Olga Grytska
Y – Z Atop Denk 2022, 2(6), 1.
Abstract: „Wo kommst Du her?“ ist für seit Langem in Deutschland wohnende Migrant:innen keine einfach zu beantwortende Frage – ist der Geburtsort gemeint oder die Stadt, in der jemand den jeweils vorherigen Abschnitt seines Lebens verbracht hat? Vielmehr können sorgevolle oder neugierige Fragen wie „Hast Du noch viel Bezug zu Deiner ‚Heimat‘?“, „Wie geht es Dir?“ und, wenn Krieg ist, „Hätte das nicht eigentlich vermieden werden können?“ Überforderung hervorrufen, mit der Betroffene dann allein bleiben. Die ersten Zeilen des folgenden Textes sind aus so einer Situation heraus – aus dem Bedürfnis nach einer überfälligen Auseinandersetzung – entstanden. Mit großen Unterbrechungen ist unter dem Einfluss des fortlaufenden Kriegsgeschehens in der Ukraine der Rest des Essays zusammengekommen, der vor allem einen Ausschnitt eines persönlichen Reflexionsprozesses bildet.
Keywords: Zuhause, Heimat, Ukraine, Krieg, Schreiber, Ahrendt, Bloch, Bachelard, Flusser
Artikel als Download: Zuhause-los
In letzter Zeit habe ich häufig an einen der Momente denken müssen, als ich die Stadt verließ, in der ich geboren bin; an einen Moment, der mich mit dem merkwürdigen Gefühl hinterließ, es gebe keinen Weg mehr zurück, in dieses Zuhause. Was hätte das schon bedeuten können? In diesem einen Moment schien sich Zuhause aus Orten zusammenzusetzen, an denen mein Leben stattfand, aus Straßen, auf denen ich täglich meine Wege ging.
Ich ging durch das Treppenhaus der frühen Nachkriegsbauten, in denen ich mit meiner Familie wohnte, in den vertrauten Innenhof – das Herz einer jeden Wohnanlage in Osteuropa. Bei einem Blick nach links hätte ich die Wohnungsfenster meiner Schwimmlehrerin gesehen, ein Stockwerk höher die einer Freundin und noch einer anderen Freundin direkt nebenan und noch weitere bei einem Blick nach rechts über den Spielplatz, in dem wir jeden Tag zwischen Schule und Tanz- oder Musik-Kursen spielten. Ein Ort, in den Google-Street-View keinen Einblick hat. Von Montag bis Freitag rannte ich über die – erst großen und quadratischen grauen, dann kleineren und in Mustern gelegten helleren – Fliesen im Innenhof geradeaus durch den hohen, in einem dreckigen pfirsichfarbenen Ton angestrichenen, Torbogen. Es fühlte sich an, als würde ich durch ein Tor schreiten, das die Außenwelt vom Spielplatz abschirmte, den meine Oma vom Balkon aus bis zu seinen Grenzen überblicken konnte, sodass sie auf mich aufpassen und ihr Herz ruhig schlagen konnte. So lief ich raus, immer zu spät, weil der Weg nicht allzu lang war. Der Asphalt auf der Straße war – vermutlich wegen der hohen Sommerhitze, die er Jahr für Jahr überstehen musste – mit Rissen übersäht und alle Bäume, die sich entlang des Bürgersteigs nebeneinanderreihten, waren weiß angestrichen. Die Farbe reichte vom Boden bis etwa zu meiner Kopfspitze. Die Risse in den asphaltierten Straßen und das Weiß der Baumstämme – das waren die beiden Sachen, die alle gemeinsam hatten. Alles andere – auf den Straßen zwischen den Bäumen geparkte Autos oder Klimatisierungsanlagen neben den Fensterrahmen an der Seite der Satellitenschüsseln – würde sich, abhängig von dem jeweiligen Einkommen der Eigentümer:innen, im Wert unterscheiden. Was ich jetzt als etwas Trauriges begreife, etwa als Zeichen von Ungerechtigkeit und nicht zuletzt als Folge langjährig etablierter Korruption, war für mich damals eine unendliche Vielfalt zum Begutachten, Entdecken und Bewundern. Nachdem ich an dem schöneren Spielplatz vorbeilief, stand ich an einer Kreuzung – gegenüber von mir der Kiosk, bei dem wir unser Brot kauften, und die Apotheke, bei der es die leckeren Halsschmerzpastillen gab, – dann wusste ich, dass ich nach links abbiegen musste. Noch einmal rechts abgebogen, ging ich an einer Bäckerei vorbei, die zu der Zeit noch neu war – jedes Mal roch ich das leckere Süßgebäck und träumte davon, in höheren Klassenstufen dort Schulpausen mit meinen Freunden zu verbringen.
