Text oder auch ein Kunstwerk oder ein anderes Kulturerzeugnis ist? Könnte ich mit diesem Text oder Gegenstand in gleicher Weise gestalttherapeutisch in Kontakt treten wie mit einem Menschen? Ließen sich, mit anderen Worten, die gestalttherapeutischen Prinzipien, Haltungen und Interventionen auf das Lesen von Texten oder auch das Verstehen von Kunstwerken übertragen? In diesem Aufsatz möchte ich versuchen, auf das Ob und das Wie dieser Fragen erste, vorsichtige Antworten zu geben.
Aus der Sicht Martin Bubers erscheint mir nun bei einer solchen Übertragung durchaus Vorsicht geboten zu sein, denn Buber (Buber 1995) unterscheidet nicht umsonst die Ich-Du-Beziehung zwischen Menschen von der Ich-Es-Beziehung zwischen Menschen und Sachen. Auf der anderen Seite zeigt aus meiner Sicht das Beispiel der Psychoanalyse, wie fruchtbar psychotherapeutische Blickweisen auf die Literaturwissenschaft (Schönau 1991), auf die Kunstgeschichte (Kraft 2007) und die Kulturwissenschaften allgemein übertragen werden konnten, um auf psychoanalytische Weise Texte zu lesen und zu interpretieren, Kunstwerke zu erfahren und zu deuten und allgemein Kultur verstehen zu können.
Im Folgenden möchte ich mich daher der Frage nähern, ob und falls ja, wie gestalttherapeutische Sichtweisen in ähnlicher Weise, wie in der Geschichte der Psychoanalyse geschehen, zum Lesen, Interpretieren und Verstehen menschlicher Produkte bzw. Kulturerzeugnisse wie Texten und Kunstwerken hilfreich, produktiv und erschließend sein könnten.
Mein Fokus wird dabei in dieser Arbeit auf einem gestalttherapeutischen Lesen von Texten liegen, zum einen aus Umfangsgründen, zum anderen da mir Texte für eine solche Übertragung gestalttherapeutischer Vorgehensweisen besonders offen zu sein scheinen. Damit soll aber nicht die Möglichkeit einer vergleichbaren Übertragung auf Kunstwerke, wie Bilder, Filme, Skulpturen oder Musikstücke oder auf andere Kulturprodukte in Abrede gestellt werden, im Gegenteil erscheint mir eine solcher Transfer ausgesprochen vielversprechend. Daher möchte ich gegen Ende dieser Arbeit in einem skizzenhaften und kurzen ersten Entwurf versuchen, die bei der Untersuchung des gestalttherapeutischen Lesens gewonnenen Erkenntnisse auf das „Lesen“ und Verstehen von Kunstwerken und Kulturprodukten auszuweiten und so auch die Gestalttherapie in ihrem Potential als einem kulturwissenschaftlichen Ansatz erforschen.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird es also im Folgenden darum gehen, die mögliche Gestalt gestalttherapeutischer Lektüre herauszuarbeiten, d. h. zu untersuchen, wie die verschiedenen Prinzipien und Grundsätze der Gestalttherapie das Lesen eines Textes, also den Kontakt mit einem Text formen und gestalten und ein gestaltmäßiges Verstehen eines Textes ermöglichen. Hierbei werden wir einen Blick werfen auf die Bedeutung gestalttherapeutischer Haltungen und Grundprinzipien für das Lesen, auf den Leseprozess als Kontaktzyklus einschließlich der Rolle der verschiedenen Kontaktunterbrecher beim Lesen, auf die Frage nach unabgeschlossen Gestalten und unerledigten Geschäften von Texten, auf die Ziele gestalttherapeutischer Interpretation und die Rolle gestalttherapeutischer Interventionen als Lese- und Interpretationshilfen für Texte sowie schließlich auf die mögliche kunst- und kulturwissenschaftliche Ausdehnung dieser Gestaltlektüreweisen auf Kunstwerke und andere Kulturerzeugnisse.
Doch bevor wir uns diesen Fragen zuwenden können, ist aus meiner Sicht noch ein Blick auf Martin Bubers anfänglichen Einwand zu werfen, dass die Beziehung zu Sachen grundsätzlich anderer Natur sei als die zu Menschen und daher eine Übertragung gestalttherapeutischer Haltungen im Umgang mit Klienten vielleicht nicht so einfach auf den Umgang mit Sachen übertragen werden kann. Diesem Einwand möchte ich durchaus recht geben, ich glaube allerdings nicht, dass er eine Übertragung von Gestaltherangehensweisen und –gesichtspunkten auf Textlektüre und –verstehen grundsätzlich unterbindet. In produktiver Hinsicht scheint die Verknüpfbarkeit von Gestalttherapie und menschlichen Werken jedenfalls offensichtlich zu sein. Denn menschliche Produkte erscheinen in der Gestalttherapie als Projektionen bzw. als kreativer symbolischer Ausdruck eines Menschen und können als ein solcher auch vom Gestalttherapeuten verstanden werden. Dies eröffnet die Möglichkeit, sowohl Texte als auch Kunstwerke, wie überhaupt Kulturerzeugnisse als symbolische Ausdrucksgestalten von Menschen aufzufassen und mit diesen Ausdrucksgestalten dann im Kontakt, also im lesenden Eindruck gestaltgemäß umzugehen, ähnlich wie in der gestalttherapeutischen Arbeit mit dem Ausdruck des Klienten umgegangen wird.
Dieses Verständnis von Texten als Ausdrucksgestalten scheint mir auch in der gestalttherapeutischen Literatur durchaus erkannt zu sein, allerdings eher was das gestalttherapeutische Schreiben als Gegenstück zum gestalttherapeutischen Lesen anbelangt. So reflektiert de Roeck in der Vorbemerkung zu seinem Einführungswerk Gras unter meinen Füßen (de Roeck 1985, S. 10) das gestalttherapeutische Schreiben als persönlichen Ausdruck, nämlich als radikal persönliches und individuelles Schreiben aus der lebendigen eigenen Erfahrung2 und nicht nur aus dem Fachwissen heraus und Ginger beschreibt im Vorwort seines Buches Gestalttherapie (Ginger u. Ginger 1994, S. 7-8) sein gestalttherapeutisches Schreiben als ein Schreiben im „Gestalt-Stil“, ein „engagiertes persönliches Zeugnis“, mit „Herz und Kopf“, „ein direkter, unmittelbarer Ausdruck meiner Empfindungen“, geschrieben in der ersten Person, „aus dem täglichen Erleben und aus Bücherwissen gespeist“, „geschrieben, um gelesen und verstanden zu werden“. Für Staemmler ist im gestaltmäßigen Schreiben insbesondere der direkte unmittelbare Kontakt mit dem Leser entscheidend (Staemmler 2009, S. 9). Auf diese Weise zeigt sich uns das Schreiben von Texten zum einen im gestalttherapeutischen Sinne als ein verstehbares Ausdrucksgeschehen, zum anderen als in Art und Inhalt sehr form- und beeinflussbar durch gestalttherapeutische Prinzipien und Haltungen, was mich in der Vermutung bestärkt, eine vergleichbare Zugänglichkeit und Offenheit von Texten für ein gestaltorientiertes Lesen zu erwarten.
