Notizen aus dem Lehnstuhl

Nico Graack

Y – Z Atop Denk 2022, 2(3), 3.

Abstract: Die Aktionsform der (Autobahn-)Blockade sorgte kürzlich wieder für Diskussionen – um Erpressung und Anti-demokratischen Totalitarismus handle es sich. Auf der anderen Seite wird die aufstehende Jugend idealisiert, als eine quasi-messianische Gestalt phantasiert. Beiden Sichtweisen ist gemein, dass sie den eigentlich politischen Kern der Klimagerechtigkeitsbewegung übersehen: Einen radikalen Diskursabbruch. Zumindest in den politischen Sternstunden geht es um einen solchen. Man kann sagen, dass der "Aufstand der letzten Generation" mit den aktuell laufenden Blockaden genau diese Dimension verfehlt – Sie wollen "die Wahrheit sagen", aber die weiß bereits jede:r. Sosehr sie auch strategische Finesse beweisen, muss ihnen doch eins vorgeworfen werden: Ihre Fakten sind so schrecklich wahr, ihre Forderungen so schrecklich realistisch.

Keywords: Klimakatastrophe, Lacan, Blockade, Unmöglichkeit, Schweigen, Žižek, Aufstand der letzten Generation

Veröffentlicht: 31.03.2022

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„Ich hab keine Zeit für euch Arschlöcher, ich muss zur Arbeit“ – Er schreit und zerrt an den Menschen, die dort vor ihm auf der Straße sitzen. Die Hände Einiger brennen unter dem rissigen Sekundenkleber, der sie mit der Fahrbahn verbindet. Ich muss an die Pfefferspraywolken im französischen Orgeval vor zwei Jahren denken, wo ein Mob aus wütenden Schnäppchenjägern die Stadt in Aufruhr versetzte, als ihnen der Discounter aufgrund ihrer schieren Anzahl den Zugang zum unverschämt günstigen Angebot der neuen Videospielkonsole verwehrte (vgl. Greß 2022, S. 8f.). Wo die Sublimierung der Videospielerfahrung zum heiligen Recht noch einiges an Sympathie wecken kann, wird dieselbe Obsession der deutschen Nachbarn mit ihrer Selbstverdinglichung zur zynischen Komödie.

Die verklebten Hände gehören zu Menschen des Aufstands der letzten Generation, die seit einiger Zeit regelmäßig Straßen und (Luft-)Häfen blockieren und dabei ein Gesetz gegen das Wegwerfen von Lebensmitteln im Stile Frankreichs fordern, sowie eine „Agrarwende“, um die Treibhausgasemissionen in der Landwirtschaft zu senken und die Versorgung mit Lebensmitteln auch in der weiter eskalierenden Klimakatastrophe sicherzustellen – eine Gruppe von Menschen, die sich nach Streitereien strategischer Art als eine von zwei Gruppen aus dem Hungerstreik der letzten Generation vergangenen Winter in Berlin entwickelte. Die andere Gruppe hat den auffallend ähnlichen Namen Aufbruch der letzten Generation. Der Vergleich mit den Spaltern von der Judäischen Populären Volksfront (vgl. taz 16.02.22) drängt sich zwar auf, ist aber unangebracht: Die Spalter sind schließlich die Anderen.

Wie dem auch sei, der Bezug auf die Lohnarbeit findet sich in der affektiven Auseinandersetzung mit der Aktionsform der Blockade mit jener erstaunlichen Regelmäßigkeit, die nur die prä-sprachlichen Reflexbögen ideologischer Lautketten erzeugen können: Wo junge Menschen protestieren, noch dazu mit langen Haaren, da muss betont werden, dass man selbst zur Arbeit geht – und die ja offensichtlich im Hotel Mama wohnen (vgl. COMPACT.Der Tag 09.02.22). Ob „Gammler“ in der Post-Wirtschaftswachstum-BRD, „Sozialschmarotzer“ im neoliberalen Taumel der 2000er oder nun eben „Klimagören“: Dieses Ideologem ist seit jeher ein Mittel im Werkzeugkasten der Selbstberuhigung des kapitalistischen Betriebs.