Denn dort, auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag das zweite Zuhause eines jeden Kindes – das Schulgebäude. Und dort, rechts am Platz der Freiheit – dem Platz der Unabhängigkeit – war mein drittes Zuhause – eine Einrichtung, in der Kinder und Jugendliche allerlei Sprachen und Künste erlernen konnten. Dort waren auch die Wohnungen der Freunde meiner Eltern – die Hauptstraße des historischen Zentrums weiter runter oder am Stadtrand in Saltovka; das Opernhausgebäude, wo ich mit vier zum ersten Mal Puccinis „Turandot“ gesehen hatte – eine Dekade später war ich Teil einer Inszenierung in Kiel; der Barbarashova Markt, wo mir meine erste Schuluniform gekauft wurde und der hellblaue Jeansanzug für unseren besonderen ‚Urlaub‘ in Deutschland.1 Dort war Zuhause.
In einer Hinsicht behielt ich mit meinem Gefühl recht. Es würde keinen Weg zurück geben in das Leben, das ich vorher geführt hatte. Nicht aufgrund einer natürlichen Entwicklung – Erwachsenwerden, Anpassen, neue Orte bereisen, neue Menschen kennenlernen, neue Überzeugungen finden, Freunde verlassen, Familienmitglieder verlieren. Nicht einmal meinetwegen – weil ich die Stadt verließ, in der ich geboren worden war, ohne jemals wieder ‚dazugehören zu können‘; ohne zu wissen, dass ich mich einmal danach sehnen könnte, auf diese Weise ‚dazugehören zu können‘. Natürlicherweise kann niemand zu der Ruhe und Unschuld, oder, besser, Naivität zurückkehren, die mit Glück unsere, so schönen wie verfälschten, Kindheitserinnerungen prägen. Sondern, weil ich nicht zurückkommen können würde, nicht nachhause kommen können würde – zu dem mit Tongranulat aufgeschütteten Parkplatz hinter dem Wohnblock, in dem ich aufgewachsen war. Als Andenken hob ich dort einst eine kleine neongelbe Plastikkugel auf, die von einigen – manchmal gemeinen – mit Pistolen spielenden Kindern aus dem Hof liegengelassen worden war. Ist es nicht merkwürdig, sich an etwas Unangenehmes erinnern zu wollen, um sich an Zuhause zu erinnern? Jetzt gibt es keine sichere Google-Route zu der Eingangstür unten im Haus und jetzt spielen auch keine Kinder mehr, als seien sie Geheimagenten, vor dem Fenster meines Kindheitszimmers. Jetzt ist Krieg. Jetzt sind die Kugeln aus Metall. Einen Weg gibt es jetzt nicht, geschützte Straßen gibt es jetzt nicht und womöglich gibt es die Räume nicht, in denen ich als Kind zuhause war, und vermutlich gibt es den Ort, den ich Zuhause nannte, nicht mehr.