2. Der Gestaltkontakt zum Text
Doch was kann es konkret bedeuten, gestaltorientiert zu lesen, also mit den Gestalthaltungen und –prinzipien einem Text zu begegnen und mit ihm in Kontakt zu treten? Da die Gestalttherapie nur ungern im Abstrakten denkt, werde ich im Folgenden als Textbeispiel das Gestalt-Gebet Fritz Perls'3 verwenden, an dem Leser:innen dieses Textes das je zum gestaltgemäßen Textumgang Diskutierte selbst zu erfahren eingeladen sind:
I do my thing and you do your thing.
I am not in this world to live up to your expectations,
And you are not in this world to live up to mine.
You are you, and I am I,
and if by chance we find each other, it's beautiful.
If not, it can't be helped.
(Perls 1969)
Wie begegne ich nun als Gestaltler diesem Text, welcher fast wie ein Gedicht anmutet? Der phänomenologischen Grundhaltung (vgl. Husserl 1986) der Gestalttherapie4 entsprechend stelle ich in der Begegnung mein Vorwissen unter Epoché, klammere es sein und versuche, den Text als Phänomen so zu erfahren und zu erleben, wie er sich von sich selbst her mir zeigt.5 Ich konzentriere mich, Perls Gedanken zur Gestalt als Konzentrationstherapie eingedenk, auf den Text selbst als Phänomen ohne Gedanken darüber zu hegen, was hinter oder unter ihm an verdeckten Bedeutungen liegen könnte oder was mir spontan an Assoziationen zu ihm einfiele. Denn frei nach Goethes Diktum sind die Phänomene selbst die Lehre und man suche nichts hinter ihnen. Ich übe mich in Awareness, im präsenten erfahrenden Gewahrsein gegenüber dem Phänomen des Textes, wie er sich mir in meinem Erleben als Gestalt zu zeigen bereit ist. Ich erlebe in diesem Gewahrsein, wie sich den Beobachtungen der Gestaltpsychologie folgend, der Text als Ganzheit, als holistische Gestalt von seinem Hintergrund abhebt und konturiert. Ich versuche dabei, den Text nicht wie in der psychoanalytischen Traumarbeit zu analysieren, d. h. ihn in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen und ihn dann zu deuten, sondern im Gegenteil ihn als gestalthafte Ganzheit wahrzunehmen und ihn als solche zuerst einfach nur genau und achtsam-aufmerksam zu beschreiben. Gleichwohl werden dabei die Binnenstrukturen, -figuren und -gestalten eines Textes6 nicht zugunsten der Ganzheit des Textes ausgeblendet, sondern finden als die verschiedenen Aspekte, phänomenologisch Abschattungen, der ganzen Gestalt ihren Platz. Dies gilt insofern auch für die in einem Text sich zeigenden Polaritäten – im Gestalt-Gebet etwa offen zwischen dem Ich und dem Du bzw. hintergründiger zwischen dem Ich/Du und dem Wir –, die für die Gestalt-Arbeit mit Texten von besonderer Bedeutung sind und gleichzeitig ebenfalls nur bestimmte Aspekte eines Textes darstellen.7
Bei all dem gilt meine erlebend-erfahrende Aufmerksamkeit – die in dieser Hinsicht sowohl der gleichschwebenden Aufmerksamkeit der Psychoanalyse wie auch der buddhistischen Achtsamkeitspraxis verwandt ist – nicht nur der inhaltlichen, kognitiven Bedeutung eines Textes, seinen propositionalen Gehalten sondern auch seiner Form, also seiner sinnlichen Seite, dem Klang seiner Wörter und Sätze, seinem Rhythmus, der Form und Art seiner Sprache, seinen rhetorischen und poetischen Stilmitteln, seinem Satzbau und seiner Wortwahl und den mit ihr verbundenen Bildern und Metaphern. Denn die Aufmerksamkeit der Gestalttherapie gilt stets besonders der Sinnlichkeit und dem Wie der Phänomene, denn in ihnen zeigt sich im vermeintlich Nebensächlichen oft das eigentliche Wesen der Phänomene. Hier wird erleb- und erfahrbar, was sich im Text an Bildern, Bedeutungen, Rhythmen, Klängen, Worten selbst in den Vordergrund rückt und was in den Hintergrund zurücktritt. Das sinnliche, rhetorische und poetische Wie des Textes, die Art und Weise, wie der „Textleib“ mir in meinem Gewahrsein erscheint, wie ich den Text erlebe und erfahre, ist mithin für mein Verständnis desselben aus Gestaltsicht ebenso entscheidend, wie das Was der textlichen Bedeutungen, denn für die Gestalttherapie als Erfahrungs- und Erlebnistherapie kann das Textverstehen nur im Texterleben und -erfahren lebendig und wirklich werden. Im Vergleich zu einer psychoanalytischen Textlektüre tritt hier das Wie des Textes in seinem Eigenrecht in den Vordergrund, noch vor seinem gleichwohl wichtigen Was und auch seinem gestalttherapeutisch ebenfalls bedeutsamen Wofür und Wozu. Das der Psychoanalyse häufig wichtige Woher und Woraus des Textes hingegen tritt tendentiell im Gestaltlesen in den Hintergrund. Wir könnten uns also jede:r für sich fragen: Wie gibt sich mir z. B. sinnlich das Gestalt-Gebet in seinen Worten, Klängen, Rhythmen und sprachlichen Formen, wenn ich mich in meinem Gewahrsein aufmerksam auf es konzentriere, wie erfahre und erlebe ich es, was an seinem Wie wird mir auffällig, wie wirkt es als ganze Gestalt auf mich, wie beschriebe ich es als Phänomen?
Doch wie mir auf diese Weise ein Text wie das Gestalt-Gebet als Phänomen begegnet und sich mir in seinem Wie erschließt, steht nun nicht dauerhaft fest. Denn jedes Gestaltlesen finden statt in einem Hier und einem Jetzt, jede phänomenologische Beschreibung eines Textes ist zeitlich und räumlich verortet, da zu einem anderen Zeitpunkt, an einem anderen Ort, in einem anderen Kontext bzw. in einem anderen Feld würde sich der Text als Phänomen anders zeigen. So wurde das Gestalt-Gebet etwa im gesellschaftlichen Dort und Damals der späten 60er und frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts anders wahrgenommen als heute.8
In dieser phänomenologisch wahrnehmenden Lektüre in einem Hier und Jetzt trete ich als Person in einen Kontakt mit dem Text, in ein dialogisches Verhältnis von Ich und Du. Der Text als Phänomen spricht zu mir wie ein Du zu einem Ich und lädt mich zu einem, wie auch immer gearteten Dialog mit ihm ein. Der Text tritt in einer solchen dialogischen Begegnung mit Behauptungen und Fragen an mich heran, die von mir eine persönliche Antwort und Stellungnahme verlangen und auch ich werde, nach einem ersten zurückhaltenden Wahrnehmen, zunehmend auch eigene Fragen und wohl auch Erwartungen an den Text haben, die ich jedoch, falls nötig, immer wieder unter Epoché zu stellen habe, um mit ihnen das Phänomen des Textes nicht zu verdecken.9 Zwischen mir als Leser und dem Text etabliert sich in diesem dialogischen Verhältnis so auch eine Art der Übertragung und Gegenübertragung, die man als lesender Gestalttherapeut für sich wahrzunehmen vermag. Dass hierbei die Rede von Übertragung und Gegenübertragung in Bezug auf Texte nicht zu weit hergeholt ist, wird deutlich, wenn wir die Einsichten der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik (Iser 1994) zu den impliziten Lesern von Texten, also den vom Text implizit erwarteten Lesern bedenken. Gestalttherapeutisch (oder auch psychoanalytisch) betrachtet, ist der implizite Leser der Rezeptionsästhetik nichts anderes als die Übertragungsdisposition eines Textes, die der lesende Gestaltler wahrnehmen kann und mit seiner Gegenübertragung beantwortet.