 

1. Sagt die Wahrheit?

Und die Außendarstellung der Gruppe versucht genau diesem Ideologem von den verwöhnten Mittelstands-Kids zu begegnen: Aus den Gesichtern der Gruppe auf ihrer Homepage spricht ein Schnitt quer durch soziale Milieus und Altersgruppen und konterkariert damit den Namen der Gruppe, der eindeutig die aufstehende Jugend anruft. Das folgt einer Logik, die von Extinction Rebellion aus ihren Weg durch die Klimagerechtigkeitsbewegung findet: „Sagt die Wahrheit!“ – Den „Fake News“ wird mit richtigen „News“ begegnet: Faktisch handelt es sich längst nicht nur um die weiße, akademische Jugend.

Die Logik des „Sagt die Wahrheit“ ist die Logik des „Wir brauchen nur den Fakten zuzuhören“ – ob nun den Fakten der Klimaforschung oder der soziologischen Zusammensetzung der Gruppe. Es ist aber kein Geheimnis: In beiden Fällen prallt das von den Adressat:innen ab. Und das gerade nicht nur in der Form der schlichten Verneinung („Das glaube ich nicht!“), sondern vor allem und am wirksamsten in der Form der Verleugnung des „Ja, aber..“ („Ja, die Klimakatastrophe gibt es, aber es ist kompliziert, wir müssen ökologische und ökonomische Ansprüche zusammenbringen“ und die ganzen etceteras). Die Fakten werden angenommen, gerade um effektiver verleugnet zu werden. Als Reaktion nur das schlichte Bombardement mit Fakten weiterzuführen scheint da recht aussichtslos.

 

2. Die Konfrontation mit dem Schweigen

Es ist zuweilen ein gewisses Heilsversprechen im Zusammenhang mit der Klimagerechtigkeitsbewegung zu hören – Auf detektor.fm erklingt das in der Form der Frage „Hören wir den Kids genug zu?“ (detector.fm 08.02.2022), deren Antwort natürlich von vorneherein klar ist: Würden wir den „Kids“ mehr zuhören, wäre alles besser. Als jemand, der noch das Vergnügen hat, sich zur jungen Generation zählen zu dürfen, und das noch größere Vergnügen, selbst regelmäßig in irgendwelchen Blockaden zu sitzen, sage ich aber: Am stärksten ist meine Generation da, wo sie schweigt. In den politischen Sternstunden gibt es dort nichts, dem man zuhören könnte – keine Pläne, keine pragmatischen Lösungen. Es gibt einzig einen radikalen Diskursabbruch, der im Spektrum konservativ bis idiotisch zuweilen als anti-demokratischer Totalitarismus („Diese Blockaden sind doch Erpressung!“ oder auch „Bloße Chaoten, die nichts Besseres zu tun haben!“) missverstanden wird. Im Gegenteil: Dieser Diskursabbruch ist Demokratie. Es ist das ins Leere laufen lassen des Diskurses, den die Macht führt. Die Weigerung des demos, an diesem Diskurs weiter teilzunehmen.

Beim frühen Lacan finden wir folgenden Satz über die Ordnung des Realen, eine Antwort auf eine Frage des Zuhörers Leclaire: „Das Reale ist entweder die Totalität oder der entschwundene Augenblick. In der analytischen Erfahrung ist es für das Subjekt stets der Zusammenstoß mit etwas, zum Beispiel dem Schweigen des Analytikers.“ (Lacan 2013/1953, S. 52). Kurz darauf, im berühmten Rom-Vortrag, wird Lacan sagen, dass der Analytiker den Diskurs des leeren Sprechens auflaufen lassen muss, schweigen muss, um dem Stottern des vollen Sprechens Raum zu geben (vgl. Lacan 1973/1953, S. 85). Ist es das, was wir in den Blockaden tun – Die Konfrontation mit dem Realen herbeiführen?