Mein Zuhause hatte sich weiterentwickelt. Ich war zunächst wegen der Neugierde meiner Familie auf andere Teile der Welt, die für uns so lange unerreichbar waren, und dann wegen des Krieges in der Ostukraine lange nicht mehr da gewesen. Mittlerweile sehnte ich mich nun schon mehrere Jahre lang danach und schaute regelmäßig nach den Reisekosten. Denn ich wollte sehen, wie es noch zuletzt war: schön, modern, im Aufblühen. Dass vieles anders als in meiner Erinnerung sein würde, dass ich vieles anders wahrnehmen würde, schreckte mich keineswegs ab. Im Gegenteil:
Nach Heimweh – der Sehnsucht nach dem Vertrauten, dem Bekannten, dem, wo ich verstanden und als dazugehörig empfunden würde – kam die Entfremdung – mein einstiges Zuhause und ich hatten uns teils ähnlich und teils für sich, unterschiedlich, entwickelt. Um in Deutschland ein Zuhause-Gefühl – ein Gefühl der Zugehörigkeit – wiederzuerlangen, hatte ich meine Herkunft verstecken, verdrängen und mich selbst ein Stück weit verleugnen müssen. Allerdings führten mich meine Bemühungen nicht zu dem gewünschten Ergebnis, sodass ich mich über einen langen Zeitraum hinweg zuhauselos fühlte und auch so darstellte, wenn mich jemand nach meiner Zugehörigkeit fragte. Sehnsüchtig nach einem Zuhause, welches ich nicht allein durch unbeständige zwischenmenschliche Beziehungen habe erschaffen können, lernte ich schließlich, meine Biografie zu akzeptieren. Darum wollte ich zurück – ich wollte zurück, um nach vorne blicken zu können, um mich in der Gegenwart verorten zu können.
Das möchte ich gerne erläutern.
Für mich persönlich ist es einfach, Kharkiv in guter Erinnerung zu behalten, da ich dort nur die Jahre meiner Kindheit verbracht habe. In der Regel ist die Kindheit und somit auch Zuhause, Daheim – Heimat mit einem Sicherheitsgefühlt assoziiert. Umgekehrt hat das Heimatliche etwas Kindliches, etwas Anfängliches an sich. Dort machen wir schließlich auch, ganz unabhängig ihrer Qualität, unsere allerersten Erfahrungen – wir vernehmen erstmals diverse, synästhetische Eindrücke jeder Art, die eine Referenz für spätere Erfahrungen bilden. Demnach werden sie immer wieder vom Unterbewusstsein herangezogen, sodass die Heimat mittels der Erinnerung stereotypisch einen Ort der glücklichen Rückkehr – ein happy place – bildet. Dabei möchte ich Heimat hier lediglich als jenes Zuhause begreifen, dessen konstitutives Merkmal nach Ernst Bloch für das Subjekt ein identitäres ist:
„Diese Kategorie Heimat, die auch eine philosophische Seite und Geschichte hat, kann bedeuten: Zuhausesein, […] Heimat wird aber meist verstanden, ungeheuer spießig, wo wir wieder so etwas Schlimmes haben wie bei den Nazis, wo auch Blut und Boden darin steckt. Aber zunächst ist Heimat ein philosophischer Begriff gegenüber Entfremdung. Das man in der Heimat identisch sein kann, daß die Objekte, wie Hegel sagt, nicht mehr behaftet sind mit einem Fremden, sondern wo das Objekt uns so nahe rückt wie das Subjekt, daß wir darin zu Hause sind. Auch die Kategorie des Zuhauseseins ist eine alte philosophische und auch mystische Kategorie ohne schlimmen Beigeschmack des Worts […].“ (Rainer u. Wieser 1977, S. 206-207)