In der persönlichen Begegnung an der Kontaktgrenze von mir als Ich mit einem Text als einem Du erfahre ich schließlich als Leser mein Selbst in der Weise meines Umgangs mit dem Text, d. h. in der Art, wie ich den Kontakt mit dem Text gestalte. Die für die Gestalt so bedeutsame existentielle Dimension des Kontakts wird hier für mich selbst im Lesen erfahrbar. Mithin ist es nicht nur die ebenfalls bedeutsame gestalttherapeutische Aufmerksamkeit für die existentielle Dimension eines jeden Textes in seinen Inhalten, die mich als Leser existentiell berührt, sondern gerade meine Aufmerksamkeit für das Wie meines Kontaktes mit dem Text erweist sich meinem existentiellen Selbstverstehen als besonders zuträglich. So wäre im lesenden Dialog mit dem Gestalt-Gebet zu Zwecken der lesenden Selbsterfahrung von mir nicht nur inhaltlich auf seine existentiell-therapeutische Botschaft zu achten, sondern auch und besonders auf die Art meines Umgangs mit dieser Botschaft und der besonderen Weise ihrer sinnlich-sprachlichen Vermittlung.10
Die verschiedenen Haltungen, Ideen und Grundsätze der Gestalttherapie vermögen insofern, bedenkt man die bisher angesprochenen Aspekte, auf vielfältige Art und Weise eine vielfach neue und aus meiner Sicht sehr produktive und kreative Weise des Lesens von Texten zu ermöglichen.
3. Der Kontaktzyklus in der Texterfahrung
Doch bisher habe ich das Lesen eines Textes nur mit bestimmten Haltungen und Grundsätzen der Gestalt in Beziehung gebracht und damit weitgehend vernachlässigt, dass es sich beim Kontakt mit einem Text stets um einen zeitlichen Prozess handelt, welcher wie der Kontakt mit einem Klienten, mit Hilfe des Modells des Kontaktzyklus (Ginger u. Ginger 1994, S. 132-135, 144 f.) beschreibbar ist. Hierbei scheint es mir allerdings wichtig zu berücksichtigen, dass der Kontaktzyklus mit einem Text nicht einfach identisch ist mit dem Leseprozess eines Textes vom ersten bis zum letzten Satz, sondern über diesen Prozess in beide zeitliche Richtungen hinausgeht. So beginnt etwa mein Kontakt mit dem Text schon, wenn ich das Buch erstmals zu Hand nehme oder vielleicht noch früher, wenn ich von diesem Text zum ersten Mal höre, der Hauptkontakt mit dem Text mag nicht nur im einmaligen Lesen liege, sondern auch darin, den Text oder Teile von ihm ein zweites, drittes oder viertes Mal zu lesen und der Nachkontakt zum Text mag noch geschehen, lang nachdem das letzte Wort von mir gelesen worden ist.
Mit diesen Überlegungen im Hintergrund möchte ich nun einen kurzen Blick auf die verschiedenen Phasen des Textkontaktes werfen und den Leser einladen, dies für sich am Beispiel des Gestalt-Gebetes nachzuvollziehen.
Der Vorkontakt mit einem Text beginnt, wenn ich vielleicht nur von dem Text höre oder er mir empfohlen wird oder ich das betreffende Buch per Zufall zur Hand nehme. Er intensiviert sich, wenn ich Titel und Autor auf mich wirken lasse, vielleicht das Buch durchblättere, in das Inhaltsverzeichnis schaue oder den Klappentext lese. In all diesen Aspekten beginnt sich der Text mir gegenüber langsam vor seinem Hintergrund als Gestalt abzuheben und zu konturieren, wenn auch noch sehr vorläufig und diffus. Wenn der Leser etwa noch nie vom Gestalt-Gebet gehört hatte, so beginnt sein Vorkontakt zu ihm in diesem Aufsatz im Lesen meiner Ankündigung, dass das Gestalt-Gebet ein Text von Perls sei und hier als Beispiel verwendet werden wird und vielleicht fiel aus dem Augenwinkel auch schon ein Blick auf die grafische Gestalt des unter der Ankündigung stehenden Gestalt-Gebets.
Nach diesem ersten Sich-Zeigen des Textes als Phänomen konturiert sich der Text im Übergang zum Hauptkontakt deutlicher. Ich fange an, den Text zu lesen, vielleicht manche Stellen wiederholt zu lesen, vielleicht mal nachsinnend, -denkend, -fühlend innezuhalten, vielleicht mich an etwas zu erinnern, vielleicht in ihm mal vor- und zurückzublättern und sodann weiterzulesen. So beginne ich den Text mir anzuverwandeln, mir ihn lesend anzueignen und mich zugleich engagiert mit ihm auseinanderzusetzen. Intensiviert sich der Hauptkontakt so kann es auch geschehen, dass ich mit dem Text zeitweise konfluent werde, gleichsam im Text selbst versunken bin. Bezogen auf das Gestaltgebet habe ich es nach dem Vorkontakt vielleicht als Leser zum ersten Mal gelesen, vielleicht habe ich es dabei auch wiederholt als Ganzes oder Teile von ihm gelesen oder habe beim Lesen innegehalten, nachgedacht und nachgesonnen, wie es mir zu diesem Text geht, bevor ich weitergelesen oder den Text nochmals gelesen habe. Vielleicht bin ich auch zeitweise versunken in das Gestalt-Gebet gewesen, ob nun in Übereinstimmung oder Meinungsverschiedenheit.
Schließlich habe ich den Text zu Ende gelesen und trete in den Nachkontakt mit ihm ein. Vielleicht bin ich einfach still und lasse ihn wirken, vielleicht blättere ich ihn nochmals durch oder schaue das Buch an, vielleicht denke ich auch intensiv über ihn nach und verarbeite und integriere ihn innerlich oder rede mit einem anderen Menschen über diesen Text oder schreibe etwas über ihn, so dass er sich mir langsam assimiliert. So kann ich im Nachkontakt auch einen kurzen Text, wie das Gestalt-Gebet nochmals überfliegen, nachdem ich es eingehend gelesen habe, oder seiner schlicht als Ganzes gewahr sein, ihm nachspüren und nachsinnen sowie über es nachdenken und mit anderen über es diskutieren.
