Ulrike Bondzio-Müller
Y – Z Atop Denk 2022, 2(1), 2.
Abstract: Die Beobachtung einer alltäglichen und zufälligen Szene regt die Autorin an, Freuds Fort-Da aus Jenseits des Lustprinzips erneut und wieder zu lesen. Einen Perspektivwechsel auf und mit Fort-Da findet seinen Ausgangspunkt bei einer Interpretation dieses Kinderspiels des Enkels Freuds durch einen kurzen Text Slavoj Žižeks. Schließlich geht die Autorin der Frage nach „Wer genießt in dieser zufälligen, alltäglichen beschriebenen Szene, was?“ und sie deutet die Szene unter dem Aspekt des ‚rätselhaften Signifikanten‘.
Keywords: Fort-Da, Begehren, Genießen, Freud, Žižek, Laplanche, rätselhafter Signifikant
Veröffentlicht: 25.01.2022
Artikel als Download: Vom Genießen des Fort-Da
„Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so dass sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen „Da“. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing“ (Freud, 1920, S. 12 f.)
München im Sommer 2021
An jenem Sommermorgen fahre ich gegen 07:30 Uhr mit dem Fahrrad entlang des Englischen Gartens in die Praxis. Das ist die Tageszeit, zu der vor allem Schüler auf dem Weg in die Schulen sind und Eltern ihre Kinder in den Kindergarten bringen. Vor mir fährt ein Mann, an dessen Lenkerstange des Fahrrads in Fahrtrichtung ein Kindersitz befestigt ist. Auf diesem sitzt ein vielleicht grad dreijähriges Mädchen, den Mann, von dem ich annehme, es sei der Vater, nicht sehend, hinter sich. Die linke Hand des Mädchens hängt entspannt nach unten, sodass sie das Knie des Vaters immer dann, wie zufällig leicht und für einen kurzen Moment berührt, wenn er sein linkes Bein beim Radeln auf der oben sich befindenden Pedale anwinkelt, während sein rechtes Bein, auf der sich unten befindenden Pedale gestreckt ist. So entsteht durch das gleichmäßige in die Pedalen Treten des Vaters für das Kind ein ebenfalls gleichmäßiger Rhythmus von ‚Knie berührt Hand/ Knie berührt Hand nicht‘ bzw. umgekehrt.
Ich schaue mir, hinter den beiden fahrend dieses Fort-Da eine Weile an. Mich interessiert nach dieser Weile aber auch, welchen Gesichtsausdruck das Kind bei diesem vermutlich unbewusst inszenierten Fort-Da des Knies, bei diesem Fort-Da der Berührung wohl zeigt. Ich überhole das Gespann und schaue dabei kurz nach rechts. Was ich sehe, lese ich als – Genießen.
Freuds Beschreibung des Holzspulen-Spiels seines anderthalbjährigen Enkels Ernst, der möglicherweise nicht zuletzt durch diese Beobachtung zu seinem Lieblingsenkel wurde, hat mich aus verschiedenen Gründen immer schon fasziniert. Freud selbst sieht in diesem Spiel für das, durch die Abwesenheit der Mutter traumatisierte, Kind die Möglichkeit, seine Angst zu überwinden und sich zum Herrn der Lage zu machen. In Freuds eigener Deutung wird demnach die Mutter durch die Holzspule ersetzt und im Spiel des „mal ist sie ab-/ mal ist sie anwesend“, kurz im Fort-Da, wird ihr Erscheinen sowie ihr Verschwinden inszeniert, wird Ernst selbst zum Regisseur ihrer Ab- bzw. Anwesenheit.
Für den Strukturalismus und die an ihm orientierte strukturale Psychoanalyse sind zudem die beiden Laute „o-o-o und aaahhh“ von Gewicht, die von Freud als eben jenes „Fort-Da“ gehört und gedeutet wurden und dem das Spiel sowie der Abschnitt aus Jenseits des Lustprinzips seinen Namen verdanken. Die Signifikanten „o-o-o / Fort“ und „aaahhh / Da“ kennzeichnen in Verbindung mit Auftauchen und Verschwinden der Holzspule einen Eintritt in die Sprache, einen Zugang zur symbolischen Ordnung und damit ersetzt die Spule nicht einfach nur die Mutter, sondern das Spiel wird zu einer grundlegenden sprachlichen Symbolisierung ihrer An- und Abwesenheit.