Identitär im Sinne einer „Identität von Blickraum, Handlungs- und Erfahrungsraum und Wissensraum“, in dessen schützenden Ein-fachheit der Mensch in seiner frühen Entwicklung lebt, wie es die Autoren Markus Metz und Georg Seeßlen in Bezug auf Blochs Heimat-Definition erläutern (Metz u. Seeßlen 2019, o.S.). Es handelt sich also um eine Übereinstimmung von Innerem und Äußerem, die in Blochs Worten „[…] in einer revolutionären Inwendigkeit, die auswendig geworden ist, und zugleich Auswendigkeit, die wie das Inwendige aussieht“, bestünde: „Das wäre Heimat“ (Rainer u. Wieser 1977, S. 207) In seinem, im amerikanischen Exil entstandenen, Werk Das Prinzip Hoffnung stellt der Schriftsteller Heimat, entgegen aller Intuition, als etwas Noch-Nicht-Dagewesenes, als etwas Zukünftiges vor, welches in dieser Form erst noch sein wird (Bloch 2017). Dagegen stellt, der ebenso durch Exil geprägte, Vilém Flusser „Heimaten“ als etwas Bestehendes und Unveränderliches den „Wohnungen“ beziehungsweise dem gewissermaßen flüchtigen und zugleich notwendigen „Wohnen“ gegenüber – letzteres würde es für (den) Menschen in irgendeiner Weise immer geben, erstere verschwinden im Laufe der Geschichte irgendwann zwangsläufig (Flusser 1992). Daniel Schreiber formuliert es in seinen Ausführungen zum Heimatbegriff schmerzhaft pointiert: „In der Regel gibt es Heimat nur dann, wenn man glaubt, sie verloren zu haben.“ Damit bezieht er sich auf ein Verständnis von Heimat, die in einem von Sigmund Freud als „Verschiebung“ bezeichneten Vorgang zum Projektionsfeld für „ein komplexes Gemisch aus Sehnsüchten und Stimmungen“ wird, für die es keinen sprachlichen Ausdruck gibt als einen Namen – einen Ortsnamen. Da ein Ort jedoch üblicherweise für viele Menschen ihren Sehnsuchtsort darstellt, liegt hierin die gefährliche Korrelation zwischen persönlichen und gemeinschaftlichen Gefühlen: „Heimatgefühle, mit ihrem Schwerpunkt auf einer kollektiven, angeblich von allen geteilten Identität“, erklärt Schreiber, „sind nicht das Gleiche wie das Gefühl des Zuhauseseins“2 (Schreiber 2017, S. 33). Daher ist die Unterscheidung zwischen Heimat und Zuhause insbesondere im Zusammenhang mit einem Krieg, bei dem es unter anderem um – kulturelle – Identitäten geht, aus meiner Sicht besonders wichtig.3 Dadurch nämlich können wir von der hochkomplexen, politischen und soziokulturellen Diskursebene absehen, die durch die Banalität von Twitter-Grabenkämpfen mehr Zwietracht als Aufklärung säht, und uns dem realen Horror gesonderter Individuen öffnen, welcher uns trotz dessen Unbegreiflichkeit auf persönlicher Ebene zugänglicher erscheint:
Hannah Arendt schreibt über die Flucht, sie sei der „Zusammenbruch unserer privaten Welt“ (Arendt 2016, zit. nach Schreiber 2017, S. 34). Neben dem Materiellen, dem äußerlichen Örtlichen und neben dem Gesellschaftlichen – der sozialen Klasse, den kulturellen Kreisen –, sogar neben dem Familiären verlassen Menschen bei einer Flucht in den meisten Fällen auch einen Sprachraum, dem viele der genannten Punkte untergeordnet werden können. Nach Jacques Lacan bildet die Sprache unseren Zugang, die Vermittlung, zur Welt, zur Wirklichkeit. Somit enthält oder eröffnet eine Sprache auch jeweils einen Weltzugang – eine Weltanschauung, sodass Worte und Aussagen weitaus mehr Inhalte vermitteln als in einem einfachen Abbildverhältnis. Zusammen mit sprachlichen Nuancen und mimischen Gesten verlassen Fliehende also einen Raum, in dem sie nicht nur deskriptiv kommunizieren, sondern sich selbst ausdrücken können, verstehen und verstanden werden (Meyer 2015). Umso aussagekräftiger ist es, dass es im Ukrainischen kein Wort für die Idee von Heimat gibt und das für ‚Zuhause‘ (‚dim‘) mit dem Wort für ‚Haus‘ zusammenfällt, worin ich die Relevanz einer örtlichen Bindung – mit allen inhaltlichen Konsequenzen – sehen möchte.