Wird nun ein solcher sich in Lesen und Wahrnehmen, Denken, Spüren und Fühlen vollziehender Kontaktzyklus mit einem Text, hier etwa zum Gestalt-Gebet, ungestört durchlaufen, gelingt es dem Leser, ihn sich wirklich zu Eigen zu machen. Aus Sicht des Lesers entspricht das Durchlaufen des Kontaktzyklus dabei einem Zerkauen und Verdauen des Textes. Schon früh hatte Perls auf die bedeutende Rolle der oralen Aggression hingewiesen (Perls 2006), die diese nicht nur für die Aufnahme, Zerkleinerung und Verdauung physischer Nahrung, sondern auch geistiger Nahrung hat. Um einen Text im Lesen zu verstehen, muss ich ihm im Kontaktzyklus mit oraler Aggression begegnen, ihn im Lesen und Wahrnehmen, im Spüren und Fühlen, im Durch-, Nach- und Überdenken mental, sinnlich und emotional ergreifen, zerbeißen, zerkauen und einspeicheln, erst dann ihn schlucken, ihn gründlich verdauen, mich von ihm nähren und seine Nährstoffe integrieren sowie das Unverdauliche an ihm ausscheiden (Dinslage 1990, S. 19). Neben dem eher aufmerksam-passiven, rezeptiven phänomenologischen Gewahrsein dem Text gegenüber finden wir hier in der nötigen in den Text eindringenden oralen Aggression seinen aktiven Gegenpol im Textverstehen, so dass erst ihr integriertes Zusammenspiel ein tiefes Textverstehen möglich macht.
4. Kontaktunterbrecher in der Textlektüre
Der Kontaktzyklus mit einem Text kann nun, wie der Kontakt mit einem Klienten, an der Kontaktgrenze zwischen Leser und Text auf verschiedene Weise unterbrochen werden, sowohl von mir als Lesendem wie auch vom gelesenen Text her. Daher lassen sich die verschiedenen Kontaktunterbrecher der Gestalttherapie, wie Deflektion, Konfluenz, Introjektion, Projektion, Retroflektion und Egotismus (Ginger u. Ginger 1994, S. 136-144; Dinslage 1990, S. 44-54; de Roeck 1985, S. 35-49), auch als Phänomene im erlebenden Lesen von Texten erfahren und bedürfen wie im therapeutischen Klientenkontakt, der Aufdeckung und Bearbeitung, wenn sie den Kontakt mit dem Text deutlich stören.
Deflektion mag im Leseprozess von meiner Seite als Leser als Phänomen im Spiel sein, wenn meine Gedanken im Lesen abschweifen oder meine Konzentration immer wieder nachlässt. Von Seiten des Textes mag man an Deflektion denken, wenn der Text selbst in seinem Was oder besonders seinem Wie von seinem Thema abzulenken scheint und seine wesentlichen Gedanken mit einem Schleier überdeckt oder sie undeutlich werden lässt.
Eine Konfluenz mit dem Text mag sich hingegen zeigen, wenn unmittelbares Einvernehmen mit ihm zu bestehen scheint, wenn der Text zu sagen scheint, was ich als Leser denke und ich denke, was der Text zu sagen scheint. Wenn zwischen mir und dem Text keine Unterscheidung mehr möglich zu sein scheint, mir z. B. das Gestalt-Gebet aus dem Herzen spricht und mir die Worte von der Zunge nimmt, besteht keine Kontaktgrenze mehr zwischen mir und dem betreffenden Text und eine Auseinandersetzung mit ihm in einem Kontaktgeschehen wird unmöglich.
Vielleicht machen sich aber auch Introjekte im Text bemerkbar, also intertextuelle Bezüge, Einflüsse, direkte oder indirekte Zitate, welche nicht richtig im Text bzw. im Gedankengewebe des Textes integriert erscheinen und so sein Verständnis irritieren und erschweren. Vielleicht aber zeigen sich auch Introjekte von mir im Umgang mit dem Text, etwa dass man einen Text sofort beim ersten Lesen verstehen müsse oder dass es nur auf den Sachinhalt eines Textes ankomme, und vielleicht gelingt es manchen Texten, diese Introjekte ans Tageslicht des Bewusstseins zu befördern, indem sie die in den Introjekten steckenden Erwartungen an die Textlektüre irritieren.
Bei Erwartungen an den Text kann es sich auch um Projektionen auf diesen handeln. Ich kann als Leser eigene Gedanken auf den Text projizieren und in ihm nur das lesen, was ich in ihn hineingelegt habe, etwa wenn jemand sagte, dass es sich beim Gestalt-Gebet ja doch nur um reinen Egoismus handele.11 Mein Textverstehen mag ich daher prüfen, ob sich in ihm Vermutungen oder Vorurteile oder Erwartungen gegenüber dem Text finden, welche nicht wirklich am Phänomen des Textes aufweisbar sind. Umgekehrt gibt es jedoch auch Projektionen des Textes auf den Leser, etwa in Form des impliziten Lesers, also des vom Text erwarteten Lesers, von welchem seitens des Textes z. B. ein bestimmter sozio-kultureller Hintergrund, Wissenstand, ein bestimmtes Geschlecht oder Alter erwartet wird. Insbesondere in Übertragung und Gegenübertragung zwischen Leser und Text werden diese Projektionen eines Textes auffällig.
Auch nach der Retroflektion lässt sich bei Texten fragen. Wo und wie, z. B. in seinem Stil, verfährt der Text etwa mit sich selbst so, wie er empfiehlt, dass mit anderen Texten, Personen oder Gegenständen zu verfahren sei oder wo geht der Text so mit sich selbst um, z. B. in einer reflexiven Selbstbezugnahme oder Selbstdeutung des Textes, wie er erwartet, von anderen gelesen und rezipiert zu werden. Umgekehrt kann ich als Leser mich fragen, wo ich z. B. mir selbst retroflexiv eine Frage beantworte oder eine Erwartung erfülle, die eigentlich eine Frage oder Erwartung an den Text ist.
Egotismus könnte vorliegen, wenn der Text selbstreferentiell nur um sich selbst zu kreisen scheint, Bezüge zu anderen Texten nicht herstellt oder sie verdeckt und damit seine Verwebungen im intertextuellen Feld verleugnet, während ich als Leser in meiner Lektüre Egotismus finden könnte, wenn ich den Text nur in seiner Bedeutung für mich wahrnehme, ihn in seinem von mir unabhängigen Eigenrecht aber nicht zu sehen vermag, etwa wenn jemand das Gestalt-Gebet schlechthin und grundsätzlich ablehnte, da für ihn persönlich die Entdeckung des Wir und nicht die der Autonomie des Ich besonders heilend war.