Bei Slavoj Žižek (2002) stieß ich neulich auf eine noch andere Deutung des Freud’schen Fort-Da, die auf die psychoanalytische Arbeit mit jenen Analysanden ein anderes Licht wirft, für die die Ablösung von der Mutter, den Eltern problematisch bis unmöglich scheint. Žižek stellt sich die Frage, was es für das Fort-Da bedeutete, wenn die Holzspule als solche nicht für die Mutter stehe, sie symbolisch ersetze, sondern für das, was Lacan „Objekt klein a“ nennt? a bezeichnet in der Nomenklatur Lacans ja jenes Objekt, das vom Anderen (in diesem Fall der Mutter) im Subjekt (dem Kind) gesehen wird und das es zum Gegenstand des Begehrens (hier des Begehrens der Mutter) macht. Eine Antwort auf die Frage „Steht die Holzspule nicht vielleicht für Objekt klein a?“ lautet: Wenn das Spiel so betrachtet wird, wiederholt Freuds Enkel Ernst nicht das Verschwinden und Wiederauftauchen seiner Mutter, sondern sein eigenes. So gelesen ist nicht die Abwesenheit des Anderen (der Mutter) das Problematische, Traumatische für das Kind - sondern dessen (deren) Präsenz. Eine Präsenz, von der Žižek als einer überwältigenden Anwesenheit spricht, in der es einerseits um die Angst gehe, im Genießen, der jouissance des Anderen gefangen zu sein, und andererseits um den Wunsch, dieser Einschließung zu entkommen. In dieser Lesart des Fort-Da aus Jenseits des Lustprinzips ginge es somit um die Distanz, die im Hin-und-Her der Holzspule und in der sprachlichen Symbolisierung zwischen dem Kind und seiner Mutter entsteht, in der sich Raum für das eigene Begehren auftut und wenn’s gut läuft, aufrecht erhalten bleiben kann.
Mit dieser Antwort Žižeks wird Freuds Beschreibung des kindlichen Spiels als Darstellung des Begehrens an sich lesbar. Dieses spannt sich zwischen zwei Polen auf, von denen beide für sich genommen unbefriedigend bleiben (müssen). In der Begehrensstruktur ist vollständige Befriedigung (und Befriedung) des Begehrens weder vorgesehen noch wünschenswert noch erreichbar. Es bleibt immer ein Rest, es bleibt immer etwas offen. Das Begehren etabliert sich gerade in diesem Schwanken, Oszillieren zwischen Fort und Da, zwischen Ab- und Anwesenheit. Es zeichnet sich zudem selbst durch seine Unfasslichkeit im Wechsel des Auftauchens und Verschwindens aus.
Worin mag das, im Gesicht des kleinen Mädchens mir lesbare, Genießen, auf dem Fahrrad des Vaters sitzend, an jenem Sommermorgen bestanden haben?1 Zum einen womöglich in der wiederkehrenden Berührung und damit in der sich, mit jedem Pedaltritt wiederholenden Bestätigung der Anwesenheit des Vaters. Zum anderen aber wohl auch in der Spannung, der Ungewissheit, die im Moment des Lösens der Hand vom Knie eingesetzt haben mag: Wird es tatsächlich eine weitere Berührung der eigenen Hand mit dem Knie des Vaters geben? Welche Veränderung der eigenen Handhaltung führt dazu, dass die Berührung ganz ausbleibt? Oder ist die Dauer der Berührung, die Bestätigung der (körperlich spürbaren) Anwesenheit des Vaters ausdehnbar, wenn die eigene Hand die Bewegung des väterlichen Knies so weit wie möglich mitmacht?
Und was zog mich an diesem Sommermorgen, hinter den beiden her radelnd, in den Bann? Worin bestand mein eigenes Genießen bei der Beobachtung dieses Wechselspiels von Berührung und Lösung? Dass es sich bei der zufällig beobachteten, etwas anderen Fort-Da Szene auch um eine erotisch gefärbte handelte, - dies lief bei mir währenddessen, in der Beobachtung vorbewusst mit.