Darum kommt mir bei dem Gedanken an Simone Weils Einsicht, die „Verwurzelung“ sei für den Menschen das wichtigste der „Bedürfnisse der Seele“ (Weil 2011), ein so harmloses und zugleich schmerzvolles Bild in den Kopf: Pflanzen, die plötzlich und gewaltsam samt ihren Wurzeln aus der Muttererde herausgerissen, anstatt auf natürliche Weise bestäubt oder als Samen fortgetragen zu werden und sich an einem anderen Stück Erde einzupflanzen, dort Wurzeln zu schlagen. Von so einer brutalen Entwurzelung, von der traumatischen Verlusterfahrung (Kirschenbaum 2022)4 geprägte Exilant:innen wandten sich von dem Verwurzelungsgedanken und lehnten den Zuhause-, geschweige denn den Heimatbegriff ab. Nach Theodor W. Adorno sollte die als dogmatisch verpönte Verortung des Zuhauses zu Gunsten der Freiheit überwunden werden – das Zuhause also territorial ungebunden, atopisch, und bei dem Individuum selbst (Adorno 1997).5
Doch auch diejenigen, die „bei sich selber zu hause“ (Adorno 1997, S. 43) sind, durchleben durch einen freiwilligen oder erzwungenen Ortswechsel eine extreme Veränderung. Auch die Errichtung eines neuen Zuhauses relativiert das Trauma des Verlustes, der Entwurzelung und Umsiedlung nicht. Dieses ist nämlich ein Kontinuitätsbruch – es ist der Bruch einer Kontinuität von bedeutungsvollen Lebensereignissen – wie Bildungsabschlüsse, private Bündnisse, Umzüge –, deren Aneinanderreihung in unserer subjektiven Auffassung den roten Faden unseres eigenen Lebens spinnt. Die Kontinuität der Lebensereignisse stiftet eine mentale Stabilität, die der Soziologie Anthony Giddens als „ontologische Sicherheit“ bezeichnet (Schreiber 2017, S. 96). Während wir einen Umzug, zumeist zumindest durch äußere Umstände, begründen oder sogar als Wunscherfüllung deuten – dem Ereignis also eine Bedeutung in unserem Leben geben und diese in die bisherige Kontinuität einordnen können, entzieht sich ein etwa durch einen Krieg verursachter Wohnortwechsel, dem eine Flucht vorausgeht, jeglicher (Be)Deutung – das Ereignis ergibt hinsichtlich der Lebensplanung, der Erwartungen und Ziele schlichtweg keinen Sinn.
Und wie ist es, wenn ein weit entfernt gelegenes Zuhause verschwindet; wenn die ferne Nähe eines Zuhauses, das 1759 Kilometer von der Tür zu einem Elf-Quadratmeter-Zimmer in einem Berliner Hinterhaus entfernt ist, verschwindet – wenn sie entfernt wird; wenn es mir nahegeht, dass die Nähe entfernt wird, und sie mir näher denn je erscheint – in einem Augenblick beängstigend nah und in dem nächsten Augenblick erscheint mir die Ferne ferner denn je – unerreichbar, nie wieder erreichbar?
Die Entfernung zwischen einem Ort und einer Person kann sicherlich ebenso wie zwischen zwei Personen durch eine langsame, womöglich sogar kaum merkliche, Entfremdung erfolgen. Denn so, wie Menschen sich verändern und auseinanderleben, können sich auch Orte neuorientieren und im Charakter wandeln. In der Regel passiert das schrittweise und ein Änderungswunsch schleicht sich von allein ein, sodass die Stadt und ich getrennt unsere Wege gehen können – meiner führt mich in dem Fall vermutlich in eine andere Stadt. Ich hatte Kharkiv jedoch nicht aus einer eigenständigen Entscheidung heraus verlassen und ich wäre auch noch zu jung gewesen, um mich oder die Stadt kennen und unsere Kompatibilität einschätzen zu können. Kharkiv ist kein Zuhause, das ich ausgesucht hatte und vielleicht gemeinsam mit meinen liebsten Menschen gestaltet hätte – es war nicht meine Wahl, mich auf Kharkiv einzulassen. Kharkiv ist mein erstes Zuhause, dort ist ein soziokultureller Kreis, in den ich hineingeboren wurde, und konkrete Orte, an denen ich zwangsläufig viele meiner ersten Welterfahrungen machte. Gaston Bachelard weist darauf hin, dass unsere ersten Erinnerungen räumlicher Art sind – es sind Erinnerungen an Räume (Bachelard 2001). Für mich wird eine große Kreuzung mit monumentalen sandsteinfarbenen Bauten darum immer nach Kharkiv aussehen und ein Blumenkiosk in einer U-Bahn-Unterführung wird mich immer an Kharkiv erinnern, aber es wird für mich auch immer ein Sommergewitter, das den Großstadtstaub zu Boden sinken lässt, nach Kharkiv riechen und überall wird mir eine Birke auffallen. Diese Momente – das Hineingeworfen-Werden gegenüber dem Auswählen beziehungsweise dem begründbaren Wechsel und die fundamentalen, topographisch gebundenen, Ersterfahrungen – machen den mehr kategorischen als graduellen Unterschied zwischen den zwei Erfahrungen von Zuhause aus: der ersten und den folgenden.