5. Die offenen Gestalten und unerledigten Geschäfte eines Textes
Wie bei einem Klienten können sich in diesen Kontaktunterbrechern im Kontakt mit dem Text offene Gestalten und unerledigte Geschäfte eines Textes versuchen zu zeigen (Dinslage 1990, S. 10; de Roeck 1985, S. 30-32). Bei diesen offenen Gestalten in der Sprache der Gestalttherapie kann es sich literaturwissenschaftlich gesprochen um Brüche oder Inkonsistenzen eines Textes handeln, sei es in Form argumentativer Brüche oder Widersprüche in argumentierenden Texten, sei es in Form fehlender Informationen oder Erklärungen, die einen Text stückhaft oder kryptisch erscheinen lassen, sei es als ungewollt inkonsistente Erzählstränge oder Figurendarstellungen in Romanen oder Dramen oder sei es als stilistische Brüche oder unpassende poetische und rhetorische Stilmittel.
All diese unterschiedlichen Inkonsistenzen können zum einen selbst offene Gestalten sein oder zum anderen auch offene Gestalten oder unerledigte Geschäfte auf einer tieferen Ebene des Textes anzeigen, etwa in Form neurotischer Hintergrundannahmen des Textes bzw. des Textautors. Auch das Top-Dog/Under-Dog-Modell der Gestalttherapie könnte zur Aufdeckung und zum Verständnis solcher Brüche und Inkonsistenzen genutzt werden, indem der Leser in den Aspekten des Textes diejenigen von ihnen identifiziert, die mit autoritativer Stimme sprechen und diejenigen, die sich in irgendeiner Form als unterdrückt und gemaßregelt geben. Schließlich mag auch die Gegenübertragung des Lesers gegenüber dem Text ihn auf diese offenen Gestalten stoßen. So könnte etwa das Gestalt-Gebet in seiner radikalen Fokussierung auf das Ich und das Du vielleicht auf eine offene Gestalt bzw. ein unerledigtes Geschäft Perls' mit dem Thema des Wir hindeuten oder auch sogar auf eine offene Gestalt mit dem Du, da der Text zwar zu einem Du spricht, dieses Du aber nicht selbst zu Wort kommen lässt, sondern stattdessen für dieses spricht.
In diesem Kontext könnte ich als Leser auch auf die verdeckten Bedürfnisse und Bedürftigkeiten des Textes achten, insbesondere wenn ich mir seine offenen Ziele und Zwecke vor Augen führe und auf meine Gegenübertragung achte, denn in beidem zeigen sich die unbefriedigten Bedürfnisse des Textes, ohne welche er nie geschrieben worden wäre und ohne welche wir ihn auch nicht gänzlich verstehen können. So würde ich etwa vermuten, dass aus dem Gestalt-Gebet vornehmlich ein Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbehauptung spricht.
Ebenfalls instruktiv bei der Suche nach offenen Gestalten eines Textes kann es für mich als Leser sein, auf die offenen und verdeckten Polaritäten in einem Text zu achten, die sich in seinem Was und seinem Wie mir zeigen. Denn in ihnen werden die offenen Gestalten des Textes meist sehr deutlich. Ähnlich wie bei den Bedürfnissen wäre hier zu fragen, was dem Text fehlt, was seine Gegenpolarität(en) wäre(n), wie diese sich gegenüber und vielleicht verdeckt auch im Text zeigen (könnten) und schließlich, wie vielleicht, bei einer Integration dieser Gegenpole zu einer Ganzheit, die leere Mitte, also die schöpferische Indifferenz beider Pole im Sinne Samuel Friedländers in Bezug auf diesen Text erscheinen könnte.
In diesem Zusammenhang könnten wir auch versuchen, das perlssche 5-Schichten-Modell der Neurose (Dinslage 1990, S. 79-82; de Roeck 1985, S. 54-58) auf das Textverstehen zu übertragen. So könnte der Leser sich fragen, ob er den Text als Ausdruck einer der fünf Schichten lesen könnte und falls ja, welcher, oder er könnte versuchen, den Text als Ausdruck jeder der fünf Schichten zu lesen und dabei wahrnehmen, wie sich die eigene Textwahrnehmung jeweils verändert, wenn der Text als Ausdruck des Klischee-Stadiums, des Als-Ob-Verhaltens, der Impasse und der Implosion oder der Explosion gelesen wird, wenn also im Gewahrsein seine klischeehaften, seine rollenspielhaften, seine ausweglos-verzweifelten und sterbend-implosiven oder seine authentisch-explosiven-kreativen Aspekte in den Vordergrund rücken. Entsprechend könnte ich probeweise versuchen, das Gestalt-Gebet als 68er-Klischee, als hilfreiche Kommunikationstechnik, als trotzigen Ausdruck der Verzweiflung über die scheinbare Unmöglichkeit des Wir und als Resignation diesem Umstand gegenüber oder als Affirmation der eigenen Autonomie und kreative Neuschöpfung in einer zu konfluenten Welt zu lesen, und so verschiedene Facetten des Gestalt-Gebets beleuchten und der Textarbeit eröffnen. Ähnlich der Gestalt-Diagnostik mit einem Klienten können auf diese verschiedenen Weisen, die offenen Gestalten und unerledigten Geschäfte eines Textes deutlich und der Textarbeit zugänglich werden.
6. Ziele gestalttherapeutischer Textarbeit und Interpretation
Wie in der therapeutischen Arbeit mit Klienten kann ich nun auch mit einem Text auf unterschiedliche Weise experimentell arbeiten, d. h. literaturwissenschaftlich ihn auslegen und interpretieren, sei es schlicht, um ihn besser, genauer und tiefer zu verstehen, sei es, um Kontaktunterbrechungen mit ihm zu bearbeiten, sei es, sich in ihm zeigende offene Gestalten zu schließen, unerledigte Geschäfte des Textes zu erledigen und in ihm erscheinende Polaritäten miteinander zu vermitteln und zu integrieren, oder sei es sogar, dem Text Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten in sich aufzuzeigen, welche nicht offen und explizit im „Bewusstsein“ bzw. an der Oberfläche des Textes lagen. Diese Möglichkeiten des interpretatorischen Textumgangs legen nahe, dass im einfachen gestalttherapeutischen Lesen oder umfänglicher in der gestalttherapeutischen Arbeit mit Texten ähnlich wie mit menschlichen Klienten gearbeitet werden könnte, was dann auch die interpretatorischen Möglichkeiten einschlösse, dem Text seine impliziten Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen sowie seine vermeidbaren Brüche, offenen Gestalten und Inkonsistenzen in seiner Interpretation zu heilen. Dass dies interpretatorisch eine durchaus sinnvolle und nicht ungewöhnliche Herangehensweise ist, wird deutlich, wenn wir bedenken, dass der Ratschlag, einen Text in seiner Argumentation stets in der eigenen Interpretation desselben so stark wie möglich zu machen und sich erst auf diesem Niveau mit ihm denkerisch auseinanderzusetzen, eine alte Interpretationsmaxime in Philosophie und Rhetorik darstellt. Auf diese Weise könnte die humanistische Wachstumsorientierung der Gestalttherapie auch in der gestaltlichen Interpretation von Texten ihren Niederschlag finden.