Jean Laplanche verwendet in seinem Aufsatz Von der eingeschränkten zur allgemeinen Verführungstheorie die Formulierung des, für das Kind, „rätselhaften Signifikanten“ (Laplanche 2017, S. 165) und meint damit verbale wie nicht-verbale Signifikanten, die in ihrer (sexuell konnotierten) Rätselhaftigkeit einer Übersetzung bedürfen. Übersetzung bzw. dessen Versagung meint hier jenen Vorgang, den Freud in seinem Brief an Wilhelm Fließ vom 6. Dezember 1896 beschreibt: „Die Versagung der Übersetzung, das ist das, was klinisch ‚Verdrängung‘ heißt. Motiv derselben ist stets eine Unlustempfindung, die durch Übersetzung entstehen würde, als ob diese Unlust eine Denkstörung hervorriefe, die die Übersetzungsarbeit nicht gestattet.“ (Freud 1986, S. 219).
Wenn dieses andere Fort-Da von mir mit einer erotischen Einfärbung gesehen und gedeutet wurde, so wohl auch deshalb, weil der ‚rätselhafte Signifikant‘, der sich non-verbal zwischen Vater und Tochter inszenierte, von mir, als rätselhaft bleiben dürfend, wahrgenommen wurde. Mehr noch, – gerade diese Rätselhaftigkeit mag es gewesen sein, der das Genießen des Mädchens galt. Freud (z.B. 1896, S. 439) und mit ihm Laplanche (2017) in seinem Text zur Allgemeinen Verführungstheorie sprechen im Zustand der sexuellen Unreife als Voraussetzung für den Eintritt des (sexuellen) Traumas vom „Unvorbereitet-Sein“ des Kindes. Im Umkehrschluss könnte dies heißen, dass es zu einer gelingenden, nicht traumatisierenden / traumatisierten psychosexuellen Entwicklung gehört, sich nicht-wissend vorzubereiten, sich vorbereiten zu können. Den rätselhaften verbalen und non-verbalen Signifikanten zu begegnen, mit ihnen in Berührung zu kommen, ohne dass sie ihres Rätsels entkleidet werden. Ohne dass ihnen durch einen traumatisierenden Übergriff das Rätsel entrissen wird. Das macht Erotik (aus).
Nach der Relektüre Freuds und dem Žižek-Fund lautet so die Antwort auf die Frage „Worin bestand mein Genießen in der Beobachtung dieses etwas anderen Fort-Da?“. Zudem: Mein Genießen galt auch der Beobachtung des Dazwischen, galt auch der Wahrnehmung jenes Moments, in dem das Knie des Vaters sich von der unverändert positionierten Hand des Mädchens löste, diese für sehr kurze Zeit in der Luft hing, bis sie erneut wieder für einen kleinen Moment mit dem sich nach oben bewegenden Knies des Vaters, in Berührung kam.
Möglicherweise bescherte mir die Beobachtung zudem eine Art Mehr-Genießen, indem das Mädchen auf dem Fahrradsitz die Position ihrer Hand nicht veränderte, sie die Hand in der Schwebe, buchstäblich in der Position des Bindestrichs zwischen den beiden Worten Fort und Da hielt. Oder anders: Mein Genießen galt auch dem sich wiederholenden Dazwischen des Nicht-Mehr und Noch-Nicht.
1 Wäre das Genießen eines Jungen an selber Stelle ähnlich gewesen? Eine Frage, über die sich im Rahmen von Psychoanalyse und Gender nachdenken ließe, aber einen anderen Text ergäbe.
Literaturverzeichnis
Freud, Sigmund (1896): „Zur Ätiologie der Hysterie“. GW I, 423-459.
Freud, Sigmund (1920): Jenseits des Lustprinzips, GW XIII, 1 – 69.
Freud, Sigmund (1986): Briefe an Fließ. 1887-1904. Frankfurt a.M.: S. Fischer.
Laplanche, Jean (2017): Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel.
Žižek, Slavoj (2002). Jenseits des Fort-Da-Prinzips. Der Freitag. https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/jenseits-des-fort-da-prinzips [23.11.2021].
Autor:in: Ulrike Bondzio-Müller, Dipl.-Psych., ist seit 1994 in eigener psychoanalytischer Praxis in München tätig.