Was ist also, wenn dieses erste Zuhause – nie wirklich kennengelernt, längst verlassen, mit Gräsern anderer Orte überwachsen und doch im Kern des Inneren fest verankert – verschwindet: plötzlich und gewaltsam?
Ich persönlich kann es nicht (be)greifen, es entzieht sich meinen Eingliederungsversuchen, denn es ist gerade zu real – für andere mehr als für mich. Sei es auch eine Projektionsfläche meiner Sehnsüchte – nach dem Verstanden-Werden, nach dem Dazugehören –, meiner Wünscherfüllungs-Phantasien – etwa des beruflichen ‚was wäre, wenn‘ – oder sei es eine Idealisierung – der soziokulturellen Kreise, der nie erhaltenen Chancen, der Bilderbuch-Jahreszeiten vor dem Fenster an Omas Balkon – ein persönlicher Bezugsort ist zerstört und damit für mich auch eine Grundlage meiner ontologischen Sicherheit.
Im Zuhause sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint: Nach-Hause-Kommen meint meistens auch eine Art Rückkehr zu etwas Vertrautem, was uns gleichermaßen geborgen, sicher und in gewisser Hinsicht auch frei fühlen lässt. So kann mit der Zeit aber das Zuhause zum Kindheits-Zuhause werden, wenn wir da herauswachsen und nach einem Besuch in ein neues Zuhause zurückkehren, wo wir nun all das für uns finden. Wäh-renddessen bauen wir bereits Hoffnungen auf, die wir in die Vorstellung von unserem nächsten Zuhause hineinlegen.
Derzeit, seit Februar 2022, durch den News-Feed in den Sozialen Medien und anfangs auch durch besorgte persönliche Nachfragen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, dringt das äußere Geschehen in mein aktuelles, vermeintliches, Zuhause(-to-be) ein, sodass nach Hannah Ahrendt die Grenzen zwischen dem öffentlichem und meinem privaten Raum verschwimmen. Dadurch fühle ich mich – mehr als ohnehin als Ausländerin oder Migrant:innenkind, andauernd – durchgängig den Einwirkungen der Außenwelt ausgesetzt, wobei diese Aus(einander)setzung mein erstes Zuhause und mein Befinden in Bezug darauf thematisiert, während ich nicht dort, sondern hier bin. Dieses Aufeinanderprallen zweier Zuhause weist mich ständig darauf hin, dass ich gar kein Zuhause, beziehungsweise, dass ich es mir eingebildet hätte, und zwar beide: das eine ist nicht mehr und das andere, offenbar, noch nicht.
Schließlich übertragen sich Schock und Trauma des Verlustes meines als ehemalig zu bezeichnenden Zuhauses sowie, durch Stagnation bis hin zur Rückläufigkeit des inneren und äußeren Einrichtungsprozesses, die Auflösung meines gegenwärtigen Zuhauses auf meine, oberflächlichen genauso wie basalen, Hoffnungen hinsichtlich meiner Zukunft – Hoffnungen auf mein zukünftiges Zuhause. Infolgedessen wird die Projektion romantisierter Kindheitserinnerungen und einzelner Instagram-würdiger Momente auf ein mögliches Zuhause in der Zukunft ersetzt durch die Projektion von Furcht, Angst, Terror. Entgegen den bisher angeführten Definitionen eines aufbauenden Rückzugsortes, komme ich also momentan nur aus der Ohnmacht in ununterbrochener Ruhelosigkeit zu mir zurück und frage mich mit Bloch, ob es in unserer Gesellschaft überhaupt ein Zuhause in der Zukunft – vor allem in der Zukunft – geben kann (Bloch 2017).