D. h. auch in der Textinterpretation wird es erstens darum gehen, den Text in seiner vieldeutigen Vielseitigkeit wahrzunehmen, ihn genau und tief zu verstehen und so stellvertretend für den Text die eigene Bewusstheit für den Text insbesondere in seinem Wie zu verbessern. Zweitens gölte es, die verschiedenen Kontaktunterbrecher aufzudecken und aufzulösen, welche sich im Kontakt mit dem Text gezeigt haben und als Konfluenz, Deflektion, Projektion, Introjektion, Retroflektion und Egotismus mein Im-Kontakt-Sein mit dem Text behinderten. Drittens wären die vermeidbaren inneren Defizite, Konflikte und Polaritäten des Textes von mir zu bearbeiten und seine Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten zu erforschen, um den Text sich selbstverwirklichend gänzlich werden zu lassen, was er ist. Hier wird meines Erachtens nach deutlich, dass sich die therapeutischen Ziele der Gestalttherapie in der Arbeit mit Klienten auch auf die Arbeit mit Texten (oder mit Kunstwerken) übertragen ließen.
Diese Parallele zur Klientenarbeit zeigt sich im Übrigen auch in einer weiteren Interpretationsmaxime, welche die Gestalttherapie nahelegt. In der Literaturwissenschaft findet sich die immer wieder aufflammende Diskussion, ob ein Text allein für sich oder nur in seinem Kontext zu lesen und zu interpretieren sei. Die Gestalttherapie als Texthermeneutik könnte hier einen Mittelweg zwischen diesen Polen beschreiten, da sie zum einen den Text zwar explizit nicht isoliert, sondern, Lewin eingedenk, ihn stets feldtheoretisch vor dem Hintergrund seines Feldes aus anderen Texten, aus sozialen, kulturellen und geschichtlichen sowie persönlichen und situativen Bezügen und Einbettungen versteht, aber zum anderen auch, ähnlich wie bei der Betonung der Verantwortung des Klienten für sich selbst auch angesichts seiner Einbettung in sein Feld, die autonome Eigenständigkeit und Eigenart des Textes in ihrem Verstehen desselben deutlich macht.
7. Techniken gestalttherapeutischer Textarbeit und Interpretation
Die möglichen Techniken, Experimente, Übungen und medialen Möglichkeiten der Gestalttherapie für solche verstehenden, heilenden und wachstumsfördernden Arbeiten mit Texten, welche über das einfache gestalttherapeutische Lesen im engeren Sinne hinausgehen und stärker die gestalthermeneutische Interpretation der Texte zum Ziel haben, sind dabei ausgesprochen vielfältig und dem experimentellen Charakter der Gestalttherapie gemäß auch in die Kreativität des lesenden und mit dem Text arbeitenden, um ein wachstumsorientiertes Verstehen bemühten Gestaltlers gelegt12.
Einfache, aber grundlegende Weisen mit dem Text gestaltmäßig zu arbeiten, lassen sich dabei von der gestalttherapeutischen Arbeit mit Klienten übernehmen. So kann ich als Leser etwa versuchen, mein Gewahrsein dem Text gegenüber zu intensivieren, auch auf das am Text zu achten, was ich gewohnheitsmäßig gern ausblende, und meine Gestalthaltung dem Text gegenüber noch klarer werden zu lassen. Ich kann versuchen, auch das an dem inhaltlichen Was und insbesondere am stilistischen Wie des Textes genauer wahrzunehmen, was für den Text nur nebensächlich oder hintergründig zu sein scheint. Ich kann mir im Sinne des stay with the feeling erlauben, bei auftauchenden Gefühlen dem Text gegenüber zu verweilen, bei ihnen zu bleiben und zu schauen, wie sie sich im Gewahrsein verändern und wie sich mit ihnen auch mein Texteindruck verändert, denn aus Gestaltsicht wird ein Textverstehen nie rein intellektuell, sondern stets auch emotional und sinnlich sein. Auf diese Weise könnte ich unseren Beispieltext, das Gestalt-Gebet lesen, bei ihm und seinem Wie sinnlich, sinnend, spürend und fühlend verweilen und es im achtsamen Gewahrsein mir im Hier und Jetzt als ein Du-haftes Gegenüber erscheinen lassen.
Eine weitere Möglichkeit der gestalttherapeutischen Textarbeit bestünde darin, die Technik des Verstärkens auf den Textumgang zu übertragen, mich etwa zu fragen oder, falls möglich, auszuprobieren, was mit dem Text passierte, wenn ich als Leser bestimmte Eigenarten des Textes verstärke, z. B. Rhythmus, Wortwahl oder typischen Satzbau des Textes übertreibe und karikiere oder im Text verwendete Bilder und Metaphern weiter ausmale. Damit verwandt und inspiriert von der gestalttherapeutischen Idee des Acting In könnte ich als Leser den Text, hier z. B. das Gestalt-Gebet, auch laut lesen und ihn beim Lesen in Stimme, Mimik und Gestik (übertreibend) verkörpern oder mit möglichen skulptural-posturalen Verkörperungsweisen des Textes spielen.
Ich könnte auch experimentell versuchen, mir probeweise, des do the opposite eingedenk, vorzustellen, wie ein Text aussähe, der in seinem Was, aber besonders auch in seinem Wie das polare Gegenteil dieses Textes wäre oder ich könnte sogar versuchen, einen solchen Text zu schreiben und bei diesem Gegentext im Gefühl zu verweilen und dem Text nachzuspüren, um so den Ursprungstext in seiner Eigenart und seinen Polaritäten besser zu verstehen. So könnte ein Gegentext zum Gestalt-Gebet z. B. das Wir betonen oder einen echten Dialog darstellen statt eines Monologs des Ich, es könnten eher Fragen statt Aussagen auftreten, eher komplexe Sätze statt kurzer und einfacher, vielleicht könnte auch die Welt und der Zufall aus dem Hintergrund des Textes in seinen Vordergrund treten.
Ich könnte mich auch im Sinne eines play the projection fragen, wo und wie sich das vom Text über die Welt, über andere Texte, über Personen, Sachverhalte, Dinge Ausgesagte möglicherweise in ihm selbst findet.
Eine umfänglichere Weise des interpretatorischen Arbeitens mit einem Text könnte darin bestehen, Teile oder auch Polaritäten des Textes in einer Stuhlarbeit miteinander ins Gespräch zu bringen. Zwar könnten hier die Teile oder Pole des Textes nicht selbst sprechen bzw. vom Text gesprochen werden, wie dies in der therapeutischen Stuhlarbeit ein Klient für seine Teile und Pole tun kann, jedoch der Leser bzw. der Interpret kann – ähnlich einem den Klienten doppelnden Therapeuten – versuchen, gleichsam für die Teile und Pole des Textes zu sprechen und bei der Arbeit mit mehreren Teilen diese auch miteinander ins Gespräch zu bringen. In solchen Stuhlarbeiten und Dialogen von Textaspekten oder auch in schlichten Monodramen von Textteilen oder dem Text als Ganzem können so sowohl verschiedene, bisher verdeckte Textphänomene aufscheinen, als auch mögliche Wachstumsmöglichkeiten und Entwicklungschancen des Textes deutlich werden.