 

3. Das Reale der Klimakatastrophe

Diese fundamentale Unmöglichkeit, dieser rasende Deadlock, ist auch – bleiben wir bei Lacans Bemerkung – eine Totalität: Sie strukturiert das gesamte Feld des Diskurses um die Klimakatastrophe. Man kann sich nicht nicht zu ihr verhalten – die Klimakatastrophe ist im vollen, badiouschen Sinne ein Ereignis. In aller Regel verleugnet man sie, aber auch das ist ein Verhalten zu ihr. Ob man das nun macht, indem man die Klimakrise mit viel Tramtam anerkennt und sich dann aber mit E-Autos beruhigt, oder ob man gleich die Krise selbst verleugnet, spielt nicht so eine große Rolle.

Also – die Blockade, das heißt: Der objektive Deadlock der rasenden Mehrwertproduktion – die „Sachzwänge“, die der neoliberale Betrieb so gerne beschwört – wird im handgreiflichen Deadlock des Berufsverkehrs subjektiviert. Man könnte nun versucht sein, den Schluss zu ziehen, dass die formulierten Forderungen überflüssig sind – man könnte versucht sein, sich selbst zum Agenten des Einbruchs des Realen, des reinen Ereignisses zu machen, wie es in ehrlichster Form die Anarchist:innen artikulieren, die sich über Forderungen selbst lustig machen (Crimethinc 2015).

Das aber wäre in der Tat der anti-demokratische Totalitarismus, den einige darin zu sehen meinen. Ja, die Klimakatastrophe ist ein Ereignis, ein Einbruch des Realen – aber gerade als solches ist sie leer. Sie gibt uns keine politischen Inhalte vor. Das Reale ist das, was sich jedem einzelnen Akt der Symbolisierung oder Imaginierung widersetzt. Gerade in diesem Sinne ist es eine Totalität, eine negative Totalität sozusagen: Es ist das, was alles in Gang hält, worum sich alles dreht – gerade, weil jeder einzelne Akt scheitert.

Daraus aber den Schluss zu ziehen, dass wir auf die Versuche der Symbolisierung des Realen – in diesem Fall: Das Aufstellen von Forderungen, die auf die Situation antworten können – gleich ganz verzichten können oder aber sie zwar brauchen, aber nicht ernstnehmen müssen, weil sie sowieso nicht den gewünschten Effekt erzielen können – das gerade ist die Position der Perversion im Politischen, wie sie Žižek herausarbeitet:

„Der Perversion verfallen wir nur, wenn wir akzeptieren, dass es ein Absolutes gibt, das (selbst-)transgressive Spielchen spielt, um sich zu amüsieren. Folglich ist diese gesamte Konfiguration im Ganzen abzulehnen – sie beruht auf der zynischen Lesart von »les non-dupes errent«: Man muss das Spiel mitspielen, sich täuschen lassen, selbst, wenn man weiß, dass es falsch ist. Die Formel »les non-dupes errent« bedeutet jedoch etwas anderes: Wer nicht getäuscht wird, irrt, nicht nur pragmatisch (wir brauchen Illusionen, um unser Begehren aufrechtzuerhalten), sondern auch ganz eigentlich, in Bezug auf die Wahrheit selbst. Das Spiel nur mitzuspielen, ohne es ernst zu nehmen, ist nicht der Ausweg.“ (Žižek 2020, S. 101)

Aus der Einsicht, dass die Klimakatastrophe eine Konfrontation mit dem Realen ist, der keine formulierbare Forderung, kein absehbarer Entwurf gerecht werden kann und auf die insbesondere nicht im vorherrschenden Diskurs geantwortet werden kann, dürfen wir nicht die zynische Folgerung ziehen, auf jede Forderung zu verzichten oder aber unsere eigenen Forderungen nicht ernst zu nehmen.

 

4. Politisches Schweigen: Das Unmögliche

Dem Aufstand der letzten Generation ist also nicht vorzuwerfen, dass er Forderungen formuliert, Symbolisierungsversuche wagt, während des Diskursabbruches – der Inszenierung des Realen sozusagen. Ihm ist einzig anzulasten, dass diese Forderungen so schrecklich realistisch sind. Ein Gesetz, was es in Frankreich schon gibt? Natürlich ist das strategisches Kalkül: Erst einmal einfache Siege erringen und von dort weiter. Mit etwas bösem Willen könnte man sagen: Eine strategisch verzierte Variante des „Die eigenen Forderungen nicht ernst nehmen“. Niemand dort geht ernsthaft nur wegen des Wegwerf-Verbots für Lebensmittel in Polizeigewahrsam. Und die „Agrarwende“, das ist offensichtlich ein leerer Signifikant, das kann alles und nichts heißen; nur fehlt ihm die Dignität der anderen leeren Signifikanten, die aktiv umkämpft sind – Demokratie, (Klima-)Gerechtigkeit, Freiheit & Co. – und wird so erwartungsgemäß im Diskurs zu den Blockaden nicht einmal gesehen.