Wenn Zuhause so stark von mir abhängt – meiner Selbstidentität, meinen Vorstellungen und Wünschen, kann ich es womöglich, unabhängig eines bestimmten Ortes an einem anderen, immer wieder finden. Diese Einsicht kommt mir aber erst jetzt, da ich zwischen Schuld- und Schamgefühlen, nicht genug oder nicht das Richtige zu tun, gefangen und zugleich frei dazu bin, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen, um mich verorten zu können – für den Fall, dass jemand danach fragt, wie meine Beziehung zur Ukraine und wo oder was mein Zuhause ist. Aus demselben Grund geht mit einem Ort vielleicht auch doch ein Teil unserer Selbst verloren.
Doch letztendlich werden alle Theorien nichtig, wenn Du Aufnahmen davon siehst, wie eine Rakete in Dein Zuhause einschlägt.
1 Die genannten Örtlichkeiten sind in den Monaten seit dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 Luftangriffen des Aggressors ausgesetzt und stark beschädigt oder zerstört worden.
2 Hervorhebung der Autorin.
3 Daniel Schreiber versteht den Heimatbegriff als ein Phänomen, das es aufgrund seiner historischen Prägung mit dieser Sinnhaftigkeit nur im Deutschen gebe. (Kirschenbaum 2022) Im Ukrainischen dagegen gebe es nicht einmal ein Wort dafür: Es kann von ‚Vaterland‘ gesprochen werden, aber das Wort (die Zeichen), mit dem im Russischen Heimat bezeichnet wird, bedeutet auf ukrainisch ‚Familie‘ – das bedarf an dieser Stelle wohl keiner weiteren Ausführung.
4 Die Erfahrung eines Verlustes bezieht sich hierbei auf den Verlust des Zuhauses durch die Flucht.
5 In dem gegebenen Rahmen halte ich es für sinnvoll, die Überlegungen Adornos, Flussers oder anderer nicht weiter auszuführen, da ich es mir nicht anmaßen könnte, sie in Bezug zu aktuellen politischen Ereignissen und den vielen verschiedenen Einzelschicksalen der – damals und heute – Betroffenen zu setzen. Fakt ist: Manche müssen für ihre Freiheit fliehen, andere müssen oder sie entscheiden sich dazu zu bleiben, um für die Freiheit zu kämpfen. Darüber darf nicht geurteilt werden. Letztendlich gilt vielleicht für alle Adornos berühmter Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ (Adorno 1997, S. 43).
Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W. (2016 [1951]): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. 10. Auflage. In: GW. Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Arendt, Hannah (2016 [1943]): Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer. Ditzingen: Reclam.
Bachelard, Gaston (2001 [1957]): Poetik des Raumes. Übers. v. Kurt Leonhard. 6. Auflage. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch.
Bloch, Ernst (2017 [1938-1947]): Das Prinzip Hoffnung. Berlin/Boston: De Gruyter.
Flusser, Vilém (1992): Bodenlos: eine philosophische Autobiographie. Köln: Bollmann Verlag.
Kirschenbaum, Olga (2022): „Krieg und Vertreibung. Wo und was ist ein Zuhause?“. In: Sein und Streit. Berlin: Deutschlandfunk Kultur. https://www.deutschlandfunkkultur.de/zuhause-heimat-flucht-exil-migration-100.html [29.06.2022].
Metz, Markus u. Georg, Seeßlen (2019): „Heimat als Utopie. Heimat – der offene Begriff“. In: Essay und Diskurs. Köln: Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/heimat-als-utopie-heimat-der-offene-begriff-100.html [29.06.2022].
Meyer, Thomas (2015): „Hannah Ahrendt über Flüchtlinge. ‚Es bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt‘“. In: Essay und Diskurs. Köln: Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/hannah-arendt-ueber-fluechtlinge-es-bedeutet-den-100.html [29.06.2022]
Schreiber, Daniel (2017): Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Traub, Rainer u. Wieser, Harald (Hg.) (1997): Gespräche mit Ernst Bloch. 2. Auflage. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Weil, Simone (2011): Die Verwurzelung. Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten dem Menschen gegenüber. Übers. v. Marianne Schneider. Zürich: diaphanes.
Autor:in: Olga Grytska, M.A., ist in der Ukraine geboren. In Deutschland absolvierte sie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel das Studium der Philosophie, Medien- und Musikwissenschaften. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Musikphilosophie, philosophische Ästhetik und Medienästhetik. Sie ist als Redaktionsmitarbeiterin und freie Journalistin (Olga Kirschenbaum) in Berlin tätig.