Noch klarer dürfte dies in der Übertragung der mit diesen Vorgehensweisen sehr verwandten gestalttherapeutischen Traumarbeit auf den interpretatorischen Textumgang werden. So wie sich der Klient in der Traumarbeit mit jedem Element des Traumes identifiziert, von sich als Element Auskunft gibt und ggfls. in einen Dialog oder eine Interaktion mit anderen Traumelementen tritt, kann der Leser stellvertretend versuchen, sich mit den verschiedenen Aspekten und Teilen eines Textes zu identifizieren, von ihnen in der Identifikation Auskunft zu geben und sie doppelnd, mit anderen Aspekten des Textes zu sprechen und zu interagieren. So könnte z. B. die Einleitung eines Textes mit seinem Haupt- oder Schlussteil sprechen, der Stil eines Textes mit seinen Inhalten, das Wie des Textes mit seinem Was, seinem Woher und seinem Wofür, bestimmte Textbilder mit bestimmten Gedanken, verschiedene Polaritäten, Theorien, Figuren oder Szenerien eines Textes je monodramatisch für sich oder auch miteinander etc. In einer solchen Arbeit mit dem Gestalt-Gebet könnten etwa das Ich und Du miteinander in einen Dialog eintreten, da im Gestalt-Gebet selbst nur das Ich spricht und auch die im Gestalt-Gebet nur erwähnten Elemente, wie die Welt, die Erwartungen und der Zufall, könnten in einer solchen Arbeit zu Wort kommen.
Eine weitere Möglichkeit des interpretatorischen Umgangs mit Texten besteht in ihrer Übersetzung in andere Medien. So kann ich versuchen, neue Zugänge zu einem Text zu erschließen, indem ich ihn als Ganzes oder bestimmte Teile und Aspekte von ihm etwa als Bild in Öl oder Kreide oder als Zeichnung, als Skulptur aus Ton oder als Körperskulptur, als Tanz oder als Melodie darstelle und, um Wachstum- und Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen, experimentell variiere. Ich könnte etwa das Gestalt-Gebet einmal als Bild malen, es als Melodie summen, es als Skulptur oder Tanz verkörpern oder es in Ton modellieren.
Auch kann ich es nutzen, wenn ein Text, wie das Gestalt-Gebet, nicht von mir allein, sondern im Rahmen einer Gestaltgruppe gemeinsam gelesen wird, da ich so nicht mehr nur auf mein eigenes Gewahrsein dem Textphänomen gegenüber angewiesen bin, sondern, etwa in einer Feedbackrunde zum Text, jede:r Gruppenteilnehmer:in mitteilen kann, was er oder sie am Text bzw. wie sie den Text erlebt und wahrgenommen, gespürt, gefühlt und verstanden haben und so der Text auf noch viel umfassendere Weise als Gestalt für uns Leser sichtbar und verstehbar wird.
8. Gestalttherapie und das „Lesen“ künstlerischer Werke und anderer Kulturerzeugnisse
Bis hier haben wir uns vornehmlich mit dem gestaltgemäßen Lesen von Texten befasst. Doch Texte sind, wie in der Einleitung bereits angedeutet, nur eine spezifische Form menschlicher Werke und z. B. Kunstwerken darin gleich, verstehbare Projektionen bzw. symbolischer Ausdruck eines Menschen zu sein. Daher liegt mir die Vermutung nahe, dass auch Kunstwerke wie Texte als symbolische Ausdrucksgestalten gestalttherapeutisch „lesend“ verstanden werden können und alle oder fast alle vorangegangenen Überlegungen zum gestalttherapeutischen Lesen von Texten mutatis mutandis auch auf das „lesende“ Verstehen von Kunstwerken oder auch generell von kulturellen Werken und Erzeugnissen übertragen werden könnten.
Denn auch Kunstwerken, sei es der bildenden oder der darstellenden Kunst, oder Kulturprodukten schlechthin vermag ich, wie Klienten oder Texten, mit und aus einer Gestalthaltung zu begegnen und mit ihnen als Phänomenen hier und jetzt in Kontakt zu treten. Auch mit Kunstwerken, wie Bildern, Zeichnungen, Skulpturen, Musikstücken, Gebäuden, Tänzen, Installationen, Filmen, Designobjekten etc. und anderen nichtkünstlerischen Kulturerzeugnissen werde ich in einen Kontaktzyklus eintreten und auch mit ihnen verschiedene Kontaktunterbrechungen erleben. Ich werde an ihnen, ähnlich wie bei Klienten oder Texten, offene Gestalten wahrnehmen können und ich werde auf verschiedene gestalttherapeutische Weisen und mit unterschiedlichen Techniken interpretatorisch mit ihnen umzugehen vermögen, etwa indem ich ein Bild als Körperskulptur darstelle oder in eine Melodie umsetze, indem ich einen Film oder ein Theaterstück wie einen Traum bearbeite, indem ich die Charakteristika eine Melodie verstärke oder ein Gebäude oder auch ein Automodell auf einen leeren Stuhl setze und mit ihm in einen Dialog eintrete.
Auf diese Weise könnte die Gestalttherapie die Chance ergreifen, sich nicht nur als Therapierichtung sowie als Lebenshaltung und Lebensform zu entwerfen, sondern sich auch als eine Form von Kulturwissenschaft zu begreifen. Dass ein solcher Weg in die Kulturwissenschaft für eine psychotherapeutische Strömung außerordentlich produktiv sein kann, zeigt meines Erachtens nach die Geschichte der Psychoanalyse, während der im Laufe mehrerer Jahrzehnte aus den Stämmen der Psychoanalyse als Therapieform sowie als Weltsicht und Lebenshaltung so verschiedene kulturwissenschaftliche Zweige erwuchsen, wie die schon erwähnte psychoanalytische Literaturwissenschaft, aber auch wie die psychoanalytische Kunstwissenschaft, Musikwissenschaft und Filmtheorie oder auch die psychoanalytische Kulturtheorie im Allgemeinen (Kraft 2007; Schönau 1991; Schmiedl-Neuburg u. Böge 2017).
Vor dem Hintergrund des bisher Betrachteten erscheint mir nichts grundsätzlich dagegen zu sprechen, die obigen Überlegungen zur gestalttherapeutischen Lektüre von Texten, seien sie literarisch und poetisch oder seien sie philosophisch, wissenschaftlich oder alltäglich, auch auf andere künstlerische Kulturprodukte, wie Kunstwerke, Filme, Theater- und Musikstücke, oder auch auf kulturelle Alltagsgegenstände auszudehnen und damit die Grundlagen für gestalttherapeutische Ansätze und Zugänge nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch in der Kunstwissenschaft, der Medienwissenschaft, der Musikwissenschaft, der Theaterwissenschaft und den anderen Kulturwissenschaften zu schaffen. Die Gestalttherapie könnte sich selbst so auch als kulturwissenschaftlichen Ansatz, als eine besondere Art der Kulturphänomenologie und Kulturhermeneutik entdecken, was ihrer wissenschaftlichen Reputation und Anbindung an wissenschaftliche Diskurse förderlich wäre, den Kulturwissenschaften neue Deutungs- und Verstehensperspektiven eröffnete und zugleich auch für die therapeutische Praxis und die Theorieentwicklung der Gestalttherapie wie auch für die Gestalt als Lebenshaltung und Lebensform fruchtbar sein dürfte.