In der politischen Erfahrung kann es nicht um schieres Schweigen gehen, soweit ist der Ansatz fruchtbar – ebensowenig wie in der analytischen. Die lacansche Analyse besteht ja nicht aus bloßem Schweigen. Sie besteht aus Interpunktionen, kleinen Gesten, Deutungen. Das Schweigen ist die Konfrontation mit etwas, der Zusammenstoß mit einer Unmöglichkeit: Der Unmöglichkeit, den bisherigen Diskurs fortzuführen. Es geht nicht um schieres Schweigen – es geht darum, den Diskurs der Macht mit Unmöglichkeit aufzusprengen.

Wie könnte das aussehen? Unmöglichkeit ist nicht gleich bloße Nicht-Möglichkeit. Die Forderung nach sofortiger Beendigung jeder Naturzerstörung zum Beispiel ist schlicht nicht möglich: Jede Form von Stoffwechsel mit der Natur schließt „Zerstörung“ ein. Das Unmögliche im Politischen hingegen ist das, was im Kontext unserer bisherigen Institutionen und Regeln nicht geht – auf dem Unmöglichen zu beharren, das ist das politische Schweigen.

Ein Beispiel: So etwas wie ein Klimalieferkettengesetz, in dem Unternehmen hierzulande für Naturzerstörung entlang der Lieferkette verantwortlich gemacht werden. Natürlich ist das nicht schlechterdings nicht möglich. Aber unter allen Paradigmen von Wirtschaftswachstum, von Mehrwerterwirtschaftung und globalen Abhängigkeitsverhältnissen, ist das sehr wohl unmöglich. Das wäre eine Forderung, die uns mit der inhärenten Unmöglichkeit der Klimakatastrophe konfrontiert: Wenn unser Wirtschaftssystem zusammenbricht, sobald wir Zerstörung nicht mehr outsourcen können – dann kann die Konsequenz nicht sein, die Zerstörung halt fortzuführen, sondern dann müssen wir die grundlegenden symbolischen Koordinaten unseres Zusammenlebens infrage stellen. Bis dahin schweigen wir.

 

 


Literaturverzeichnis

CrimethInc (2015): „Warum wir keine Forderungen stellen“. In: CrimethInc. https://de.crimethinc.com/2015/05/05/warum-wir-keine-forderungen-stellen

Greß, Johannes (2022): Konsumideologie. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Lacan, Jacques (1953): Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. In: Jacques Lacan (2013): Namen-des-Vaters. Wien: Verlag Turia + Kant.

Lacan, Jacques (1953): Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Jacques Lacan (1973): Schriften I. Olten: Walter-Verlag. S. 71-170.

Lang Fuentes, Ruth (2022): „Aufbruch oder Aufstand“. In: taz. https://taz.de/Nachfolge-Aktionen-der-Hungerstreikenden/!5831413/

Lebedjew, Ina, Luckow u. Anna, Plekat, Sara-Marie: „Hören wir den Kids genug zu?“. In: detektor.fm. https://detektor.fm/gesellschaft/mission-energiewende-klima-und-kinder

Žižek, Slavoj (2020): Hegel im verdrahteten Gehirn. Frankfurt: Fischer Verlag.

O.V. (2022): „COMPACT.Der Tag: So gefährlich ist die ‚letzte Genera-tion‘“. In: PI-news. https://www.pi-news.net/2022/02/compact-der-tag-so-gefaehrlich-ist-die-letzte-generation/

 

Autor:in: Nico Graack studiert Philosophie und Informatik in Kiel und Prag. Er arbeitet als freier Autor und Journalist.