9. Ein Nachkontakt zu Lesen und Gestalt
Wir kommen so an das Ende unseres Weges durch das Feld gestalttherapeutischen Lesens und damit auch an das Ende dieses Textes. Ich hoffe, dass im Lesen dieses Textes Leser und Leserin neuen Gedanken zum Lesen begegnen konnten und auch die Gestalttherapie ihm oder ihr in ihren verschiedenen Haltungen, Prinzipien, Grundgedanken und Ansätzen noch einmal auf andere, neue Art und Weise erschienen ist. Für mich selbst galt dies zweifelsohne in der Erfahrung des Schreibens dieses Textes.
Darüber hinaus hoffe ich, Möglichkeiten angedacht und aufgezeigt zu haben, die es der Gestalttherapie in ihrem Selbstverständnis erlauben, sich nicht nur als Therapierichtung und/oder als Lebensform zu verstehen, sondern sich auch – wie es etwa die Psychoanalyse seit langem erfolgreich getan hat – als kulturwissenschaftliche Theorie und Methodologie neu zu entwerfen und als solche einen ungewöhnlichen und humanistisch-wachstumsorientierten Beitrag zum Verstehen von Literatur, Kunst und Kultur allgemein zu leisten.
Schließen möchte ich diesen Text jedoch mit einer weniger ambitiösen Anregung. Konzentrierte ich mich in diesem Text zwar als Beispiel auf das perlssche Gestalt-Gebet, um an diesem meine Gedanken konkret erfahrbar zu machen, so sollten wir nicht vergessen, dass auch dieser Aufsatz selbst ein lesbarer Text ist. Daher möchte ich, Sie, als Leser oder Leserin, einladen nachzuspüren, wie Sie diesen Text hier und jetzt gelesen haben, z. B. was für Gestalthaltungen Ihnen in der eigenen Lektüre dieses Texts deutlich wurden, wie Ihr eigenes Selbst im Umgang mit diesem Text erschien, wie sich der Text als Phänomen Ihnen zeigte und wie der Kontaktzyklus mit etwaigen Kontaktunterbrechungen mit diesem Text verlief, was Ihnen als offene Gestalten des Textes aufschien und schließlich, wie Sie mit diesem Text über das einfache Gestaltlesen hinaus gestaltmäßig lesend weiter umgehen könnten.
1 Vgl. zu Kontakt, Begegnung und Beziehung Staemmler 2009, S. 15-22.
2 Bei dem Schreiben in der Gestalt scheint es sich mithin um eine Form der lebendig-produktiven, poetisch-kreativen sprechenden Sprache im Sinne Merleau-Pontys zu handeln, welche er in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (Merleau-Ponty 1966/1974) von der abgestorben-sedimentierten gesprochenen Sprache unterscheidet.
3 Vgl. zum Gestalt-Gebet Dinslage 1990, S. 22-27.
4 Vgl. zur Gestalthaltung und Gestaltgrundlagen Dinslage 1990, 9-32; Staemmler 2009, S. 23-27; de Roeck 1985, S. 14-26.
5 In der Literaturwissenschaft finden sich verwandte Positionen etwa in der phänomenologischen Literaturtheorie, etwa bei Roman Ingarden und seinem Werk Das literarische Kunstwerk (Ingarden 1931). Mit solchen phänomenologischen Positionen ebenso wie mit hermeneutischen Ansätzen wie dem Hans-Georg Gadamers könnte sich gestalttherapeutisches Lesen bzw. umfassender eine gestalttherapeutische phänomenologische Literatur- Kunst- und Kulturhermeneutik in einen fruchtbaren Dialog begeben.
6 Auf einer höheren Integrationsebene könnten wir allerdings auch das auf Ganzheit und Integration konzentrierte Wahrnehmen und Lesen der Gestalt und das auf analytische Zerlegung und freie Assoziation gerichtete Lesen der Psychoanalyse als grundsätzliche Polaritäten des Lesens auffassen, welche selbst wiederum gestalttherapeutisch miteinander zu integrieren wären.
7 In der strukturalistischen Literaturtheorie entsprächen den Polaritäten insbesondere die binären Oppositionen, ohne dass der Strukturalismus allerdings den gestalttherapeutischen Anspruch auf Vermittlung und Integration der Oppositionen erheben würde, da es ihm in seinem Wissenschaftlichkeitsanspruch um ein reines Textanalysieren geht und nicht wie einer gestalttherapeutischen Lektüre um das Aufweisen von Entwicklungspotentialen eines Textes.
8 Dies gilt, am Rande bemerkt, nicht nur für die Rezeption eines Textes, sondern auch für seine Produktion in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und in einem bestimmten Feld, denn diese Umstände des Woher und Woraus prägen sein Was, sein Wofür und insbesondere sein Wie in hohem Maße und können dann in der Lektüre auch erfahren werden. Hier liegt zweifelsohne eine Stärke der psychoanalytischen Perspektive.
9 In diesem Ich-und-Du-Verhältnis gibt es einige Parallelen zur hermeneutischen Literaturtheorie und zum Phänomen des hermeneutischen Zirkels im Sinne Hans-Georg Gadamers in Wahrheit und Methode (Gadamer 2010), wenngleich auch die Gestalt das Phänomenologische gegenüber dem Hermeneutischen i.e.S. in den Vordergrund rücken würde.
10 In der Sprache der strukturalistischen Sprach- und Literaturwissenschaft gilt insofern die Aufmerksamkeit der Gestaltlektüre nicht nur den Signifikaten, sondern auch und besonders den Signifikanten der Zeichen, d. h. ihrem physisch-sinnlichen, geformten Material. In der Perspektive klassischer Sprachwissenschaft würde die Gestalt zudem auf diese Weise nicht nur diese Ebenen von Phonologie und Morphologie sowie die Ebenen von Semantik und Syntax, sondern auch die Ebene der Pragmatik eines Textes bzw. in literaturwissenschaftlicher Hinsicht nicht nur seine propositionale, sondern auch seine rhetorische und poetische Dimension berücksichtigen.
11 Die theologisch-hermeneutische Tradition, etwa in der Bibelkritik, sprach hier von eisegetischem Verhalten, dem Hineinlesen und Hineininterpretieren von eigenen Gedanken in einen Text.
12 Vgl. zu diesen gestalttherapeutischen Techniken Dinslage 1990, S. 92-101.
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Autor:in: PD Dr. Hilmar Schmiedl-Neuburg, ist Privatdozent am Philosophisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Faculty am Department of Philosophy der University of Massachusetts Boston. Zu seinen beruflichen Stationen gehören Vertretungsprofessuren, Gastdozenturen und Fellowships in Kiel, Hamburg, Wien, Berlin, Prag, Boston und Harvard in den Gebieten Philosophie bzw. Psychotherapie. Er ist Dozent am John-Rittmeister-Institut für Psychoanalyse, Kiel, und Gestalttherapeut in freier Praxis.
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